Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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„Diese“ Art von Pudel


Vorurteile haben einen schlechten Ruf, aber in Wirklichkeit navigieren wir mit ihnen durch eine hochkomplexe Welt. Die Frage ist nur, welche Vorurteile man annimmt und aus welcher Motivation heraus.

Da gilt nicht nur für Vorurteile, die wir anderen gegenüber haben, sondern auch für diejenigen, die wir von uns selber haben.

Aber manchmal braucht es einen einäugigen Pudel, damit man zum Beispiel lernt, dass es „diese Art“ von schwul nicht gibt.

Download der Sendung hier.
Musiktitel: „The Poodle Love Song“ von Jessica Frech

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Die Geschichte zum Lesen

Wenn ich früher jemandem erzählte, dass ich schwul bin, sagte ich gleich dazu: „Aber nicht „diese“ Art von schwul!“ Passiert mir immer noch manchmal.

Ich komme aus einer Familie, die sehr hetero ist. Mein Vater war Polizist. Sehr hetero. Also gab es bei uns viele Fernsehserien mit Polizisten zu Hause. Hätte mich bei der Einschulung jemand gefragt, was Fernsehen ist, hätte ich wahrscheinlich gesagt: „Die Kiste, in der Verbrechen aufgeklärt werden.“

In den Fernsehserien gab es damals schon ab und zu schwule Rollen, immerhin. Das waren dann aber meistens stark überzeichnete Schwule, die Friseure oder Barkeeper oder Krankenpfleger waren. Im besten Fall halbkriminelle Informanten. Und jedes Mal, wenn so eine Figur auftauchte, meinte mein Vater: Kuck, der ist wie Du!

Ich erinnere mich besonders an eine Folge, da trinken drei taffe Polizisten zu viel und schließen eine Wette ab. Der Verlierer wird dann im Park mit Handschellen an einen Baum gefesselt und sie ziehen ihm die Hosen runter und lassen ihn stehen.

Auftritt des Mannes mit den schwingenden Hüften, in rosafarbenen Hosen, der mit seinem Zwergpudel Gassi geht. Der dann den Polizistenhintern entdeckt. Und zu seinem Pudel sagt: „Ich glaube, heute ist unser Glückstag, Cherie!“ Meint mein Vater: Kuck, der ist wie Du!

Natürlich habe ich die sexuelle Anspielung als Kind noch nicht verstanden. Und irgendwie hatte er das ja richtig geahnt, denn tatsächlich war ich schwul. Aber eben nicht diese Art von schwul. Nicht diese eine und ausschließliche Art von schwul, über die Heteros Witze machen!

Na gut. Schnell vorgespult. Ich bin nicht mehr Kind und kucke Cop-Serien, sondern ich bin 35 Jahre alt und lebe seit drei Jahren mit meinem Freund zusammen und immer noch versuche ich nicht diese Art von schwul zu sein.

Ich will einfach nicht die blöden Projektionen und Erwartungen der Heteros bestätigen! Ich will einfach ganz normal sein und schwul. Ich kann schließlich nachts in einem beliebigen Kiosk in einer beliebigen Stadt ein Bier kaufen und wieder gehen, ohne als schwul erkannt zu werden. Also, wenn’s nicht gerade in Köln ist…

Auf jeden Fall stand für mich fest: „Diese Art“ schwul werde ich nie. Keine rosafarbene Hose für mich und ganz sicher niemals im Leben einen Pudel. Den schwulsten aller Hunde. Kein Pudel für mich.

O.k. Noch weiter vorgespult. Ich bin 39 Jahre alt, immer noch mit meinem Freund zusammen und wir haben ein Kind adoptiert und das ist schon vier Jahre alt. Dessen bester Freund, Niklas, wohnt vier Häuser weiter und hat ein tolles Geburtstagsgeschenk bekommen. Einen Hund. Aber natürlich nicht irgendeinen Hund, sondern einen Zwergpudel.

