Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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So gut ist Alex!


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Es ist wahrscheinlich nicht völlig unangemessen, davon auszugehen, dass Großraumbüros schon im Alten Rom so funktioniert haben wie bei uns: Nämlich genau wie Kindergärten.
Die Neue auf Arbeit hat zwar lange durchgehalten, nun aber gibt sie klein bei und muss unbedingt wissen: Warum, bitteschön, hassen alle Alex?

Download der Sendung hier.
Musiktitel: „ Did I leave the cubicle (or did the cubicle leave me)?“ Von John Munelly

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(Nur für Unterstützer)

Die Geschichte zum Lesen

Man konnte es seit Tagen ahnen. Ich hatte auf Donnerstag gesetzt, die meisten anderen im Büro auf Montag. Irgendwie hatte ich im Urin, dass der Neue ein harter Hund war. Doch irgendwann ist jeder weichgekocht, irgendwann geben alle klein bei.

Ich bin wirklich schon lange in diesem Laden und bis jetzt ist jeder an Alex gescheitert. Alex ist einfach zu viel, Alex ist größer als das Leben. Das musste der Neue auch früher oder später anerkennen. Das gehörte dazu, wenn man in diesem Laden arbeitete. Erst nach Alex fängt der eigentliche Spaß an.

Es war Donnerstag nachmittags, als ich durch meine Glasscheibe beobachten konnte, wie sich der Neue von seinem Arbeitsplatz erhob. Langsam, zögerlich. Er blickte sich in alle Richtungen um, trank noch einen tiefen Schluck aus seiner Kaffeetasse und versuchte den Eindruck von Entschlossenheit zu vermitteln, als er sich von seinem Arbeitsplatz an den Kollegen vorbei auf den Gang durchkämpfte. Ein Harter, wie gesagt.

Zielstrebig ging er auf die Tür von meinem Büro zu, das hatte er sich schon gut irgendwo abgekuckt. Aber er war noch zu jung, um zu bemerken, dass er dabei nicht aufrecht ging. Seine Schultern signalisierten jedem, dass er innerlich schon aufgegeben hatte.

Er lächelte nervös, öffnete die Tür und meinte: „Hi, Sven! Sag mal, hast Du zufällig eine Minute Zeit für mich?“

„Eine Minute? Klar. Für Dich schon. Aber die Zeit läuft. 59, 58, 57 …“

„Sehr witzig. Aber im Ernst: Geht’s gerade?“

„Klar, nimm Platz, Kleiner. Was hast Du denn auf dem Herzen?“

Ich lehnte mich lässig zurück und legte die Füße auf den Tisch und ließ das Unvermeidliche auf mich zurollen. Der Neue saß nervös auf dem 3D-Swooper: Ich hasste die Dinger, die ungemütlichste Idee eines Designers seit dem Blasenkatheter.

Er bückte sich über den Tisch und ich sah die Schweißperlen auf seiner Stirn, die seine Nervosität verrieten. Und er flüsterte es fast: „Bitte! Ich muss es wissen!“

Ach, es tut so gut, wenn man recht hat. Ich wusste, der Neue würde bis Donnerstag durchhalten und er hatte mir wahrscheinlich gerade 120 Euro verdient, aber jetzt war er wirklich durchgekocht, wirklich am Ende. Ich musste das noch ein bisschen genießen.

„Ach ja, diese Gerüchte. Das Gewürz in der Suppe der Zusammenarbeit in so einem Großraumbüro, oder? Wenn mehr als vier Menschen auf einem Haufen sind, dann beginnt der Kindergarten, oder? Wir brauchen das irgendwie. So eine Firma wie die unsere, die ist wie ein kleines Dorf. Hab’ ich nicht recht?“

„Bitte! Ich muss es wirklich wissen!“

„Und dann kommen die Gerüchte und sie verfolgen uns, nagen an uns und lassen uns keine Ruhe, bis der Schweiß in Strömen fließt, stimmt’s?“

Der Neue schaute mich ratlos an, sein rechtes Auge zuckte schon nervös, bis er endlich die Andeutung begriff. Er holte ein Taschentuch aus seiner Tasche und trocknete sich die Stirn ab.

