Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Stephen Hawkings Stimme


Stephen Hawking dürfte der bekannteste Astrophysiker seiner Generation gewesen sein und jedermann bekannt sein.

Heute berichtet der Interface-Designer der Software, die ihn reden und schreiben ließ, von der gemeinsamen Arbeit.

Und von dem speziellen Verhältnis des Forschers zu genau der Stimme, die wir von ihm kennen.

Download der Sendung hier.

Musiktitel: Stephen Hawking Sings Monty Pythons „Galaxy Song“

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Die Geschichte zum Lesen

Keine Ahnung, mit was man das vergleichen kann. Heute hat man ja nicht mehr so persönliche Helden wie früher. Wahrscheinlich aus Angst, dass früher oder später was Schlimmes über die rauskommt und man dann enttäuscht ist.

Aber als ich in das Team gekommen bin, dass das Interface für Stephen Hawkings Kommunikation entwerfen sollte, kam ich mir vor, als hätte Batman persönlich um Hilfe gebeten. Denn Hawking war mein persönlicher Held.

Das hat ganz konkrete Gründe. Wenn ihr mich sehen könntet und nicht nur hören, dann würdet ihr sofort verstehen, warum der Chief Technical Officer von Intel mich für das Projekt ausgesucht hat. Natürlich wusste er, dass Stephen Hawking mein Held war, das war vielleicht auch wichtig, aber vor allem bin ich auch Rollstuhlfahrer.

Ich war 20 Jahre alt, als ich einen schweren Verkehrsunfall hatte und mir das Genick brach. Seitdem bin ich querschnittsgelähmt. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich einen Arm wieder normal und den anderen eingeschränkt wieder benutzen konnte.

Und der Weg dahin war lange und nicht leicht. Kurz nach dem Unfall sah die Diagnose auch noch viel düsterer aus und ich war mehr als nur ein bisschen traurig, ich war depressiv.

Meine Mutter gab mir ein Buch zum Lesen, das mir neuen Mut machen sollte. Es hieß „Eine kurze Geschichte der Zeit“ und war von Stephen Hawking. Meine Mutter hatte die Idee, dass es mir Mut machen könnte, zu sehen, dass der wichtigste Astrophysiker unserer Zeit auch ein Rollstuhlfahrer war.

Ganz schön naiv, mag man denken, aber wisst ihr was? Sie hatte recht! Ihre Strategie ging auf! Ich machte mir Stephen Hawking wirklich zum Vorbild und wusste bald alles über ihn, seine Forschung und sein Leben.

Intel, die Firma, für die ich User-Interfaces entwickele, versorgte Stephen und seine Fakultät schon lange mit PCs und Notebooks, alleine wegen des Werbe-Effekts. Als Gordon Moore, einer unserer Oberbosse, Stephen 1997 auf einer Konferenz kennenlernte, da bemerkte er, dass der Sprachsynthesizer mit AMD-Prozessoren ausgestattet war. Und da sagte er: Willst Du nicht einmal einen echten Computer verwenden?

Zum Glück war ich da nicht dabei, das wäre mir so peinlich gewesen!

Man kennt ja die Stimme von Stephen, die kommt ja in vielen Fernsehserien vor. Sie hatte Gastauftritte bei den Simpsons oder in „Big Bang Theory“. Es ist die Stimme „Perfect Paul“ des Synthesizers DECTalk. Klingt dann ungefähr so:

SFX: Stephen 01

Das war die Antwort von Stephen. Diese Worte zu schreiben hat ihn ungefähr sieben Minuten gekostet damals, 1997.

Verloren hat er seine Stimme 1985, also zwölf Jahre vorher. Da war er zu Besuch beim CERN in Genf und hat sich eine kleine Erkältung eingefangen. Bloß, dass es halt „klein“ nicht gibt, wenn man ALS hat.

ALS muss man nicht mehr erklären, oder? Nach der Ice-Bucket-Challenge weiß das heute jeder, oder? Nicht? Na gut: Die Abkürzung steht für „Amyotrophe Lateralsklerose“. Kann man sich nicht merken, bedeutet aber, ganz schlicht ausgedrückt: Die Nerven im Körper sterben so langsam ab. Stephen hatte die Diagnose schon in frühen Jahren und es war ein kleines Wunder, dass er 1985 überhaupt noch am Leben war.