Also wünscht sich unser Sohn also auch einen Pudel. Und die gleiche Stimme in meinem Kopf, die immer sagt: „Nicht DIE Art von schwul“, die schreit hysterisch: Warum keinen Pitbull? Oder einen Dobermann? Warum einen Pudel?

Ich sehe vor meinem geistigen Auge schon, wie unser Sohn in der Schule damit zurechtkommen muss, dass seine Eltern zwei schwule Männer sind – da macht es ein Zwergpudel auch nicht gerade besser, oder?

Verzweifelt schaue ich meinen Freund an, aber der hat im Geist wahrscheinlich schon eine Hundeleine mit Strasssteinen geshoppt! Es steht also zwei zu eins. Das ich Asthma habe, ist auch kein Argument, denn es stellt sich heraus, dass die blöden Zwergpudel keine Haare verlieren.

Es kommt, wie es kommen muss: Unser Sohn hat Geburtstag und da ist eine große Kiste. Und in der Kiste ist ein Zwergpudel. In Weiß. Es hatte sich herausgestellt, dass Niklas Eltern Pudelzüchter sind. „Pudelzüchter“ – das klingt anrüchig, oder?

Weil wir vor kurzem den Film „Ratatouille“ gekuckt hatten, war auch schnell ein Name für das Tier gefunden: Rémy. Wie der Rattenheld im Film. Geht auch kaum schwuler, oder? Ich schlage „Brutus“ vor und „Stinker“, aber es steht schon wieder zwei zu eins.

Dann stelle ich schnell Regeln auf: Ich streichele Rémy nicht, ich lass mich nicht von ihm abschlecken, ich gehe nicht Gassi, ich füttere ihn nicht und habe auch sonst möglichst wenig mit ihm zu tun. Er kann in unsere Männer-WG, aber ich gründe nicht den Rémy-Fan-Club.

Natürlich kommt meine Abneigung gegen die kleine Lockenratte von den Alibi-Schwulen in den Cop-Serien meiner Kindheit. Ich würde nicht mit einem weißen Zwergpudel namens Rémy Gassi gehen! Ich bin nicht „diese Art“ von schwul!

Jetzt spulen wir wieder ein Stück vor, ich habe gerade eine wichtige Präsentation, als ich herausgerufen werde. Mein Freund ist am Telefon und er ist in Tränen aufgelöst. Er erzählt: „Wir sind mit dem Auto rausgefahren, weil wir am See spazieren wollten. Da hat er erst den Kopf aus dem Auto gestreckt und dann die Arme und dann ist er bei voller Fahrt aus dem Auto gefallen!“

Ich denke schon das Schlimmste: „Unser Sohn?“ – „Nein, Rémy!“ – „Ach so! Nur der Hund!“

Schon weint mein Freund noch mehr. Er fühlt sich schuldig. Der Hund war aus dem Auto gefallen und auf dem Kopf gelandet. Er blutet aus den Ohren und ein Auge war nicht mehr an seinem Platz, sondern baumelt am Sehnerv an seinem Kopf. Und die drei sitzen bei der Tierärztin.

Also: Den Notfall dramatisch in der Arbeit erklärt – ohne den Namen und die Rasse unseres Hundes zu erwähnen – rein in ein Taxi und zur Tierärztin. Die erklärt in knappen Worten, dass das ein komplizierter Eingriff wird und der kann nur in der Klinik gemacht werden.

Ich habe keinen Führerschein, also ist es meine Aufgabe, den Hund auf der Fahrt festzuhalten. Richtig festzuhalten, damit er sich nicht selber weiter verletzt. So sitze ich Hundehasser und halte den Pudel wie ein Baby. Er sabbert wie verrückt und blutet weiter aus den Ohren. Und er fixiert mich mit seinem einen Auge.

