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Gedanken über Coaching und die Veränderungsprozesse von Menschen, Teams und Organisationen – und noch über einige andere Dinge & Themen auf dieser Welt, zu denen sich das Denken, Schreiben & Sprechen lohnt

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Lernmöglichkeiten mit Wundern, Kurven, nassen Füßen und geheimen Wegen


 

Gedanken zum (gar nicht so sehr) geheimen Weg das Glück einzuladen, um nicht erst nach Corona anders mit unserer Angst umzugehen und schlussendlich als Menschen wirklich für die Zukunft zu lernen

Update: jetzt auch mit Podcast zum Text
(Der Artikel erschien ursprünglich am 20. März 2020.)

 

Bildquelle: Pixabay

Wer lieber hört als liest, kann sich jetzt auch den Podcast zu diesem Artikel anhören. Für alle anderen steht der Text direkt darunter.

Zukunft, Sorgen, Ängste, Akzeptieren, Verstehen, Verändern, Lernen – dabei gibt es vielfältige Themen und Werkzeuge, die einem durch den Kopf gehen: Im japanischen Reiki gibt es „den geheimen Weg das Glück einzuladen“. Dieser Weg ist gar nicht wirklich geheim, jedoch wird er nur recht selten (bisher) praktiziert. Dazu gleich mehr. Zunächst richtet sich der Blick auf mögliche Wunder im Rückspiegel, auf ein Modell zum besseren Umgang mit Angst, eine Kurve der Veränderung und einen Prozess zur rückwärtigen Flussüberquerung mit möglichen Lerneffekten.

Wunder geschehen? Was wäre, wenn …

Zukunftsforscher Matthias Horx schreibt in seinem Beitrag „48 – Die Welt nach Corona“:

“Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. (…) Diese Zeiten sind jetzt.”
www.horx.com und www.zukunftsinstitut.de

Sowohl diese Richtungsänderung als vor allem auch das rückwirkende Betrachten greife ich auf. Beide Aspekte sind gerade heute, also schon “während Corona”, von entscheidender Bedeutung für einen gesunden Umgang – mit anderen Menschen, mit sich selbst und mit der Welt – und für das Lernen aus diesen Erfahrungen.

Horx spricht davon, dass wir uns wundern werden, sobald die Welt sich wieder mit anderen Dingen als COVID-19 beschäftigt. Sobald also andere Themen im Fokus stehen und wir uns wieder mit Fußballergebnissen, nächsten Topmodels, gesuchten Superstars, Wetterberichten und anderen alltäglichen Dingen auseinandersetzen. Wenn wieder Influencer statt Influenza im Vordergrund stehen, bleiben womöglich manche Wunder erhalten.

Durch (freiwilligen?) Verzicht, der nicht Verlust bedeuten muss, kann neuer Raum für neue Möglichkeiten entstehen, sagt Horx. Und vielleicht muss solch ein Raum dann auch nicht sofort „mit irgendetwas“ gefüllt werden. Einfach mal nichts tun? Das fällt vielen Menschen richtig schwer, auch den Generationen, die vor Y und Z geboren wurden. So ganz langsam (!) scheint sich jedoch vielerorts eine Prise Entschleunigung breitzumachen. Doch wird das auch “jenseits von Corona” erhalten bleiben? Horx führt weiterhin an, dass (womöglich? hoffentlich?) Humor und Menschlichkeit – wieder – den Stellenwert bekommen, den sie verdienen. Auch politische, ökonomische und ökologische “Wunder” werden vielleicht entstanden sein, wenn wir eines Tages auf die heutige Zeit zurückblicken.

Doch zurück aus der Zukunft, bleiben wir zunächst im Hier und Heute.

Ist es wirklich so? EIn Modell für den Umgang mit Angst

„Es ist so, wie es scheint.“
(PeterLicht in: „Der neue Mensch“)

Ein neuer, ein besserer Umgang mit Angst: Geht es darum, Angst wunderschön zu finden? Nein. Allerdings muss man auch keine Angst vor der Angst haben. Und nicht nur für die aktuelle Corona-Situation, sondern weit darüber hinaus, auch in ganz anderen angstauslösenden Momenten, gibt es ein sehr simples Modell, das helfen kann: das 4A-Prinzip.

Das 4A-Prinzip zum Umgang mit Angst © Andreas Steffen | WENIGER. UND MEHR.

