Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0611: Ketchup


Im Werbefernsehen sind die Kleinfamilien immer glücklich. Immer. Sogar beim Frühstück. Mama, Papa, Sohnemann und Tochterfrau – alle happy. Frei erfunden! Erlogen! Ein Märchen! Und das beweist das heutige Hörspiel! Billie hat die Nase voll von seinem Frühstück!

Download der Episode hier
Opener: „Breakfast Song“ von Kindernotes
Musik: „Dracula’s Daughter (2009)“ von The Art Punk Band / CC BY-NC-SA 3.0

Wir alle kennen ja diese kleinen amerikanischen Städte aus Film und Fernsehen. Die Küche, in der das heutige Familiendrama spielt, befindet sich in der allertypischsten alleramerikanischsten Kleinstadt. Kleines Haus, Kleinfamilie, Frühstückstisch.

MV: Heute wirst Du mit ihm reden, oder?
VV: Mit meinem Boss?
MV: (leicht genervt) Nein, natürlich nicht! Mit unserem Sohn!
VV: Mit Billie? Natürlich werde ich mit Billie reden! Warum auch nicht? Hat er ‘was ausgefressen?
MV: (genervter) Du weißt genau, was ich meine!
VV: Oh. Verstehe. Du meinst „Das Gespräch“…
MV: Ja, ich meine „Das Gespräch“.
VV: Aber er ist doch noch so klein!
MV: Nein, das ist er nicht. Und das weißt Du genau!
VV: Na gut, dann werde ich halt mit ihm reden!
MV: „Das Gespräch“?
VV: Ja, ja, ja. „DAS Gespräch…“

Billie: (begeistert) Morgen Mom, Morgen Dad! Wisst ihr, was heute nach passiert ist?
MV: Nein, Billie, was ist denn passiert?
Billie: Kuckt mal, was ich hier in den Händen halte!
VV: Ein Stück Kartoffel?
Billie: Nein! Ein Zahn! Der blöde Zahn ist endlich raus! Der wo gestern noch an einem Faden gehangen hat, aber nicht rausgegangen ist!
MV: Das ist ja… (leicht angeekelt) toll!
Billie: Ja, kuckt mal das Riesenloch an! Da pascht meine gandse Tschunge rein, Wahnsinn, gell!

MV: Dann musst Du den heute nacht unter’s Kopfkissen legen, und dann…
Billie: Ach, Mom! Können wir das nicht lassen und Du gibst mir einfach so einen Dollar?
MV: Du glaubst also nicht mehr an die Zahnfee?
Billie: Ich bin doch kein Kleinkind mehr!
VV: Gut. Ich bin auch kein Kleinkind mehr und mir bringt die Zahnfee auch nichts!
Billie: Du verlierst ja auch keine Milchzähne mehr!

MV: Was Dein Vater sagen will, ist Folgendes… (wird unterbrochen)
Billie: Ich brauche den Dollar! Alle meine Kumpels haben jetzt so coole kleine Taschenlampen. Und ich krieg’ keine! Immer haben alle anderen ‘was Cooles und ich nie…
VV: Das reicht, William! Du brauchst keine Taschenlampe!
Billie: Menno!
VV: Ende der Diskussion! Keine Zahnfee, also auch kein Dollar. Und keine Taschenlampe!

MV: (vermittelnd) Hast Du denn auch Deine Sonnencreme auch überall aufgetragen?
Billie: Ach, Mama! Natürlich. Wie jeden Tag!
MV: Auch Deinen Nacken!
Billie: Ja, auch meinen Nacken!

MV: Gut! Dann hier. Deine Schüssel! Iss’ Dein Frühstück!
Billie: Uach. Schon wieder Ketchup! Jeden Tag gibt’s Ketchup! Können wir nicht einmal etwas anderes frühstücken als immer nur das blöde Ketchup!
VV: William! Ketchup ist gut für Dich! Dein Körper braucht – gerade im Wachstum – die richtige Ernährung!
Billie: Die anderen Kinder essen Pancakes! Oder Corn Flakes! Oder Smacks!
MV: (versöhnlich) Aber, Billie, darüber haben wir doch schon oft geredet! Das sind nur Kohlenhydrate! Und Fett! Und Zucker! Das ist nicht gesund! Wer sich so ernährt, der wird dick und der wird fett. Und dessen Blut wird süß – Du weißt, was Zuckerkrankheit ist, oder? Da haben wir doch schon öfter davon geredet!
Billie: Dann von mir aus eben Gemüse!
VV: Aber Ketchup ist doch Gemüse, Billie!
Billie: Ich meine echtes Gemüse! Oder Obst! Meinetwegen Obst! Warum gibt es nicht einfach Obst zum Frühstück?
VV: Von mir aus! Du kannst Obst haben. Oder Gemüse. Aber nur, wenn Du das dann mit Ketchup isst!
Billie: Igitt! Das macht doch keiner! Das ist ja ekelhaft!
VV: Ketchup muss sein. Du kannst auch Corn Flakes haben, aber nur mit Ketchup!
Billie: Corn Flakes mit Ketchup! Das ist ja noch perverser!
VV: William! Dein Tonfall! Deine Eltern wissen ganz genau, was gut für Dich ist!
Billie: Menno!

