Queerantine

Ein Blog und Podcast zum späten, lesbischen Erwachen einer Mittdreißigerin.

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Episode 4: Wie mein Trauma zum Coming-Out führte


Inhaltswarnung. In der kommenden Episode geht es um Depressionen, Trauma, Mobbing, sexuelle Nötigung, versuchte Vergewaltigung, Suizidalität und Suizidversuche. Wenn ihr euch gerade inmitten einer depressiven Episode befindet, dann überspringt diese Folge bitte.

Die Telefonseelsorge erreicht ihr jederzeit unter 0 800 / 111 0 111. Zudem bietet die Telefonseelsorge auch einen Chat an, den ihr unter https://online.telefonseelsorge.de erreicht. Sprecht mit den Menschen, denen ihr vertraut.

Wenn Menschen mich kennenlernen, dann sehen sie meist eine strahlende und positive Person. Niemand würde vermuten, welche Vergangenheit ich habe, da man diese eben nicht sieht. Jeder hat seine Koffer zu tragen. Es gibt einige Menschen, die geben das Leid, das ihnen widerfahren ist, an andere Menschen weiter. Ich möchte Menschen in meinem Leben das Leid ersparen, das ich selbst erlebt habe und versuche sie aktiv davor zu schützen.

Wie wir bereits wissen, kam mein Coming-Out erst mit 33 Jahren. In den letzten Monaten habe ich mich oft gefragt, woran das lag. Es gab viele Momente in meinem Leben, die mich geprägt haben und auch viele, die mein Coming-Out vermutlich gebremst haben.

Die Kindheit

Bereits in der Kindheit habe ich sehr früh gespürt, dass ich Mädchen sehr viel interessanter fand als Jungs. Ich hatte überproportional viele Jungsfreundschaften, da ich mich an die Mädchen nicht so richtig herantraute, da mir die Schmetterlinge im Bauch ungeheuer waren. Die Mädchen, die ich interessant fand, fand ich *anders* interessant als die Jungs. Ich verstand aber nicht warum. Das lag vor allem daran, dass in meiner Erziehung stets davon gesprochen wurde, dass ich irgendwann einmal Mann und Kinder haben werde. Oder bis heute (!) vom Kuss mit Kai vor rund 30 Jahren geschwärmt wird, der mir selbst sehr viel unspektakulärer in Erinnerung geblieben ist.

Meine Welt war heteronormativ. Nicht nur im Privatleben, sondern auch in der Medienlandschaft der 1990er. Die Vorbilder fehlten mir. Mir fehlten Frauen, die mir zeigen, dass es auch eine andere Option neben der heterosexuellen Beziehung gibt. Und nun stellt euch einmal vor, wie ein Kind sich fühlt, das in eine Schublade gedrängt wird, in die es gar nicht will, da es sehr deutlich spürt, dass es dort nicht hingehört. 

Das war bei mir der vorherrschende Zustand bis in meine frühen 20er. Und das machte etwas mit mir.

Die Männer und das Trauma

Und dann sind wir auch schon bei den Beziehungen, die mir immer gewünscht wurden. Die mit den Männern meines Lebens. Ich bin sie eingegangen, da ich dachte, dass man das eben so macht. Dass es keine anderen Optionen gibt. Die Beziehung mit meinem ersten Freund war ein Versteckspiel. Er sprach nicht öffentlich von einer Beziehung, obwohl wir dieselbe Klasse besuchten. Als ich die Beziehung beendete, beleidigte er die Größe meiner Brüste. Ich verstehe bis heute nicht, warum so viele Männer ein Problem mit der Größe von Körperteilen haben, aber das lassen wir mal außen vor.

Das Ende der Beziehung war zugleich der Beginn des Mobbings in meiner Klasse. Fünf Jugendliche terrorisierten neben mir diverse Schüler und sorgten sogar dafür, dass eine Lehrerin, die ich sehr mochte, nicht nur die Schule verließ, sondern sich auch wegen schweren Depressionen in einen stationären Aufenthalt begab. Ich war die Person, die die Namen der fünf „Unbekannten“ an die Vertrauenslehrerin weitergab. Welche wiederum alle Betroffenen, ich spreche von den fünf Mobbern, informierte. Es folgte weiteres, sehr viel schlimmeres Mobbing. So schlimm, dass ich mich ebenfalls in einen stationären Aufenthalt begab. Ich sah keinen Sinn mehr darin, weiterzuleben.