Auf jeden Fall wurde aus der kleinen Erkältung schnell eine richtige Lungenentzündung und schon bald musste er künstlich beatmet werden. Die Ärzte in Genf erkundigten sich bei Jane, seiner Frau, am Telefon, ob sie nicht die Geräte besser abschalten sollen.

Die fiel aus allen Wolken und ließ Stephen nach Cambridge ins Addenbrooke Hospital bringen, wo er weiter versorgt werden konnte. Allerdings mussten die Ärzte dort bei einer Notoperation einen Kehlkopfschnitt machen und dabei wurden die Stimmbänder unwiderbringlich beschädigt.

Das war ein harter Schlag für Stephen, hat er erzählt. Damals war er wirklich so weit, dass er aufgeben wollte. Er hat versucht, sich umzubringen, indem er die Luft anhält. Aber das geht nicht, das habe ich durchaus selber auch schon versucht.

Es ist auch kein Wunder, dass der Verlust der Sprache für einen Professor, einen Lehrer, ein Problem ist. Am Anfang kommunizierte Stephen mit Hilfe eines Assistenten und einer Buchstabentafel.

Der Assistent fuhr mit dem Finger das Alphabet nach und wenn Stephen mit den Augenbrauen zuckte, dann war ein Buchstabe gefunden. Dann kam der zweite Buchstabe, der dritte und so weiter und so fort. Die Geschwindigkeit war bei einem Wort in der Minute. Vorträge auf diese Art zu schreiben war fast unmöglich.

In Cambridge gab es einen Physiker namens Martin King, der von einer Software namens „Words Plus“ gehört hatte. Das war im Prinzip ein Computerprogramm, dass den Assistenten ersetzte. Patienten konnten das mit einem Klickschalter bedienen.

Der Erfinder dieser Software hieß Walter Woltosz und hatte sie für seine Schwiegermutter entwickelt, die auch an ALS litt.

Sie lief auf einem Apple II-Rechner und Stephen erreichte eine Geschwindigkeit von 15 Wörtern in der Minute. Das macht ihn nicht zu einem Stephen King, aber er war schneller als Harper Lee war er doch.

Zufrieden mit seinem System war Stephen aber nicht. Denn er konnte sich ja nicht mehr unterhalten mit anderen Menschen. Er brauchte eine Stimme. Aber Computer konnten damals noch keine Stimme synthetisieren, es gab keine wirkliche Lösung auf dem Markt.

Sicher, es gab hochkomplexe Stimmenorgeln, die man mit einer eigenen Programmiersprache dazu bringen konnte, die menschliche Stimme zu simulieren, aber dafür musste man den Umgang erst einmal jahrelang üben.

Stephen erfuhr von einem Forscher am M.I.T. namens Dennis Klatt, der auf diesem Gebiet schon länger forschte und nahm mit Dennis Kontakt auf. Dessen System war zwar theoretisch schon sehr weit ausgereift, aber er hatte noch nie den Versuch gemacht, alles zu kompilieren.

Eigentlich dachte Dennis, er bräuchte noch Jahre, bis sein System einsatzbereit war. Aber er wusste ja, dass Stephen nicht ewig Zeit hatte, damals hätte ja keiner gedacht, dass er es mit seiner ALS so lange schafft.

Dann bekam Dennis auch noch selber eine Krebsdiagnose. Ein Krebs, der ihn selber, grausamerweise, auch die Stimme kostete. Er begann Tag und Nacht an seinem System zu arbeiten und konnte Stephen fünf Jahre vor der Marktreife ein DECTalk-System zur Verfügung stellen. Die Stimme, die man als Stimme von Stephen kennt, ist in Wirklichkeit aus der Stimme von Dennis synthetisiert.

Dafür war ihm Stephen ein Leben lang dankbar. Es hat ihn sehr betrübt, niemals den Mann kennengelernt zu haben, der ihm seine Stimme geliehen hat.

Eigentlich war also soweit alles in Ordnung und funktionierte gut, bis halt auch die Nerven in den Händen von Stephen soweit kaputt waren, dass er nicht mehr klicken konnte. 2008 war es wieder soweit, dass Stephen wieder völlig von der Hilfe seines Assistenten abhängig war. Bis der eine Idee hatte.