Ganz grundsätzlich für einen gesunden und konstruktiven Umgang mit Angst anhand des 4A-Prinzips gilt: Wenn es uns gelingt zu akzeptieren, dass wir Angst verspüren, können wir danach “das Licht einschalten” und diese Angst bewusst betrachten und wieder selbstwirksam werden. Wenn wir anschließend mit Anderen darüber sprechen, werden wir feststellen, dass auch diese anderen Menschen eigene oder ähnliche Ängste haben, dass einige davon vielleicht bereits Lösungswege dafür gefunden haben. Und auf dieser Basis können wir danach in Aktion treten und etwas (oder uns) positiv verändern. Wie sehr passt dieses 4A-Prinzip für heutige Herausforderungen? Fangen wir von hinten an:

Nein, mit Aktion ist kein Aktionismus im Sinne von Toilettenpapierpanik und Hamsterkäufen gemeint. „Action“? Das ist aktuell wirklich schwierig. Frei nach Prinzipien, die alle gar nicht neu sind, beispielsweise dem sogenannten „Wu Wei“ aus dem Taoismus, kann es jetzt heißen: Handeln durch Nichthandeln. Dazu sind wir momentan in vielen Lebensbereichen sogar gezwungen. Dabei können wir nun entscheiden, ob wir uns dadurch als Opfer der Situation fühlen und damit hadern, es vielleicht sogar persönlich nehmen wollen – oder die Situation mit einer ordentlichen Portion Mut, Geduld, gerne auch Humor akzeptieren, annehmen und damit umgehen möchten. Alleine schon diese Wahl zu haben und sie bewusst zu treffen, ist eine Form von “Action”.

Die derzeitige Situation ist deshalb so fies und anspruchsvoll, weil aktuell der persönliche Austausch anders stattfinden muss (und auch kann), als wir es oftmals gewohnt gewesen sind. In den sozialen Medien? Da darf man sich durchaus fragen, wie wirklich passend diese dazu sind. Live, echt und in Farbe? Hierfür sind die Rahmenbedingungen gerade ganz andere. #flattenthecurve, stay@home, Veranstaltungsabsagen, Ausgangssperren oder echte Quarantäne schränken uns im wahrsten Sinne immens ein. Plötzlich müssen und können wir feststellen, dass unsere Smartphones auch eine Funktion haben, die wir neben TikTok, Instagram, Facebook & Co. häufig vergessen haben: Man kann damit telefonieren! Man kann darüber soziale Kontakte pflegen, bei Familienmitgliedern, Freundinnen und Freunden tatsächlich anrufen, den Kontakt dadurch halten oder wieder, anders, neu herstellen.

Bereits das Anschauen, also das zweite A aus dem Modell, ist gar nicht so leicht umsetzbar. Worauf richtet man den Blick? Welchen Aussagen welcher Expertinnen und Experten schenkt man das Vertrauen? Wir sind umgeben von unzähligen Fakten, die (fast) alle irgendwie glaubhaft klingen, sich oftmals widersprechen, in Summe also nicht alle stimmen können. Hier wird soviel deutlich von den Irrungen und Wirrungen unserer modernen Welt, ohne dass man dabei unbedingt in die Untiefen von Fake News oder gar Verschwörungstheorien abdriften muss. Die Augen zu verschließen, ist eine typische und natürliche Reaktion, das wird das Kaninchen vor der Schlange bestätigen. Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen bewusstem Ausblenden und angsterfüllter Ignoranz. Doch nur das, was wir erkennen, also gewissermaßen auch an-erkennen, können wir bewusst beeinflussen und aktiv verändern.

Angelangt beim ersten “A”: Es gilt auch hier, dass man die eigene Angst zunächst Akzeptieren sollte, bevor man sich auf eine Lösungssuche, einen konstruktiven Umgang damit begeben kann. “Wenn es doch nur anders wäre …” Sofern wir den tatsächlichen Status nicht akzeptieren, uns stattdessen ins Land des Konjunktivs flüchten, werden wir nichts verändern können. Wir werden dann auch keinerlei Ruhe und Geduld für diese Situation aufbringen können. Ja, nicht immer ist “es” genau so, wie es scheint. Doch manchmal, nachdem wir gut und ganz bewusst hingesehen haben, erkennen wir, dass PeterLicht mit seiner Aussage richtig liegt. Und dann können wir mit der Situation hadern, schimpfen und fluchen. Oder akzeptieren, dass es so ist, wie es ist. Und von genau dort aus können wir eine positive Transformation beginnen. Vielleicht gelingt es uns, den Umgang mit der eigenen Angst zu verändern. Oder mit der Angst der anderen, die wir spüren. Oder unsere Reaktion darauf.