Dieser Aufenthalt war die bisher schlimmste Erfahrung meines Lebens. Unter anderem die absolute Fremdbestimmung über meinen Körper, ein Suizidversuch auf Station und eine versuchte Vergewaltigung waren die Erlebnisse in den zwei Monaten, die ich bis heute versuche zu verarbeiten. Während des Aufenthalts durfte ich nach einem Monat auch wieder in die Schule, welche direkt an die vorherige Schule angrenzt. Erneut traf ich meine Mobber und erneut durchlebte ich das Trauma, das mich in diese Klinik gebracht hat.

In dieser Zeit habe ich mir mein Dauerlächeln angewöhnt, das manche Menschen in meinem Leben irritiert, aber mir beim Überleben hilft. Eine Maske, die vom Schmerz ablenkt, da ich diesen anderen nicht zumuten will. Ich suggeriere Spaß und Freude, da ich die Gedanken in meinem Kopf kaum aushalte.

Beziehungen kamen und gingen und inzwischen befand ich mich in meinen frühen Zwanzigern. Ich weigerte mich, ernsthafte Beziehungen mit Männern einzugehen und wollte Spaß. Ich hatte viele männliche Freunde, mit denen ich schäkerte und das Leben genoss. Bis schließlich Moritz kam. Er war gemeinsam mit mir in einem Forum Moderator und hatte einen ähnlichen Humor wie ich. Im Juni oder Juli 2008 entschloss ich mich zu einem freundschaftlichen Besuch bei ihm, welcher hauptsächlich daraus bestand, dass wir sehr viel rauchten und tranken und ich mich via AOL Instant Messenger mit meiner damaligen Lieblingsfrau unterhielt. Ich ignorierte ihn komplett und fokussierte mich auf das stundenlange Gespräch mit ihr. Der letzte Abend endete allerdings damit, dass ich vermutlich wegen zu viel Alkohol einen kompletten Filmriss hatte und mich bis heute nicht daran erinnern kann, was passiert ist. Als ich morgens aufwachte, befand sich seine Hand dort, wo sie ohne Einverständnis nicht hingehört, während er erregt stöhnte. Ich rührte mich nicht, ich war vollkommen erstarrt. Ich hatte Angst. Angst, dass er mehr macht. Angst, dass er vielleicht schon mehr gemacht hat. Die Ungewissheit ist das Schlimmste. Es dauerte lange, bis ich realisierte, was dieses Erlebnis mit mir gemacht hat.

Im März letzten Jahres, also zu Beginn der Beziehung zu meiner Ex-Partnerin, hat er sich lustig und vergnügt bei einen Instagram-Post von mir gemeldet. Ich konnte die Dreistigkeit nicht fassen und hätte ohne den Beistand meiner damaligen Partnerin vermutlich schwer damit umgehen können. Doch seine Präsenz hatte Folgen. Die Monate danach dachte ich immer und immer wieder daran. Vor ein paar Wochen sogar während ich mit meiner damaligen Partnerin schlief. Ich befand mich inmitten der Vergangenheit und war erneut wie erstarrt. Die Vergangenheit bedrohte mein Glück. Doch ich spielte es herunter. Verdrängte es erneut. Sprach nicht über das, was ich wirklich fühlte. Stattdessen begab ich mich in die stille Depression. Ich glaube nicht, dass ihr damals bewusst war, was genau das in mir ausgelöst hat. Aber es hat mich erneut tief in das Loch geworfen, das ich dank ihr eigentlich verlassen hatte.

Die Maske sitzt.

Das Problem beim Wiedergeben schlimmer Erlebnisse ist immer, dass Menschen es hören und bestenfalls empathisch darauf reagieren, aber oft nicht verstehen, was es wirklich in einem auslöst. Welche langfristigen Folgen es hat.

Dieses Erlebnis ist inzwischen 12 Jahre her und doch so tief in meinem Unterbewusstsein vergraben, dass es mich fast umbringt. Viele Männer haben in meinem Leben Grenzen überschritten. Sie haben mich beleidigt, sie haben mich erniedrigt, sie haben mich gezwungen, sie haben Widerworte ignoriert, sie haben mich zu sexuellen Handlungen genötigt und vielleicht auch mehr. Durch meine Vergangenheit habe ich große Probleme damit, neuen Menschen zu vertrauen, doch gilt meine besondere Vorsicht vor allem bei Männern. Es ist kein Hass, es ist Angst. Angst, dass der nächste Mann erneut eine Grenze überschreitet. Angst, dass ich nicht damit umgehen kann. Angst, dass es der letzte Tropfen ist, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Letzten Donnerstag ist es erneut passiert. Der letzte Tropfen, der all die Erinnerungen hervorgeholt hat. Der letzte Tropfen, der mich mit meinem tiefen Schmerz konfrontiert hat. Ein Ereignis und all die Grenzüberschreitungen waren wieder präsent. Er lächelte, da ihm mein Befinden vollkommen egal war. Er sagte mir grinsend, dass er es morgen nochmal versucht. Er ignorierte mein Nein. Er überschritt die Grenze. Ich zitterte drei Stunden am Stück. Es war der letzte Tropfen, der dafür gesorgt hat, dass ich erneut nicht mehr Leben wollte. Weil es zu viel war. Und das während ich mich abermals freiwillig in einen stationären Aufenthalt begab, der deshalb frühzeitig beendet werden musste, da meine Angst vor Ort zu groß war. Zwei Wochen Fortschritt komplett zurückgesetzt.

