Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0648: Nackt


Kaum hatte der Mensch beschlossen, es jetzt einmal mit diesem Dings namens „Zivilisation“ zu versuchen, schon war die Kleidung erfunden. Aus war es mit der paradiesischen Nacktheit, erfunden war der Modedesigner. Warum das wohl so ist?

Download der Episode hier.
Opener: „Naked Attraction feiert TV-Premiere: Promis sind entsetzt!“ von Promiflash
Closer: „FAMILY GUY. Naked“ von Samantha
Musik: „Naked (2011)“ von FRESH BODY SHOP / CC BY-NC-SA 3.0

Vor etwa 170 000 Jahren begannen die Menschen Kleidung zu tragen. Bis dahin waren sie nackt. Dann brach wahrscheinlich eine sehr lange Kälteperiode herein und man begann sich gegen die äußeren Einflüsse zu schützen. Noch viel viel früher hatten wir alle noch ein Fell was uns schützte, bis wir vor etwa 800.000 Jahren das Feuer entdeckten, dann verlor sich das struppige aussehen eines Äffchens immer mehr, da wir es zum Wärmen ja auch nicht mehr brauchten.

Ich war ein Kind der siebziger. Meine Eltern gaben sich den Freizügigkeiten der damaligen Zeit hin, bewegten sich nicht nur vor uns Kindern frei und unbekleidet, ganz dem damaligen Mainstream entsprechend. Peace, love and Tenderness, wenigstens bei Äußerlichkeiten.

Wir Mädchen konnten noch mit 7 ohne Oberteil ins Schwimmbad gehen und nicht jeder Erwachsene Mann über 23 musste fürchten als Päderast zu gelten, wenn er einer von uns zulächelte. Genauso konnte es vorkommen, dass wir Abends ohne Unterhose unterm Kleid nach Hause kamen, da wir die irgendwie im Schwimmbad verloren hatten… auch nicht weiter schlimm.

Als ich dann später mein erstes eigenes Apartment, meine erste Studentenbude im dritten Stock eines großstädtischen Mietshauses bezog, änderte sich mein erlernter Umgang mit Nacktheit nur unwesentlich. So lief ich, in meinem neuen kleinen Zuhause, natürlich auch nackt herum. Völlig arglos, einfach weil ich mich dabei wohlfühlte… vielleicht sollte ich noch dazu sagen, dass die Wohnung ein Einzimmerapartment mit vollflächiger Glasscheibe und Balkon zur Straße hin war. Und mit Anfang 20 hatte ich nicht wirklich sehr viel Interesse an aufwendigen Gardinenarrangements.

Natürlich dauerte es nicht lange, als die Hausverwaltung an mich herantrat und mich bat, doch bitte zukünftig darauf zu verzichten nackt in meiner Wohnung herumzulaufen. Uups, dann waren wir plötzlich doch ganz rasant Ende der 80er angekommen und es hatte sich ausgeflowert!

Es hätte wahrscheinlich auch nix genutzt, wenn ich denen von den heroischen Kelten und Germanen erzählt hätte, die über tausende Jahre hinweg nackt in den Krieg zogen. Oder den Griechen die ausschließlich nackt ihre sportlichen Höchstleistungen im Gymnasion erreichten. Gymnos bedeutet übrigens einfach nackt. Die Athleten aus Sparta trieben als erste ihren Sport nackt und könnten ihren Brauch bei den Olympischen Spielen durchgesetzt haben. Als einzigem der griechischen Staaten, verübten dort auch die Mädchen Sport, zwar nicht zusammen mit den Männern, aber ebenfalls völlig nackt. Nicht umsonst wurde nackten Göttern gehuldigt.

Doch wahrscheinlich war es nicht meine heroische Nacktheit oder barbusige Göttlichkeit, welche hier meine Nachbarn erzürnte. Sondern wohl eher meine Blöße, meine Fleischlichkeit und damit verbundene Lasterhaftigkeit. Vielleicht auch nur weil sie fürchteten, diese bei ihnen selbst auszulösen…

Merkwürdig ich empfand mich in meiner Nacktheit als einfach, offen, natürlich und normal. Vor allem aber empfand ich mich als eines; als Mensch ohne Klamotten! Schließlich hatte ich in meiner simplen Nacktheit weder pornografische Posen noch laszive Blicke über die Balkonbrüstung geworfen.

Aber ich vergass in meiner freigeistlichen Naivität natürlich die Scham. Die UrScham, und vor allem die Genitalscham, die sich evolutionsbiologisch im Laufe der Menschwerdung vor Mio. Jahren entwickelt hat und das wohl allen anderen Lebewesen auf der Erde fehlt. Dazu braucht man nur im Zoo paarungsbereite Schimpansen zu beobachten… Betritt also die Nacktheit die Bühne, ist sie bei uns Menschen immer an die Scham gekoppelt. Und die schiebt sich in der Öffentlichkeit „normalerweise“ zwischen Geist und Körper. Is ja auch oke, ich würde auch nicht unbedingt nackt zum Bäcker gehen oder meine Hunde Gassi führen!

Und sich zu bedecken ist ja nicht nur sehr praktisch, sondern schützt einen ja auch vor ungewollten Blicken. Ja, und ich muss zugeben, dass auch ich unlängst in einer Situation war, in der ich mir ein oder zwei Kleidungsstücke mehr bei meinem Gegenüber sehr gewünscht hätte.