Nicht nur für den Umgang mit Angst gilt, dass sich das dickste Brett meist direkt vor unserer Stirn befindet. Und genau dort können wir ansetzen. “Zu akzeptieren, dass wir etwas nicht akzeptieren können” – so ungefähr hat es Eckhart Tolle in einem seiner Bücher formuliert. Das ist zunächst ein Gedanke, der uns durchaus einen Knoten ins Gehirn machen kann. Doch wenn es uns gelingt, können wir zumindest ein bisschen Frieden mit dem vorhandenen Zustand schließen. Und genau das wiederum ist eine großartige Basis zur Veränderung.

Eine Kurve? Tempo und Schleifen

Es ist schon ironisch, vielleicht zynisch und fast sarkastisch, welchen Ursprung die sogenannte „Kurve der Veränderung“ nach Elisabeth Kübler-Ross hat, denn die Grundlagen dieses Modells stammen aus der Sterbeforschung. Aus dem Reaktionsverhalten sowohl todkranker Menschen als auch ihrer Angehörigen hatte Kübler-Ross ein erstaunlich ähnliches, nämlich im Verlauf komplett identisches Muster abgeleitet. Und diese Kurve mit ihren sieben Phasen lässt sich auch in ganz anderen Situationen immer wieder in übereinstimmender Form beobachten: Nämlich dann, wenn eine massive Veränderung auftritt, die wir selbst nicht initiiert haben, die uns also gewissermaßen „überfallt“.

Abbildung aus: “Menschen und Organisationen im Wandel” (Steffen, A., Springer, 2019)

Eine massive Veränderung, die uns gänzlich unvorbereitet trifft, kann zunächst zu einer heftigen Schockstarre führen. Wie lange dieser Zustand anhält, ist je Mensch und Situation komplett unterschiedlich – und das gilt auch für die nächsten Phasen dieser Kurve. Danach ist es typisch und menschlich, dass wir uns mit allen Kräften wehren und sträuben: “Das kann einfach nicht wahr sein!”

Irgendwann, wenn dieser Schock nachlässt, folgt dann die Enttäuschung. Wie in einem früheren Blogbeitrag beschrieben, kann dies ein sehr heilsamer Lerneffekt sein – eben weil uns dadurch bewusst wird, dass wir nicht länger einer Täuschung erlegen sind. Allerdings kann es auch hierbei ganz unterschiedlich lange dauern, bis diese Erkenntnis eintritt und sich als positiver Effekt in uns festsetzt. Das Befreien aus der vorherigen Verneinung und vorübergehenden Selbsttäuschung geht dann nur selten über in sofortiges Glücksgefühl, meist folgt erst einmal das genaue Gegenteil.

Das Tal der Tränen: Tiefe Trauer und Traurigkeit treten häufig ein, wenn wir wirklich hinschauen, was da gerade passiert ist. Wenn unsere Welt oder ein Teil davon zusammengebrochen ist, sich massiv verändert hat, ohne dass wir dies selbst so gewollt hatten. Und diese Phase ist unglaublich wichtig. Denn oftmals versuchen Menschen, sie zu überspringen. Doch das klappt nicht. Vielmehr holt es uns immer wieder ein, meist sogar mit noch viel größerer Wucht, wenn wir die Trauer nicht zulassen wollen. Dieses Loslassen, mit Tränen und meist nur wenig Kraft, ist ein immens wichtiger Schritt, um sich danach wieder auf das (neue, veränderte) Leben einlassen zu können.

