Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Heulsusi ist weg


Im heutigen Hörspiel geht es um Emma. Wir sind bei ihr an einem ganz normalen Morgen. Sie wacht auf und möchte wirklich gerne noch weiterschlafen.

Doch auf sie warten bereits gute, alte Bekannte. Die würden es begrüßen, wenn dieser Morgen so wäre wie so viele davor. Doch heute ist ein besonderer Tag, auch wenn weder Emma noch ihre Bekannten das ahnen.

Download der Sendung hier.
Musiktitel: „Voices“ von DISEASES OF THE SOUTH / CC BY-SA 3.0

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Die Geschichte zum Lesen

„Wo ist sie hin?“

Es war immer die Kleine, die mich weckte. Heute wirkte ihre Kinderstimme bekümmert, nicht zuckersüß wie an jedem anderen Morgen. Ich schwieg. Wenn ich regungslos im Bett liegen bleiben würde, vielleicht verstummte sie dann. Vielleicht dachte sie dann, dass ich noch schlafe. Vielleicht geht sie dann und behelligt mich nie mehr?

„Was ist mit der Frau passiert, die immer weint?“

Das war eine berechtigte Frage, auf die ich keine Antwort hatte. Doch ich wollte auf keinen Fall mit der Kleinen darüber reden. Also zog ich die Bettdecke über den Kopf und drückte die Augen so fest zu, wie ich nur konnte. Doch das half nie.

„Hast Du zu der Heulsusi gesagt, dass Du sie nicht mehr lieb’ hast?“

Ich hielt die Luft an. Wenn ich so lange die Luft anhalten würde, bis mir schwindelig wurde, dann würde sie vielleicht wieder gehen. Vielleicht könnte ich dann wieder schlafen. Nur schlafen. Doch das half nie.

„Emmy, hast Du die Heulsusi vertrieben? Hast Du sie fortgeschickt?“

Ich konnte nicht anders, ich musste einatmen. Enttäuscht warf ich meine Bettdecke auf den Boden, setzte mich auf und massierte mir die Schläfen. Manchmal half das. Selten. Fast nie. Einmal.

Die Kleine wurde lauter: „Emmy! Sie ist weg! Die Frau, die immer weint, ist weg! Emmy!“

Ich flüsterte mir selber zu: „Ganz ruhig. Keine Angst. Ganz ruhig“. Ich wagte einen ersten Blick auf die Welt. Durch die Rollos fielen Lichtstrahlen und malten helle Striche ins Schlafzimmer. Es war sehr windig und die Äste der Eberesche klopften gegen das Fenster. Ein Tag wartete da draußen und ich durfe nicht schlafen.

„Ich will wissen, wo sie hin ist. Bitte, sag‘ mir, wo sie hin ist!“

Die Kleine erschien jeden Tag. Sie wollte Zuwendung. Das war alles. Wenn ich sie beruhigte, wenn ich verständnisvoll zu ihr sprach, dann war sie zufrieden. Dann wurde sie meistens wieder still. Aber seitdem ich nicht mehr mit ihr reden durfte, hatte sie sich verändert. Sie litt.

„Bitte, bitte, sag‘ mir, wo sie hin ist!“

Die Therapeutin hatte gesagt, ich soll mich nicht wehren gegen das kleine Mädchen mit den großen Augen, aber auch auf keinen Fall mit ihr reden. Ich konnte aber nicht mehr anders und sagte:

„Wen meinst Du denn, Kleines?“

„Ich meine die Frau, die immer weint. Sie ist weg. Ich kann sie nicht mehr sehen. Hast Du gemacht, dass sie weg ist?“

„Ich habe gar nichts gemacht.“

„Hast Du ihr vielleicht gesagt, dass Du sie nicht mehr lieb’ hast?“

Ich riss meine Augen auf, so weit ich konnte. In den Sonnenstrahlen konnte man den Staub in der Luft schweben sehen. Der Baum klopfte in einem fort an die Rollos. Die Luft im Schlafzimmer war verbraucht und schwer. Joachim, mein Mann war schon aufgestanden, ich war alleine.

