Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Rue Jacob, Paris


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Wenn man die Chefredakteurin der Pariser Vogue wird, obwohl man Amerikanerin ist, dann hat man einen Riesenschritt in der Karriereleiter getan. Klar benötigt frau dazu auch die passende Altbauwohnung in der Altstadt, die Rue Jacob passt da prima.

Selbst wenn der Mietvertrag einige seltsame Klauseln beinhaltet, die vermuten lassen, dass es in den Räumen spukt: Für so einen Unsinn ist keine Zeit neben der wichtigsten Modezeitschrift der Welt! Sorry!

Download der Sendung hier.

Frei nacherzählt von „Rue Jacob“ von Joan Juliet Buck auf „The Moth“
Musiktitel: „Black And White“ von Django Reinhardt

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(Nur für Unterstützer)

Die Geschichte zum Lesen

Ich war einmal Chefredakteurin der französischen Vogue. Die erste Amerikanerin, die diesen Job bekommen hat. Klingt immer noch ungewöhnlich, oder?

Man sollte ergänzen: Ich bin die letzte Amerikanerin, die diesen Job bekommen hat!

Es waren die Neunziger, Mode hatte noch eine völlig andere Bedeutung. Chanel wurde von einem Deutschen designt und wichtige Werbekunden waren Prada und Gucci aus Italien, Tom Ford aus Amerika oder Jil Sander.

Warum also nicht eine Amerikanerin als Chefin, die fließend französisch spricht und schon seit zehn Jahren für die amerikanische Vogue, für Vanity Fair oder Harpers Bazaar schreibt? Eben.

Man erhoffte sich durch mich frischen Wind. Ich wollte nicht nur darüber schreiben, wie man wann was trägt, sondern wie man als moderne französische Frau LEBT.

Guter Stil besteht ja nicht nur in der Wahl der richtigen Schuhe, sondern letzten Endes in der Wahl der richtigen Gedanken und Gefühle.

Meine Vogue sollte schön sein, gut fotografiert und bunt. Die Seiten sollten etwas von der Grandezza und Eleganz haben, die die Vogue vor dem Krieg ausgezeichnet hat.

Und so kam es, dass ich im Sommer 1994 eine Wohnung in Paris brauchte. Es war wohl Fügung, dass sich tatsächlich in meinem Lieblings-Arondissement eine Gelegenheit ergab.

Die Rue Jacob liegt tief im alten Paris, im sechsten Arrondissement. Sie verläuft parallel zur Seine und beginnt an der Rue de Seine und endet in der Rue des Saints-Pères.

Touristen lieben sie, denn zum einen sind hier die herrlichsten Antiquitätenläden und Antiquariate und zum anderen kann man den Namen in allen europäischen Sprachen leicht aussprechen.

In die Wohnung führt eine herrliche Steintreppe aus dem sechzehnten Jahrhundert, dann steht man vor zwei prächtigen Flügeltüren, die in ein beeindruckendes Foyer führen. Zur Rechten ist ein kleines Esszimmer und dann kommt man in das Herzstück dieser Wohnung. In einen wunderschönen Salon. Sechs Meter breit, sechs Meter lang und sechs Meter hoch. Ein perfekter Würfel.

Daneben eine Küche, ein Studierzimmer und schließlich, am Ende eines langen Flurs ein Schlafzimmer, wieder ein perfekter, kleinerer Würfel. Alles ausgestattet mit filigranen Stuckarbeiten aus der Zeit vor der Revolution. Gerade einmal 200 Dollar teurer als mein kleines, gammeliges Apartment in der Upper East Side.

So saß ich also bald in der Kanzlei von piekfeinen Pariser Anwälten, die mir einen sehr umfangreichen Mietvertrag vorlegten und vorlasen. Eine ziemlich langweilige Art seine Zeit zu verbringen, bis es zu einer ungewöhnlichen Stelle kam: Die Herren Juristen wollten es schriftlich von mir, dass sie mich informiert hätten, dass die Räume in der Rue Jacob 11, die ich zu mieten beabsichtige, sich des Nachtens bewegen. Bitte unterschreiben Sie hier auf der gestrichelten Linie!

Das ließ mich schon stutzen, aber ich dachte mir nicht viel dabei. Wahrscheinlich arbeitete so ein altes Haus halt, wie man so sagt. Ist ja nicht aus Beton, sondern aus Jahrhunderte altem Holz und Mörtel und Ziegeln. Also unterschrieb ich.

Weiters musste ich schriftlich versichern, dass ich, sollte ich Besuch von sehr schwergewichtigen Menschen bekommen, ich diese dazu anzuhalten habe, sich am Rande des Salons zu bewegen, weil sich die Fachleute uneins wären, wie hoch die Belastungsfähigkeit des Bodens sei.