Ausprobieren meint, ganz behutsam, vielleicht auch skeptisch und möglicherweise misstrauisch den Kopf wieder in die Realität zu halten. Hinzuschauen nach der vorherigen Lähmung, Ablehnung, Enttäuschung und Traurigkeit. Sofern dieses Tal der Tränen mit ausreichend viel Zeit durchlebt werden konnte, ist meist auch ein großer Teil von Wut, Frust und Zorn mitsamt den Tränen aus uns hinausgeschwemmt worden. Mit jedem Mal, wenn wir die Augen ganz bewusst auf die Welt richten, können wir Schritt für Schritt akzeptieren, dass es so ist, wie es ist. Auch dies funktioniert nicht im Eiltempo. Und es kann durchaus sein, dass wir einmal oder sogar mehrfach in eine der früheren Phasen zurückfallen. Ja, das darf so sein. Denn das ist menschlich. (Auch wenn es für andere Menschen um uns herum nicht immer einfach ist, damit behutsam und geduldig umzugehen.) Doch langsam, Schritt für Schritt, erneut in unserem individuellen Tempo, wird es uns danach gelingen, diese veränderte Welt um uns herum wirklich vollends zu akzeptieren, uns selbst dann wieder in genau diese Welt zu integrieren. Wieder wirklich zu leben.

Geheime Wege? Nein, nur selten genutzte Gedanken

Neben dem klassischen Handauflegen, mit dem die meisten Menschen es verbinden (und das man, ohne elektronische Medien oder das Internet, auch aus der Ferne praktizieren kann) gibt es beim japanischen Reiki ebenfalls eine philosophische Ebene, die gar nicht „hochgeistig“, sondern sehr pragmatisch, praxis- und alltagstauglich ist. Der sogenannte „geheime Weg das Glück einzuladen“ ist nämlich keineswegs geheim. Also nicht „esoterisch“, sondern vielmehr „exoterisch“, nur eben nicht so wirklich verbreitet. Er besteht aus fünf simplen Sätzen.

Bildquelle: Pixabay

Der geheime Weg das Glück einzuladen

  1. Gerade heute ärgere ich mich nicht.

  2. Gerade heute sorge ich mich nicht.

  3. Gerade heute bin ich erfüllt von Dankbarkeit.

  4. Gerade heute arbeite ich aufrichtig an meinem Leben.

  5. Gerade heute bin ich freundlich zu allen Lebewesen.

Jede dieser Lebensregeln beginnt mit “gerade heute” und man kann sich also jeden Tag aufs Neue entscheiden, ob man sich daran orientieren möchte. Hier gibt es eine Vielzahl von Querverbindungen sowohl zu den Gedanken von Matthias Horx als auch zur Veränderungskurve und zum 4A-Prinzip. “Gerade heute” bedeutet, dass wir nicht im Gestern verharren. Und auch nicht “erst morgen” oder “irgendwann später” im Land des Konjunktivs ansetzen. Sondern dass wir positiv akzeptieren, dass wir eine Veränderung nur zu genau einem Zeitpunkt vornehmen können: heute, hier und jetzt.

Was gestern gewesen ist, das können wir nicht mehr ändern. Der erste Satz will nicht nahelegen, dass man sich nicht auch mal ärgern darf. (Wobei zu beachten ist, dass man sich damit meist selbst ärgert.) Uns wegen etwas zu ärgern, das bereits geschehen ist … wird das rückwirkend dadurch die Vergangenheit verändern? Leider nein. (Doch wir können daraus lernen und die Zukunft anders gestalten.)

Der zweite Satz wiederum soll nicht ausdrücken, dass man stets mit der rosaroten Brille durchs Leben laufen muss. “Es wird schon irgendwie gutgehen!” Das ist zwar zum Teil eine durchaus gesunde Haltung, allerdings sollten eine aktive Zukunftsplanung und konstruktives Risikomanagement dadurch keineswegs vernachlässigt werden. Aber wie sehr mache ich mir Sorgen über eine Zukunft, die noch gar nicht eingetreten ist? Kann ich heute schon etwas verändern, bestimmte Weichen stellen? Wenn nicht, so lautet die dahinterstehende Empfehlung, sich nicht heute schon von Sorgen und Zweifeln “auffressen” zu lassen. Das sagt sich leichter, als es umsetzbar ist. Doch es funktioniert.

Wie sehr die Sätze drei bis fünf “irgendwie mit Corona” zu tun haben, möge jedem überlassen sein. Für mich und mein Verständnis haben sie sehr viel mit der aktuellen Situation zu tun.