„Bitte Sven! Ich muss es wissen! Ich muss einfach! Keiner nimmt mich mehr ernst hier in dem Laden! Keiner! Egal, mit wem ich rede, früher oder später kommt das Gespräch auf Alex und dann geht es nur noch darum, wie sehr alle Alex hassen. Und alle verbrüdern sich wegen ihres Hasses auf Alex. Und ich stehe daneben und kann nicht mitreden. Ich nicke nur immer mit, so als würde ich wissen, über wen hier geredet wird. Aber ich kann nicht mitreden. Ich habe das wirklich lange ausgehalten hier, aber ich bin noch nie Alex begegnet. Und das macht mich hier zu einem Paria, zu einem Ausgestoßenen, zu einem Außenseiter! Bitte, Sven, ich muss wissen, was mit Alex los ist!“

„Weißt Du, Kleiner, ich kann Dich richtig gut verstehen. So ging es mir vor vielen Jahren ja auch einmal, als ich hier angefangen habe. Und damals war das noch ein kleiner Laden, das kannst Du mir glauben. Da arbeiteten hier nicht einmal fünfzehn Leute, wenn ich mich richtig erinnere. Nicht so wie heute …“

„Bitte, Sven! Ich muss das wissen! Ich kann so nicht mehr weiterarbeiten, ich kann mich kaum noch konzentrieren. Jedes Gespräch, das ich mithöre, dreht sich um Alex oder darum, wie sehr ihn alle hassen. Wenn ich so weitermache, dann verliere ich den Job hier noch. Und ich brauche die Kohle. Meine Freundin ist zu mir gezogen, und wenn ich Dir erzählen würde, was wir an Miete zahlen müssen, das würdest Du nicht glauben! Bitte!“

„Kleiner, wie gesagt, ich kann Dich gut verstehen. Aber ich bin wirklich nicht der Richtige für Klatsch und Tratsch. Ich will da eigentlich nicht mitmachen. Nicht einmal, wenn es um Scheiß-Alex geht. Tut mir wirklich leid!“

„BITTE! Ich flehe Dich an! Ich bin der Neue hier und ich brauche einfach Anleitung. Ich brauche jemanden, der mich an die Hand nimmt und mir erklärt, wie alles hier so läuft. Ich brauche einen Mentor! Hilf mir, Sven! Bitte!“

Es war völlig klar, der Kleine war fertig mit sich und der Welt. Er tat mir richtig leid, wie er da so vor mir saß und unkontrolliert zu schluchzen anfing. Das war halt der Nachteil, wenn man so lange durchhielt. Da gingen die Nerven schon einmal ein bisschen kaputt. „Na, na, na, Kleiner! Nimm das doch nicht persönlich. Sag mal, nur einmal angenommen, ich würde Dir über Alex erzählen, dann würdest Du schon für Dich behalten können, wer nicht dicht gehalten hat, oder? Ich will wirklich nicht, dass Alex rausbekommt, dass ich…“

„Na klar! Ich werde schweigen wie ein Grab! Ich verspreche Dir beim Grab meiner Mutter …“

„Deine Mutter ist tot, Kleiner?“

„Nein.“

„Aha.“

„Ist nur so eine Redensart. Ich verspreche Dir bei allem, was mir heilig ist …“

„Ich dachte, Du bist Atheist.“

„Bin ich. Wieso? Ach so. Ich verspreche Dir, dass ich niemals jemandem ein Sterbenswörtchen sagen werde, dass Du mit mir über Alex gesprochen hast. Das wir überhaupt gesprochen haben!“

„Na gut. Kleiner. (Flüstert) Dann werde ich Dir etwas anvertrauen. Bist Du bereit?“

„Ja!“

Der Neue nickte so heftig, dass die Schweißtropfen von seiner Stirn und den Schläfen stoben. Er blickte mich von unten mit seinen treuen Cocker-Spaniel-Augen an und wimmerte untertänig: „Ja, ich bin bereit!“

„Weißt Du, warum wir alle Alex hassen?“

„Nein!“

„Und willst Du es wissen?“

„JA!“

„Willst Du es wirklich wissen?“

„JA!“

„Und wirst Du keinem verraten, dass Du es von mir erfahren hast?“

„Nein, keinem.“

Ich holte ganz langsam tief Luft, um den Kleinen in seinem Saft schmoren zu lassen.