Das Auge sagt zu mir: „Rette mich! Egal, was es kostet!“ Und ich sage zu dem Auge: „1000 Euro! Maximal!“ Schließlich hatte Rémy ja nur 400 Euro gekostet.

Aber mein Freund hat seine Kreditkarte dabei und sein eigenes Geld, mein Gespräch mit dem Auge war umsonst.

4000 Euro später haben wir Rémy wieder. Mit nur einem Auge. Und taub. Wir haben jetzt also einen weißen Zwergpudel, der nichts hört und immer irgendwo reinläuft. Und auf irgendeine Art ist das sogar noch schwuler.

Aber dieses Erlebnis hat mich und den Hund zusammengeschweißt. Das war nicht freiwillig und es war sehr einseitig. Ich habe mich sehr gegen die Schweißnaht gewehrt, aber seit der OP liebt Rémy mich besonders. Und irgendwie sind meine Regeln alle gebrochen. Denn bald bin ich derjenige, der mit dem behinderten Tier Gassi geht.

Auch als wir die Familie meines Freunds in Istanbul besuchen. Zur Hochzeit seiner jüngsten Schwester. Und in der Türkei ist das mit dem Schwulsein noch einmal völlig anders. Im Gegensatz zu dem, was uns die Rechten hier glauben lassen, ist es seit 1852 hier kein Straftatbestand mehr, aber natürlich gibt es keine Antidiskriminierungs-Beauftragten.

Den Typen in der Fernsehserie meines Vaters mit den rosafarbenen Hosen, der den Polizisten im Park findet – den würden auch Türken sofort als Witzfigur erkennen. Das stimmt mit den türkischen Vorurteilen völlig überein. Und ein Satz wie: Aber nicht DIE Art von schwul – der ist in der Türkei völlig überflüssig.

Wir waren in Istanbul in einem Hotel untergebracht, denn zur Hochzeit ist zu Hause schon alles doppelt belegt. Und es ist sicher auch ganz praktisch, wenn die Schwulen mit dem Kind und dem komischen Hund nicht die ganze Verwandschaft vom Land durcheinanderbringen.

Mitten in der Nacht muss Rémy raus. Die lange Fahrt hat seine Verdauung durcheinandergebracht. Kann ich verstehen. Meine Verdauung ist auch durcheinander. Durch den langen Raki.

Also schlüpfe ich in meine Pantoffeln, nehme in an die Leine und geh‘ mit dem blöden Pudel Gassi. Er kann ja schlecht in den Gang kacken.

Und wie ich da so spaziere, da sehe ich, dass in dem Café gegenüber noch reger Betrieb ist. Alle vier kleinen Tischchen sind voll besetzt. Mindestens 20 Männer unterhalten sich da noch lebhaft.

Wie ich das sehe, versuche ich mich heimlich vorbei zu schleichen, aber einer macht eine Bemerkung und alle drehen sich zu mir um. 20 Männergesichter, alle voller Haare und mit mindestens einem Schnurrbart.

Glatt rasiert, so wie ich – das machen echte Männer in der Türkei anscheinend nicht. Wahrscheinlich ist das schon ein bisschen schwul. Und dann schauen alle auf Rémy, der vor lauter Aufregung gleich gegen eine Parkuhr läuft.

Und dann ist da noch mein Schlafanzug. Mein Freund meint ja, die Farbe steht mir. Und, nein, das wäre nicht Rosa. Das wäre Koralle.

In meinem Kopf denke ich mir schnell eine total heterosexuelle Geschichte aus. Das ist in Wirklichkeit der Schlafanzug meiner Freundin. Und natürlich der Hund meiner Freundin. Und ich mache das nur, um sie ins Bett zu kriegen. So eine Art von Geschichte.

Und genau diese Geschichte versuche ich dann mit meiner Mimik zu erzählen. Aber das ist auch falsch. Ich kucke in die ganzen haarigen Gesichter. Mir blickt 20 Mal Clint Eastwood entgegen. Lauter Männer, die wahrscheinlich nicht einmal wissen, dass sie überhaupt Gesichtsmuskeln haben.