Wenn alles gut läuft, macht man sich nur selten Gedanken über Dankbarkeit. Umso mehr ärgert man sich, wenn’s nicht so läuft wie gewünscht. Oder man sorgt sich, dass es eines Tages nicht mehr gut läuft. Gerade in Zeiten wie diesen kann es die Chance geben, für gestern noch Selbstverständliches heute wirklich dankbar zu sein. Sich auch der vielen kleinen Dinge bewusst zu werden, die uns täglich begegnen und bis gestern meist übersehen wurden. Oder vielleicht “ganz einfach” dafür dankbar zu sein, dass man lebt. Und all diese “Kleinigkeiten”, aus denen das Leben zu großen Teilen besteht, eben nicht als selbstverständlich anzusehen, sondern, wie im vierten Satz beschrieben, sehr bewusst und achtsam damit umzugehen. (Das kann sich durchaus auch mal wie “Arbeit” anfühlen.) Und wann sollten wir freundlich sein? Nur dann, wenn es uns richtig gut geht? Oder nur in Krisenzeiten? Oder dann gerade nicht, sondern stattdessen die Ellenbogen ausfahren, um unser eigenes Wohl zu schützen? Auch dies möge jeder Mensch individuell für sich selbst beantworten. Mein Wunsch ist jedoch, dass wir es möglichst dauerhaft tun, möglichst häufig freundlich zu unserer gesamten Umwelt sind, vor allem gerade heute.

Nasse Füße? Eine rückwärtige Flussüberquerung als Einladung zum Lernen

Nun ist es in ganz vielen Bereichen des Lebens bislang nicht die allergrößte Stärke der Menschheit gewesen, aus der Vergangenheit zu lernen. Stets und ständig werden Räder neu erfunden, längst abgestandene Weinsorten werden aus vermeintlich innovativen Schläuchen – JETZ NEU!!! – dargeboten. Und lernen wir Menschen wirklich nur aus Schmerz? Nur dann, wenn es so richtig, richtig weh tut? Geht es auch anders? Und wie können wir dabei den typischen Reaktionsmustern namens “Vergessen und Verdrängen” aktiv entgegenwirken?

Es gibt sogenannte Vermeidungsziele und deren positive Geschwister, die Annäherungsziele. “Weg von – oder hin zu”, so könnte man es alternativ formulieren. Dabei haben Letztere eine deutlich positivere Ausstrahlung, vor allem für uns selbst. Und damit auch eine andere, konstruktivere Wirkung.

Wenn wir ein Motiv haben, dass uns wirklich, aber mal so richtig, motiviert: Dann sind wir mit echter Überzeugung und Hingabe bereit uns zu verändern. Vielleicht sogar dauerhaft und nachhaltig zu lernen (auch trotz nasser Füße bei der Flussdurchquerung). Diese Grundgedanken werden im “Rubikonpzozess” verwendet. Dabei steht der italienische Fluss namens Rubikon stellvertretend für eine Hürde, die – unabhängig von ihrer “objektiven Größe” – für uns selbst ein zunächst scheinbar unüberwindbares Hindernis darstellt.

Abbildung aus: “Menschen und Organisationen im Wandel” (Steffen, A., Springer, 2019)

Üblicherweise wird dieser Rubikonprozess mit seinen fünf Schritten in der Entwicklungsrichtung durchlaufen, also vom Bedürfnis über das Motiv hin zur Intention, dann von der präaktionalen Vorbereitung hinein in die eigentliche Handlung. Doch man kann ihn auch “einfach mal” rückwärts betrachten – um daraus zu lernen.

„Corona als Chance“ ist ein echt fieser Claim (und nicht meine Erfindung). Doch im Grunde genommen ist dies eine Kernbotschaft aus dem Beitrag von Matthias Horx. Und es ist auch gleichzeitig eine Hoffnung, die ich in mir selbst spüre. Denn schon jetzt und heute, in einem Land, das bisher bei weitem nicht so massiv betroffen ist wie andere Regionen, haben sich bereits viele positive Veränderungen eingestellt. Vielerorts hat sich das Handeln schon verändert: Beispielsweise ist weitestgehend flächendeckendes Home-Office plötzlich möglich geworden, wo es gestern noch nicht ging (oder nicht üblich war, nicht gewünscht war etc.).