„Wir hassen Alex, weil er toll ist.“

„Wie bitte?“

„Alex ist einfach der Beste.“

„Was?“

„Ein Mensch, der einfach durch und durch gut ist, das ist Alex.“

„Aber das ist doch kein Grund, um jemanden zu hassen!“

„Das ist kein Grund, meinst Du? Das ist der beste Grund, den man sich nur vorstellen kann!“

„Aber, es ist doch besser, jemand ist gut, als wenn er schlecht ist, oder?“

„Meinst Du?“

„Na ja, schon rein sprachlich gesehen …“

„Aber wenn diese Person, von der wir sprechen, so gut ist, dass die Engel im Paradies dagegen wirken wie Drogenhändler?“

„Wie bitte?“

„Kannst Du Dir überhaupt vorstellen, wie das ist, neben jemand zu arbeiten, der so gut ist? Der nicht nur fabelhaft aussieht, gepflegt ist, die besten Manieren hat, jeden Witz versteht, niemals auch die kleinste Kleinigkeit vergisst, der Schwarm und die Sexualphantasie aller Hetero-Frauen und aller Homo-Männer im Office ist? Kannst Du verstehen, wie es ist, neben so jemanden zu arbeiten?“

„Wie … Ich verstehe nicht … Aber …“

„Wenn Du neben dem perfekten Menschen arbeiten musst, dann stehst Du immer in einem schlechten Licht. Du bist immer der Kontrast, immer das Imperfekte, das Fehlerhafte, das Ungenügende. Verstehst Du?“

„Nein …“

„Alles, was Du machst, könnte Alex besser, schneller, schöner, gründlicher, zufriedenstellender. Und das ist nicht nur gefühlt so, sondern rein sachlich. Wir sind hier an die hundert Leute und ohne Alex wäre die Qualität unserer Arbeit nur halb so gut. Verstehst Du jetzt langsam, Kleiner?“

„Ich weiß nicht …“

„Na, Du begreifst nicht wirklich schnell, oder? Siehst Du die Pralinen, da auf dem Tisch? Die hat Alex mir geschenkt, weil ich heute vor einem Jahr meinen Segelschein geschafft habe. Das hat er sich gemerkt. Und er hat sich gemerkt, dass ich Pralinen liebe. Also hat er die besten fucking Pralinen in der ganzen Scheiß-Stadt aufgetrieben und hat sie mir so nebenbei heute geschenkt. Verstehst Du jetzt?“

„Aber…“

„Alex ist so gut, der hat mir sogar eine Gehaltserhöhung gegeben!“

„Aber unsere Chefin ist schon Andrea, oder?“

„Genau!“

„Oh!“

„So gut ist Alex! Verstehst Du? Jeder hasst Alex. Ich glaube, sogar Andrea hasst Alex. Aber wenn sie ihn entlässt, könnte er für die Konkurrenz arbeiten und dann wären wir alle am Arsch, verstehst Du?“

„Ich glaube, so langsam habe ich eine Ahnung. Aber ich verstehe noch nicht so ganz, weil …“

„Ist schon gut, Kleiner. Ich kann das verstehen. Das kannst Du erst kapieren, wenn Du mit ihm gesprochen hast. Nur dann kannst Du das wirklich erfassen. Das ist einfach nicht zu glauben, wie gut Alex ist. Wenn Du ihn einmal erwischst, dann musst Du Dich ihm vorstellen und mit ihm reden. Sonst wirst Du nie dazu gehören, Kleiner.“

„O.k. Ich verstehe. Dann muss ich das machen. Wo kann ich ihn denn finden?“

„Keine Ahnung? Vielleicht versuchst Du es einmal in seinem Büro?“

„Dann, vielen Dank, Sven! Vielen Dank! Du glaubst nicht, was das für mich bedeutet, dass ich jetzt Bescheid weiß! Das werde ich Dir nie vergessen. Und, bevor ich’s vergesse …“

„Ja?“

„Herzliche Gratulation zu Deinem Segelschein!“

„Ah, Du bist gut, Kleiner! Ich drücke Dir die Daumen für Dein Treffen mit Alex!“

„Danke!“

Und so sah ich dem Kleinen hinterher. Wie ein Wiesel machte er sich in unserem Großraumbüro auf die Suche nach dem Arbeitsplatz von Alex. Aus dem Büro nebenan hörte ich Andrea nach mir rufen.

„Super gemacht, Sven! Schön, dass Du neuen Mitarbeitern immer eine Stütze bist. Wie lange, glaubst Du, braucht er, bis er’s rausbekommen hat?“

„Keine Ahnung, Boss. Aber der Kleine ist ein Kämpfer. Und dumm ist er auch nicht. Ich habe damals zwei Monate gebraucht. Aber ich würde wetten, er schafft das schneller. Vier Wochen, denke ich.“

„Okay. Wie viel?“

„Meinen Gewinn von heute. Einhundert Euro.“

„Okay. Ausgemacht!“

Ihr müsst wissen, die Sache mit Alex hat eine ganz andere Bewandtnis. Denn hier, in unserer kleinen Firma hat noch nie jemand mit diesem Namen gearbeitet. Alex gibt es schlicht nicht.


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 April 9, 2019  24m