Bald würde jemand anderes auftauchen. Ich fühlte seine Anwesenheit. Der wütende Mann war anwesend. Ich nannte ihn Bill. Wie Michael Douglas in „Falling Down“. Seine Stimme war gereizt, wie immer:

„Mein Gott, Du blöde Kuh! Was hast Du wieder angestellt?“

Der wütende Mann war nicht jeden Tag da. Er war niemals der Erste. Aber, sobald irgendetwas nicht in den gewohnten Bahnen verlief, tauchte er auf. Er wurde von Scheiße angezogen wie eine Schmeißfliege.

„Wo ist die blöde Heulsusi hin? Du Versagerin! Was hast Du schon wieder verbockt?“

„Ich habe überhaupt nichts gemacht!“

„Ich weiß genau, dass Du lügst! Du lügst immer! Den ganzen Tag nur eine Lüge nach der anderen. Darum konnte Dein Vater Dich nicht ertragen! Darum hat Deine Mutter Dich gehasst! Und Joachim riecht den Braten auch schon!“

Die Verachtung des wütenden Mannes verdickte die Luft zu einer Paste. Seine Abscheu verfärbte das Licht grün. Die Härchen an meinen Armen stellten sich auf. Es wurde unmöglich, zu atmen.

Die Kleine war fassungslos: „Hast Du … hast Du sie umgebracht?“

„Sag‘ doch so etwas nicht! Ich habe sie nicht umgebracht!“

Ich wollte nicht mit dem Mädchen reden. Ich wollte auch Bill nicht zuhören! Ich schaute konzentriert auf einen Punkt am Fensterrahmen. Auf den Griff in der Mitte. Nicht antworten, dann gehen die Stimmen fort.

Bill war das egal: „Du lügst! Ich weiß genau, dass Du lügst. Und die Kleine weiß es auch! Jeder weiß das! Darum hassen Dich auch alle! Ich habe genau gesehen, dass Du Heulsusi getötet hast! Du hast sie erwürgt! Heut Nacht hast Du sie erwürgt!“

Die Kleine weinte: „Stimmt das? Hast Du die Frau getötet, die immer weint?“

„Nein, Kleines! Ich habe gar nichts gemacht. Ich könnte niemals jemanden töten!“

Bill lachte nur hämisch. Ich stellte mir Michael Douglas mit Bürstenhaarschnitt vor. Weißes Hemd, Krawatte, Aktenkoffer und der Baseballschläger. Bei dem eine Sicherung durchgebrannt war:

„Ha! Das glaubst Du doch selber nicht! Du hast das Zeug, jemanden zu töten. Um zu vertuschen, dass Du eine Versagerin bist. Damit keiner merkt, dass Du eine Betrügerin bist! Gib es zu! Das ist genau, was Du bist! Du denkst, wenn Du Dich ganz unauffällig benimmst, dann wird schon keiner bemerken, dass Du eine Betrügerin bist! Dass Du das alles gar nicht kannst! Das ist der Grund, warum Deine Mutter Dich hasst! So ist das! Und warum Dein Vater für Dich keine Gefühle entwickelt hat.“

„Ich kenne Dich genau, Du kleine Schlampe! Du hast nicht das Zeug, erwachsen zu sein. Du bist weder eine liebende Ehefrau noch wirst Du jemals eine gute Mutter! Das Kind in Deinem Bauch macht Dir doch nur Angst, gib es doch endlich zu! Du spielst nur Theater, alles Theater! In Deinem Innersten willst Du doch nicht einmal lebendig sein. In Deinem Innersten bist Du doch eigentlich tot. Und jetzt tötest Du uns! Weil wir Dir die Wahrheit ins Gesicht sagen. Das kannst Du nicht ertragen! Weil wir lebendig sind. Weil wir das Lebendigste an Dir sind!“

Bills Stimme wurde immer leiser. Als ob ein Schiff ihn fortfahren würde. Mit Aktenkoffer und Baseballschläger.