Und ich wackele mit den Augenbrauen, verdrehe die Augen und lächele sehr unsicher und verkrampft. Mimik, das lerne ich hier gerade, ist auch DIESE Art von schwul.

Selbst wenn mir in diesem Moment die hübscheste Frau der Welt nackt einen Blowjob geben würde, hier mitten auf der Straße, selbst dann würden mir die 20 Schnurrbärte nicht abnehmen, dass ich hetero bin.

Also gehe ich schnell zurück ins Hotel. Auf dem Rückweg bin ich abgelenkt und schaue sicherheitshalber fünf Dutzend Mal zurück. Weswegen Rémy sich seinen Kopf an jeder Parkuhr im Viertel anhaut.

Ich verkrieche mich in mein Bett und gebe die Schuld an allem dem dummen Zwergpudel.

Es plagt mich immer noch. Mein Leben lang bin ich schwul und immer noch habe ich dieses blöde Gefühl: „Ja. Schwul schon. Aber nicht DIESE Art von schwul!“ Warum bloß nicht? Was wäre daran so schlimm? Was für ein Problem habe ich mit DIESER Art von schwul?

Gut. Ein letztes Mal vorgespult, denn Istanbul ist schon wieder zwei Jahre her. Mittlerweile sind wir umgezogen und leben tatsächlich in Köln. Fast im Bermudadreieck. Weil mein Freund einen Job beim Fernsehen hat und wir eine gute Schule für unseren Sohn gefunden haben.

Ich finde Köln jetzt als geborener Hamburger nicht so toll. Klar hat man’s als Schwuler hier leichter als in Istanbul, aber ich glaube nicht, dass die Kölner so besonders tolerant sind. Sie sind eher gleichgültig. Aber das reicht ja auch.

Neulich in der Nacht muss der blöde Zwergpudel wieder raus. Mitten in der Nacht. Weiß der Henker, warum. Wahrscheinlich hat er wieder Kuchen gekriegt und hat Durchfall.

Und dann bin ich mit ihm vor zum Hohenstaufenring gegangen, denn so viele gute Kackplätze gibt es in Köln auch nicht. Und wie wir da so laufen, ich wieder in dem Korallen-Schlafanzug, da fahren ein paar besoffene Jugendliche in ihrem Cabrio vorbei und rufen mir nach: „Na, Du schwule Sau!“ und ähnliches Zeug.

Und da platzt in mir der Knoten. Da verstehe ich erst. Aus lauter Angst davor, von anderen diskriminiert zu werden, habe ich mir etwas gebastelt, um das selber zu erledigen. Ich hatte das völlig internalisiert. Darum durfte ich nie „DIESE“ Art von schwul sein.

Das ist keine kleine Erkenntnis für mich. Sorry. Ich bin nicht der Schnellste.

Während die Knallköpfe um die Ecke biegen und Rémy sich den Kopf an einem Fahrrad anhaut, denkt es in mir: „Ja. Ich bin schwul. Ja, ich habe einen rosa Schlafanzug an. Ja, ich habe einen halbblinden, tauben, weißen Zwergpudel. Der auch noch Rémy heißt. Welche Art schwul ich bin, bestimmt das aber nicht. Sondern das bestimme ich.“

Aber, haltet euch fest, es wird noch viel schlimmer, Taschentücher bereithalten: „Ich liebe nicht nur meinen Freund und meinen Sohn, sondern auch Rémy, die behinderte Lockenratte!“

So. Wenn wir das jetzt erledigt haben, dann können mein Pudel und ich uns ja mal umschauen, ob nicht irgendwo jemand einen sexy Polizisten angekettet hat. Was meinst Du, mein süßer kleiner Rémy? Ach so, Du hörst ja nichts…


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 January 28, 2019  23m