Noch am gleichen Abend zeigte ich ihn bei der Polizei an. Die detaillierte Beschreibung des Tathergangs erlebte ich zwar körperlich, aber nicht geistig anwesend. Das Kopfkino zeigte immer dieselben Bilder, nacheinander, durcheinander. René, der Klinikaufenthalt, der Typ, der mich in Hamburg in ein Klo zerren wollte, der Typ, der mir in Düsseldorf etwas in den Drink geworfen hat, Moritz und so viel mehr. Typen, denen es egal ist, was ihre Handlungen verursacht haben. Typen, die dachten, dass ich es nicht wert bin, nach einer Erlaubnis zu fragen.

Während ich dort saß, wusste ich bereits, dass mich dieses – im Vergleich zu den anderen – kleine Ereignis noch lange begleiten wird, da es ein viel größeres Trauma auslöste.

Ich erlebte vier Tage lang meine persönliche Hölle, die sich an Tag zwei verschlimmerte. Ich träumte schlimm, ich aß kaum und versuchte mich mit aller Kraft gegen die dunklen Gedanken in meinem Kopf zu wehren, da sie drohten, Überhand zu nehmen. Ich konnte nicht mehr. Ich hatte immer Angst, dass mein Schmerz meine Beziehungen zerstört. Aber noch viel mehr Angst hatte ich immer davor, dass er mich zerstört.

An Tag vier setzte ich mich an das Schreiben dieser Episode. Meine Art des Aufbegehrens.

Die Lehren

Ich hatte nicht nur während der Intimitäten mit Männern kaum Gefühle, sondern fühlte mich in ihrer Gegenwart schlicht nicht wohl. Ich stelle Männer nicht unter Generalverdacht, aber ich bin aufgrund meines Traumas vorsichtig. Schließlich habe ich letzte Woche gesehen, dass es schon reichen kann, wenn ich zustimme, dass sich ein Mann neben mich setzt. Dass das reicht, damit er sich sicher genug fühlt, um eine Grenze zu überschreiten.

Doch wie passt das nun alles dazu, dass das Trauma zum Coming-Out geführt hat? Das ist einfach erklärt.

Während meiner Beziehungen zu Männern erfuhr ich all die Schmerzen, mit denen ich auch heute noch tagtäglich leben muss. Als ich den ersten Kuss mit einer Frau erlebte, schien der Schmerz erträglicher. Ich konnte auf einmal damit umgehen, auch wenn ich noch oft an die Vergangenheit dachte. Der Lebenswille war wieder da. Das kitschige Licht am Ende des Tunnels.

Es schien, als wäre der Schmerz während meines Lesbenversteckspiels mit Männern auch deshalb so schwer zu ertragen, da ich nicht nur eine Maske trug, die meine Gefühle verzerrt darstellte, sondern eine weitere, die mein wahres Ich unterdrückte.

Ohne diese Maske fühlte ich mich zumindest ein bisschen wohler in meiner Haut. Ich erkannte, dass mein Leben lebenswert sein kann, da es zumindest in der Liebe auch Glück gibt, das sich wie ein Rettungsring anfühlte. Ich erkannte, dass ich mit Hilfe dieses Glücks die Depression bezwingen könnte. Hinter mir lassen. Und das nur durch einen Kuss. Und auch wenn mein Schmerz die erste Beziehung zu einer Frau beendet hat, weiß ich zumindest, dass ich an einer Stelle in meinem Leben angekommen bin, an der ich mich pudelwohl fühle.

Am anderen Ufer.

Das Titelbild wurde freundlicherweise von Maarika Martins zur Verfügung gestellt. Ich habe dieses Titelbild gewählt, da mir mein Coming-Out eben jenes Gefühl des Schutzes vermittelt hat, das im Bild dargestellt wird.

Mehr Kunst von Maarika findet ihr auf ihrer Website und bei DeviantArt.


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 August 17, 2020  n/a