An der Brille von Stephen wurde ein Sensor installiert, der einen Muskel im Gesicht beobachtete, dessen Beweglichkeit noch gut erhalten war. Ein Muskel in der linken Backe, den wir zum Beispiel zum Zwinkern benutzen.

Mit diesem Zwinker-Klickern erreichte Stephen bald eine Zeitlang wieder die alte Geschwindigkeit. Doch auch dieser Muskel degenerierte mit der Zeit und im Jahre 2011 sandte er uns einen Hilferuf. Der klang ungefähr so:

SFX: stephen_02

Das war natürlich eine große Herausforderung. Und auch der Zeitpunkt, an dem ich ins Rennen kam. Wir waren einen Team von lauter Spezialisten und ihr könnt euch vorstellen, dass wir in unserem Wahn gleich Dutzenden von Verbesserungen vorschlugen. Jeder arbeitete mit Begeisterung an seiner Vision von Stephen Hawkings Stimme, Version 2.0

Was wir bei unseren Bemühungen übersahen, war, dass wir es zwar mit einem Genie im Bereich der Astrophysik zu tun hatten, aber trotzdem auch mit einem Siebzigjährigen. Keine unserer Lösungen überzeugte Stephen.

Ich machte einen neuen Vorschlag und filmte Stephens Gesicht über Tage und studierte diese Filme. Immer wieder schaute ich mir an, was er so machte mit den Muskeln, die er noch bewegen konnte.

Zum Beispiel bemerkte ich, dass er manchmal die Augen von links nach rechts bewegte. Daran grübelte ich lange, bis mir der Grund klar wurde: Jedes Mal war in solchen Momenten eine Stimme hinter ihm zu hören. Wir installierten deshalb einen Rückspiegel am Monitor seines Rollstuhls.

Das war ein Boost in Stephens Vertrauen darauf, dass ich doch noch eine Lösung entwickeln konnte, die ihm wieder schnelleres Tippen erlaubte.

Und eigentlich war die Lösung dann sogar sehr einfach. Im Prinzip war die Software so aufgebaut, dass der Cursor das Alphabet langlief. Wenn Stephen mit dem Gesichtsmuskel zuckte, war ein Buchstabe gewählt. Wenn er dann eine gewisse Zeit nicht zuckte, dann war es der richtige Buchstabe. Wenn er sofort wieder zuckte, dann hatte er sich sozusagen vertippt. Das kostete viel Zeit.

Um diese Zeit wieder reinzuholen, bauten wir ein Feature ein, dass heute jeder kennt, das aber 2009 noch relativ neu war. Die verhasste Auto-Korrektur. Jeder sagt, er hasst die dummen Vorschläge, die einem das Smartphone beim Tippen macht. Aber Menschen, die sich darauf einlassen, können damit unglaublich schnell tippen. Schneller als auf einer normalen Tastatur.

Nachdem jedes Wort, das Stephen seit 1986 formuliert hatte, ja elektronisch vorlag, konnten wir ganz leicht eine ganz spezielle Stephen-Hawking-Auto-Vervollständigungs-Software entwickeln.

Im Prinzip konnte also Stephen das altgewohnte Interface behalten, aber durch die Vorschläge des Computers seine Wortzahl wieder auf über zwanzig Worte in der Minute steigern. Ich konnte also meinem persönlichen Helden einen Gefallen tun.

Als wir bei der Gelegenheit also die ganze Hard- und Software in seinem Büro und seinem Rollstuhl austauschten, wollten wir ihm auch eine natürlichere Stimme geben. Denn diese Technologie hatte sich in zwanzig Jahren natürlich auch deutlich verbessert.

Als Stephen 2014 die Queen besuchte, machte diese die flapsige Bemerkung: „Sie haben ja immer noch diesen seltsamen amerikanischen Akzent.“, worauf Stephen antwortete: „Ja, da gibt es sogar ein Copyright dafür!“

Es wäre uns ein leichtes gewesen, ihm bei diesem letzten großen Update einen sehr poschen Londoner Akzent zu geben. Oder ihn wie die Queen selber klingen zu lassen, wenn es denn sein sollte.

Stephen bestand darauf, die alte Blechstimme seines DECTalks zu behalten. Er sagte wörtlich:

SFX: stephen_03

„Vielen Dank, aber Nein. Die Stimme meines Freunds Dennis, der so viel getan hat, um sie mir zu geben, ist genau meine Stimme.“


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 March 31, 2019  23m