Zwecks langfristiger und dauerhafter Lerneffekte für uns als Gemeinschaft von Menschen kann es sehr hilfreich sein, sich nach solchen durch Krisen und Katastrophen erfolgten Veränderungen zum Verstehen und Lernen umzudrehen und zurückzuschauen: Was waren die ursprünglichen Bedürfnisse, die darin enthaltenen Motive und die resultierenden Intentionen, die uns zu einer Handlung, also zur Veränderung veranlasst haben? Was davon können wir beibehalten – auch wenn die Krisenzeit wieder vorbei ist? Müssen es stets Schmerzen, Leid und Not sein, damit wir etwas anders machen?

Hoffentlich nicht. Ganz sicher nicht. Lernen darf auch Spaß machen. Genau wie Veränderung. In enger Verwandtschaft zum Spaß befindet sich der Humor. Und der ist gerade in Zeiten wie diesen umso wichtiger. Dazu zitiere ich mich einfach mal selbst aus meinem Buch “Agile Spielzüge”:

„Das Wortauskunftssystem zur deutschen Sprache in Geschichte und Gegenwart beschreibt Humor als ‚gelassene Heiterkeit, die den Menschen befähigt, in schweren Situationen eigene und fremde Schwächen zu belächeln und den Mut zu bewahren‘.“

Was dort ursprünglich als Anregung für Führungskräfte in Unternehmen oder auch Trainerinnen und Trainer auf Basketballplätzen gemeint war, gilt ebenfalls für uns selbst. Umso mehr. Die Fähigkeit zur Selbstführung zeigt sich wohl gerade in schweren Zeiten. “When the going gets tough, the tough gets going”, so hat es Billy Ocean vor sehr vielen Jahren mal besungen. Nun sind zwar die Möglichkeiten zum Gehen momentan schon eingeschränkt – vielleicht werden sie es durch weitere Ausgangssperren & Co. bald noch mehr –, doch es liegt zu großen Teilen in unserer eigenen Hand und Macht, in unserem Blick auf die Welt, in unserem Hirn und Herz, wie wir mit dem Leben auch in “toughen” Zeiten umgehen. Den Mut bewahren? Am besten in Kombination mit einer Portion Geduld und Zuversicht? Dazu soll hier eine schwedische Philosophin und Changemanagerin zu Wort kommen:

„Das haben wir noch nie probiert, also geht es sicher gut.“
(P. Langstrumpf)

Das schöne bei einer rückwärtigen Flussüberquerung, wenn man also den Rubikonpzozess als Retrospektive wahrnimmt, um aus der Vergangenheit zu lernen? Die vormals nassen Füße bleiben dabei trocken.

Ein Fazit mit Soul

Ein Soulsänger wusste es schon 1963, also vor über einem halben Jahrhundert:

„A change is gonna come.“
(Sam Cooke)

Und auch damals schon war diese Erkenntnis natürlich keineswegs neu. Denn Veränderung ist Leben – und Leben ist Veränderung. Dazu gehören auch solche Veränderungsprozesse, die wir nicht selbst herbeigeführt, uns nicht gewünscht haben. Die unser Leben auf den Kopf stellen und vielleicht sogar ein dickes Brett davor nageln. Aber wie geht es weiter, wenn wir uns mit unserer Angst auseinandergesetzt, den Rubikon überquert und den Weg zum Glück (hoffentlich) gefunden und betreten haben?

Werden wir uns wundern, wie es Horx re- und prognostiziert? „Hoffentlich!“, lautet meine erste Reaktion. Doch noch mehr wünsche ich mir, dass wir uns nicht wundern. Sondern vielmehr verstehen. Dass wir wirklich, so richtig, voll und ganz die Gründe verstehen, aus denen heraus eine hoffentlich positive Veränderung „nach Corona“ eingetreten ist. Damit dadurch dann die Chance besteht, dass wir nicht gleich wieder in alte Verhaltensmuster samt Ignoranz und Ellenbogenmentalität verfallen. Dies wird nicht der letzte Virus sein, mit dem wir uns als Menschen, als gesamte Menschheit auseinandersetzen müssen. Wenn wir verstehen (und nicht gleich wieder vergessen), was „Menschsein“ wirklich heißt, werden wir auch neue Krisen überstehen können. In diesem Sinne:

„Der neue Mensch wird kommen. Möge er bei uns bleiben.“
(PeterLicht)


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 May 2, 2020  31m