Abgesehen von diesen kuriosen Kleinigkeiten hielt mich nichts davon ab, bald die stolze Mieterin dieser unglaublich schönen Wohnung mitten im mittelalterlichen Paris zu sein.

Ich entschließe mich, das Bett in den kleineren Würfel zu stellen, an die Wand zum Studierzimmer. Ich hänge sechs Meter beige lange Stoffbahnen in die Fenster, um den Raum organischer zu gestalten und im Sommer zu verdunkeln.

Und natürlich muss ich meinen sozialen Pflichten nachkommen und eine Einweihungsparty in meinem Salon geben – für die Chefin der Vogue ist das Teil der Jobbeschreibung.

Richtig Sorgen mache ich mir nur um diesen einen, außergewöhnlich dicken, italienischen Designer. Ich stelle ihn ans Fenster und gebe ihm die Aufgabe, mir mitzuteilen, wer als Nächstes die Straße hinunterkommt, um uns zu besuchen. So halte ich ihn von der Raummitte fern, die sein Gewicht laut einiger Fachleute eventuell nicht trägt.

Vier Monate später geschieht es zum ersten Mal. Ich werde mitten in der Nacht wach. Ich blicke mich im Dunkeln um. Mir fällt auf, dass das Bettzeug im Bett neben mir eine Kuhle hat. Gerade so, als ob jemand darauf liegen würde.

Und als sich die Kuhle in der Form verändert, da spüre ich, wie eine kleine, kühle Hand meine Stirn berührt.

Ich schlage mit dem einen Arm in das Bettzeug neben mir und mache das Licht an, während ich einen Schrei unterdrücke. Was war das?

Ein Geist kann es ja nicht gewesen sein, sage ich mir. Warum nicht? Weil ich im 20. Jahrhundert lebe, die Chefredakteurin der Vogue bin und wirklich andere Dinge zu tun habe, als mich mit solchem Unsinn zu beschäftigen!

Komischerweise ertappe ich mich am nächsten Morgen, wie ich um die Ecke schleiche, direkt hinein in die Kirche von St. Germain des Prés. Brav gehe ich ins Pfarramt und warte, bis mich die Sekretärin anhört. Sie öffnet den großen Terminkalender und fragt mich nach meinem Namen. Ich lasse mir flugs ein französisches Pseudonym einfallen. Mein Gegenüber macht ein sauertöpfisches Gesicht – war wohl nicht besonders gut. Was denn mein Anliegen sei?

Tja. Wie sage ich es am besten? Ich bin gerade um’s Eck eingezogen und habe wohl Geister. Ob man denn nicht jemanden vorbeischicken könnte? So eine Art spiritistischen Kammerjäger? Einen Exorzisten halt?

Und die Frau mit den fettigen Haaren kuckt mich durch ihre verschmierten Brillengläser angeekelt an: „Madame. C’est de la pure superstition!“

Ich verlasse die Kirche und schwöre mir, dass ich niemanden sonst in Paris davon erzähle, was in meinem Apartment nachts passiert. Keiner darf wissen, dass sich die erfolgreiche Chefredakteurin der Vogue nachts Geister einbildet.

Das Leben geht weiter. Ich gebe die nächste Party, wie man es von mir erwartet, und ich beginne mich irgendwie an die Situation zu gewöhnen.

Eines Abends besuche ich gute Freunde. Ein Pärchen aus Italien und ich habe den Eindruck, den beiden könnte ich mich anvertrauen. Das sind auch alte Europäer, die schon alle möglichen Geschichten gehört haben.

Als ich gestanden habe, dass mich des Nachts regelmäßig Geister besuchen, besteht meine Freundin darauf, dass ich die kommende Nacht bei ihnen verbringe. Erleichtert stimme ich zu, aber wir müssen noch Sachen aus meiner Wohnung holen.

Als sie und ich mein Schlafzimmer betreten, erwarte ich nicht, dass man meine Geister sieht, aber genau in diesem Augenblick sieht man den Abdruck eines menschlichen Körpers in meinem Bett.

Meine Freundin wird blass und verkündet, sie würde im Wohnzimmer auf mich warten. Wir verlieren kein weiteres Wort über die Situation, unsere Gespräche bleiben oberflächlich. Für den Rest unseres Lebens. Es ist besser, zu schweigen, lerne ich.

Als ich mich wieder nach Hause traue, beschließe ich, mein Bett einfach an die andere Wand zu stellen. Unter den Mauersturz, der einmal der Kamin war. Das schafft meinen Besuchen tatsächlich erst einmal Abhilfe, aber eines Nachts im Oktober wache ich auf.