„Ich werde mich nicht von Dir töten lassen! Eher töte ich Dich! Ich werde Dich töten!“

Und damit war er weg. Seine Stimme war weg. Bill war weg!

Das Licht war nicht mehr grün, die Luft war wieder atembar, die Spannung entwichen.

Doch da war noch ein leises Wimmern – die Kleine. Die Kleine war noch da und sie klang so zerbrechlich, so verletzt. Ich konnte ihre großen Augen beinahe vor mir sehen, ihr Kleinkindgesicht tränenüberströmt.

„Ist der wütende Mann fort?“

„Bill ist weg, glaube ich.“

„Ist er auch tot?“

„Ich weiß es nicht – ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht“

Die Äste schlugen immer noch gegen die Rollos, der Wind hatte an Kraft zugenommen. Ich drückte die Handballen so fest gegen meine Schläfen, wie ich nur konnte:

„Ich weiß es nicht. Ich weiß es wirklich nicht!“

Die Kleine wimmerte: „Muss. Ich. Auch sterben?“

„Ich weiß es nicht, Kleine.“

„War ich kein braves Mädchen? War ich nicht gut? Habe ich etwas gemacht, um Dich zu verärgern? Bist Du böse auf mich, Emma?“

„Nein, Kleines. Du bist nicht böse. Du warst auch niemals böse!“

„Es tut mir leid, Emma! Es tut mir so leid! Ich wollte Dich niemals ärgern! Ich wollte nicht böse sein! Wirklich! Ich liebe Dich doch, Emma! Ich will nicht gehen! Bitte, Emma! Bitte!“

Ich drückte meinen Kopf fest in das Kopfkissen und schrie. Wenn ich nur laut genug schreien würde, dann könnte ich das kleine Mädchen nicht mehr hören! Dann könnte ich sie nicht mehr hören, wie sie um ihr Leben winselte! Ihre Stimme gelang nur gedämpft an mein Ohr.

„Aber ich liebe Dich, Emma! Bitte, ich werde alles tun, was Du willst! Lass‘ mich nicht gehen, Mama!“

Und dann, nach dem letzten Aufbäumen war sie verschwunden. Die Stimme des kleinen Mädchens mit den großen Augen war weg. Einfach nicht mehr da. Genau wie bei Heulsusi oder Bill. Ich konnte ich sie alle, alle nicht mehr fühlen.

Ich war ich. Monate, vielleicht sind es schon Jahre geworden, hatte ich damit gelebt, dass sie ein Teil von mir waren. Jeden Morgen weckte mich das kleine Mädchen, bei jedem Ärger erschien Bill und in jedem Moment, in dem ich mich schwach fühlte, war da die Frau, die nicht redete, sondern immer nur weinte. Sie weinte wegen mir. Ich war schuld.

Als es an der Tür klopfte, war es wie ein elektrischer Schlag, so erschrocken war ich. Es war Joachim, der ins Schlafzimmer kam.

„Ich habe Dich gehört. Ist alles in Ordnung?“

Er stellte eine Tasse Kaffee auf mein Nachtkästchen und betrachtete besorgt mein Gesicht.

„Geht’s Dir gut? Hast Du geschrien?“

Ich konnte ihn nur stumm anstarren. Er stand wieder auf, zog die Rollos hoch und Tageslicht flutete den Raum. Er öffnete ein Fenster und ich sah, dass es nicht stürmisch war. Und die Äste der Eberesche sich nicht bewegten.

Ich atmete die frische Luft ein und sagte:

„Es ist still. Es ist so still.“

Es war tatsächlich völlig still in meinem Kopf.

Es war gut. Alles gut.


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 March 14, 2019  26m