MV: Jetzt streitet doch nicht dauernd! Vielleicht… Billie, Dein Vater wollte mit Dir über etwas sprechen…
VV: Was? Ich? Wollte ich das?
Billie: Gut, ess’ ich halt das blöde Ketchup. Warum eigentlich diese blöde Marke? Heinz B+?
MV: Ja, das wolltest Du. Du weißt schon, da haben wir doch gerade darüber gesprochen…
Billie: „Wie das Original, frei von Erregern“. Wer schreibt denn so ‘was auf sein Ketchup?
MV: Du weißt schon, „das Gespräch“…
VV: Ach so…
Billie: „Das Gespräch?“ Nein, das nicht auch noch! Bitte nicht! Reicht das mit der Zahnfee und dem blöden Ketchup nicht für einen Morgen? Müssen wir jetzt auch noch über die Bienen und die Blumen sprechen?
MV: Billie, das ist nicht das, was Dein Vater Dir sagen will…
Billie: Ich weiß schon alles über Sex! Bitte nicht!
VV: William, es geht nicht um Sex!
Billie: Nicht um Sex?
VV: Nicht um Sex.
Billie: Sondern, worum geht es?

VV: Wegen dem Zahn noch einmal…
Billie: Aber das hatten wir doch schon. Dann behaltet halt euren blöden Dollar…
VV: (väterlich) Billie, hör’ mir erst einmal zu. Da, wo Dein Zahn war, da ist jetzt ein Loch, hast Du gesagt, stimmt’s?
Billie: Klar.
VV: Aber das bleibt nicht so, da kommen dann neue Zähne. Das weißt Du auch…
Billie: Ja. Klar.
VV: Aber das sind besondere Zähne.
Billie: Meine Zähne sind besonders? Warum?
VV: Weil Du etwas Besonderes bist.
Billie: Klar. Bin ich. Der Junge, der Ketchup frühstückt und keine Taschenlampe braucht.
VV: Das hat auch einen Grund, mein Sohn.

MV: Was Dein Vater zu sagen versucht, ist: Du bist nicht wie die anderen Kinder!
Billie: Warum denn nicht? Bloß weil ich ein bisschen blasser bin und angeblich komische Augen habe – danke, das hätte ich ja von selber nie gemerkt. Weißt Du, wie die mich in der Schule nennen: „Billie Pupillie!“
VV: Billie, Du bist aus anderem Grund besonders…
MV: Nun sag’ es ihm doch einfach!
VV: Mein Sohn, Du bist – wie Deine Eltern oder Deine drei größeren Geschwister – ein Vampir!
(Pause)
Billie: Was? Nein! Das kann nicht sein! Das ist völlig unmöglich! Vampire, das sind Märchenfiguren! Die gibt es gar nicht!
VV: Ganz ruhig, mein Sohn! Hast Du Dich – zu irgendeinem Zeitpunkt Deines Lebens – jemals in einem Spiegel gesehen?
Billie: Spiegel? Äh. Nein. Stimmt. Ist mir noch nie aufgefallen…
MV: (verzweifelt) Pffft… Typisch Mann!

Billie: Aber… das heißt… dann ist das gar kein Ketchup?
VV: Nein, das ist kein Ketchup…
Billie: Dann ist das… dann… Nein, das kann nicht sein… Das glaube ich nicht…
MV: Oh doch, Billie…
VV: Ich hoffe, Du verlangst nicht nach weiteren Beweisen, wie Dein Bruder…

Billie: Dann habt ihr mich ja die ganze Zeit angelogen! Nicht nur der Scheiß mit dem Weihnachtsmann und dem blöden Osterhasen! Oder mit der blöden Zahnfee! Zahnfee! Was sollte die auch mit all’ den Zähnen machen? Was ist das für eine furchtbare Fee!
MV: Billie, jetzt reg’ Dich nicht auf…
Billie: Aber passt ja zu uns! Eine Fee, die Kinderzähne sammelt! Weil ich ja anscheinden selber eine Figur aus einem Horrorfilm bin! Und das sagt ihr mir jetzt! Die ganze Zeit gelogen! Ihr seid die schlechtesten Eltern, die es gibt! Ich will nie wieder mit euch reden!

(Door slams)

VV: Na ja. Das lief ja viel besser als bei seinen Geschwistern.
MV: Ja, mit der Zeit kommt man in Übung.
VV: Gut, dass wir das auch hinter uns haben.
MV: Ich frage mich nur, was das ist, dass die alle den Geschmack von Blut nicht mögen…
VV: Ach, Du weißt ja! Die jungen Leute! Die wollen doch einfach nichts Gesundes und Normales! Taschenlampe, wenn ich das schon höre! Sieht der Junge im Dunkeln wie Menschen am Tag und will eine Taschenlampe. Zu unserer Zeit, da wäre nie ein Junge auf die Idee gekommen…
MV: Nein, ich glaube, das ist es nicht.
VV: Pf. Sondern? Was soll es sein?
MV: Ich glaube, Billie hat recht…
VV: Womit?
MV: Vielleicht 0 negativ…
VV: Was 0 negativ?
MV: Vielleicht sollten wir nach 150 Jahren wirklich langsam ‘mal die Marke wechseln.
VV: Was spricht gegen B+?
MV: „Wie das Original, frei von Erregern“. Das ist wirklich ein selten dämlicher Slogan, oder?


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 March 10, 2017  14m
 
 
curated by Eric in Podcasttagebuch 2017 | March 17, 2017