Meine Vermieter wohnen in der Wohnung über mir. Sie ist exakt so geschnitten wie meine auch. Von dort her kommen die Geräusche, die mich geweckt haben.

Es klingt, als würde ein Körper im Raum herumgeworfen. Auf den Boden geschmissen, gegen die Wand geknallt. Man hört Menschen raunen und dann zischen und wie Schweine grunzen. Jemand wird gequält!

Ich schlüpfe im Nachthemd in meine Schuhe und renne in den Innenhof, um von außen zu sehen, was da über mir geschieht.

Ich sehe meine Fenster, mit den langen beigen Vorhängen und über meiner Wohnung: Nichts. Der Mond spiegelt sich in den Scheiben, mehr nicht.

Am nächsten Morgen klingele ich bei meinen Vermietern Sturm, bis sie mich in Notwehr auf einen kleinen Aperitif einladen und mir ihre Wohnung zeigen. Sehr schön eingerichtet, sehr unauffällig und klassisch.

Allerdings schlafen sie im Speisezimmer. Auf der anderen Seite des langen Flurs.

„Oh, die hinteren Räume benutzen wir praktisch nicht. Wir sind sehr zufrieden mit den Räumen auf dieser Seite des Flurs!“, erklären mir die beiden. Selber eher unauffällig und klassisch in ihrem Wesen.

Mehr ist den beiden nicht zu entlocken. Genau wie ich selber würden sie niemals zugeben, dass es in ihren Räumen spukt. Sie würden das Wort „Geist“ niemals benutzen, weil sie wissen, dass man ein Spinner wird in den Moment, in dem man es verwendet.

So verfahre ich auch weiter. Ich experimentiere heimlich. Wie zum Beispiel mit Räucherkerzen, Fernheilung oder tibetanischen Methoden des Exorzismus. Alles anonym, alles im Geheimen, alles unter falschem Namen.

Eines Tages besucht mich mein Vater und ist sehr stolz. Auf mich, auf meinen wichtigen Job, auf mein Leben in Paris und sogar auf meine wunderschöne Wohnung.

Wir stehen beide vor meinem Apartment, vor den wunderschönen Flügeltüren und unterhalten uns. Mein Vater steht neben mir, ganz entspannt – da wird er auf einmal von geschubst!

Er stürzt die Treppen hinunter, aber kommt, Gott sei Dank, nicht zu Schaden. Für mich ist der Fall klar: Etwas aus meiner Wohnung hat versucht, meinen Vater zu verletzen. Das ist schon ein bisschen mehr, als neben mir im Bett zu liegen und mich manchmal zu berühren. Ich muss da weg!

Ich ziehe um, auf die andere Seite der Seine. In eine normale Wohnung aus dem bürgerlichen neunzehnten Jahrhundert. Eine Wohnung ohne Melodrama, Geschichte und ohne Geister.

In der Redaktion muss ich aus der unverständlichen Entscheidung auf die rechte Seite zu ziehen natürlich eine Lifestyle-Diskussion machen, aber in Wirklichkeit ist mir das Unverständnis egal.

Meinen Kopf als Chefredakteurin wird mich nicht meine Wohnung kosten, sondern die Idee, eine Ausgabe der Vogue über Quantenphysik zu machen. Was nicht gerade inspiriert war, zugegeben.

Ich kenne meinen Nachmieter übrigens. Ein bekannter italienischer Designer. Ich hatte ihm abgeraten, meine Wohnung zu mieten. Aber ich war damals noch nicht alt genug, um die Wahrheit zu sagen. Nicht mutig genug.

Nach dem Umzug beginnt sich mein Leben positiv zu verändern. Die Auflage explodiert förmlich, ich verliebe mich ein wenig und bin nicht mehr einsam und ich schlafe wie eine Tote jede Nacht.

In die Rue Jacob komme ich immer noch gelegentlich, schon wegen der Antiquitäten. Das Haus in der Nummer elf ist aufwendig renoviert worden, aber ich mache trotzdem einen großen Bogen um es. Ich habe nie mehr auch nur eine Treppenstufe betreten.

Den italienischen Designer treffe ich vier Jahr später wieder in Mailand. Ein Jahr bevor ich die Idee mit der Quantenphysik haben werde.

Ich sage zu ihm: „Man sieht Dich gar nicht mehr in Paris!“
Er meint: „Ich bin schon da. Aber ich schlafe da nicht mehr. Ich schlafe in Mailand, in Brüssel oder in London, ich schlafe manchmal sogar am Flughafen, aber niemals in unserer Wohnung.“
„Warum das denn?“
„Schätzchen, in dieser Wohnung spukt es doch! Und wie! Ist Dir das denn niemals aufgefallen?“


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 July 1, 2019  27m