August 2015 war sehr heiß in München. Ich saß im Englischen Garten an der Isar auf Ollis gewebter Hippidecke, mit den Füßen im eisigen Bach. So war das einigermaßen erträglich. Da hörte ich hinter mir eine Stimme: „Tschuldiguung…“ Der meinte wohl mich, also drehte ich mich um. Doch statt in ein freundliches Gesicht zu blicken, befand sich mein Kopf plötzlich 10 Zentimeter von einem dunkelbraun gebrannten, nicht mehr ganz taufrischen männlichen Körper entfernt. Und… da der Körper stand und ich saß, trennten nur 10 cm bayowarische Sommerluft meinen Kopf von den nicht mehr ganz taufrischen, dunkelbraun gebrannten Fortpflanzungsorganen eines Nudisten. „Oahh, das is ja ne tolle Batik, is die aus Mexiko?“ fragte der Penis. „Keine Ahnung, die gehört meinem Freund“ sagte ich freundlich und drehte mich schnell wieder um. „Aber eine Batik ist das ganz sicher nicht, Du Depp!“ dachte ich mir dabei. Nix mehr mit heroischer Nacktheit. Das lässt uns mit 70 scheinbar ganz schön im Stich, das Heroische…

Seit der griechischen Antike jedenfalls hatte die Nacktheit in der Kunst, einen vollkommen anderen Stellenwert. Hier stand und steht sie für Jugendliche Schönheit, Kraft und einzigartige Reinheit. Auch Allegorien wie die Unberührtheit, der Wahrheit und der Nächstenliebe, wurden ebenfalls häufig als Akt dargestellt.

Nacktheit hat neben der nicht vorhandenen Bekleidung auch symbolische und psychologische Dimensionen. Psychologisch kann Nacktheit zum Beispiel das Fehlen einer Waffe, einer Kette, eines Hutes, oder eines kulturell vorgeprägten Statussymbols bedeuten. Diese können das Gefühl eines fehlenden Schutzes auslösen. Symbolisch (oder schlau daher geredet semiologisch) kann Kleidung, kulturelle, historische, funktionale oder die gesellschaftliche Werte kommunizieren. Der Verzicht auf ein Kopftuch oder verhüllte Körperteile die üblicherweise sichtbar sind funktionieren innerhalb einer soziokulturellen Bedeutung, wie ein sprachliches Zeichen. Die Burka oder der bewußte Verzicht darauf, z.B. als politisches Statement.

So würde dementsprechend auch ein Akt unserer Bundeskanzlerin anders gedeutet werden müssen, als das nackte Porträt einer antiken Aphrodite.

Seit nun mindestens 100 000 Jahren bedecken wir unsere Genitalien. Die Kleidung gibt den Menschen auch die Möglichkeit, ihre Ausstrahlung und Identität zu beeinflussen. Überhaupt sie deutlich zu formulieren oder nonverbal diese zu kommunizieren. Die langen weiten Kutten mittelalterlicher Nonnen und Mönche etwa machten den Menschen stereotyp und geschlechtslos. Ganz anders ab dem 15. Jahrhundert. Modebewusste europäische Männer trugen riesige Schamkapseln, die ihren Penis hervorhoben und den Eindruck einer ständigen Erektion erwecken sollten.

Seit etwa den 1970er Jahren zelebrieren die gemeinen Massen-Medien, die Show mit der Blöße. Nacktheit wird sexualisiert weil hier der Rubel rollt. Heute nennen wir das social media.
Für alle steht dabei im Vordergrund stereotype Schönheitsideale darzustellen. Eine unterbelichtete Blondierte erklärt uns, (uns dem Volk der Dichter und Denker!), die Wahrheit über schön und hässlich und verdient sich damit soviel wie sie nie wieder in einem Leben ausgeben kann.

Durch die völlig subjektive Bewertung des eigenen Körpers durch andere, entsteht ein unerbittlicher Druck. Viele definieren sich – und andere Menschen – nur noch darüber, wie sie sich darstellen – online, offline völlig egal. Fast immer sind diese Bilder sexualisiert wenn sie sich nackt zeigen. Weil nackt sein eben nicht „normal“ ist. Viele jungen Menschen z.B. kennen Nacktheit nur aus dem Smartphone, weder ihre Eltern noch ihre Geschwister haben sie je nackt gesehen.

Das bedeutet nicht, das wir in einer schambefreiten, oder schamlosen Gesellschaft leben. Im Gegenteil, das große Geschäft mit der Sexualität, funktioniert nur durch die Scham selbst.
Und nur weil wir uns nach mehreren 100.000 Jahren aus Scham der rein animalischen Genitalschau abgewendet haben, können wir auch eine nackte Schulter oder auch eine unbedeckte Kniebeuge oder bloß einen Fußknöchel (im Gegensatz zu den Schimpansen) als erotisch empfinden.

Der Göttin sei Dank!


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 May 16, 2017  14m
 
 
"Grieschich gri griechich - ich kann das Wort nicht aussprechen." Herrlich!
curated by Schaarsen in Jörn Schaars feine Hörempfehlungen | May 27, 2017