Major Li Podcast

Ein Fortsetzungsroman: Major Li CiWen war ein erfolgreicher Ermittler in der chinesischen Metropole Qingdao. Durch widrige Umstände wird er - nach oben zur Seite - befördert und versetzt. In seiner neuen Dienststelle auf der Insel Xiamen arrangiert er sich mit dieser Situation. Doch dann wird er zu einem mysteriösen Fall gerufen. Als Leiter der SoKo 3-8-21 beginnt für ihn eine turbulente Zeit. Die Ermittlungen führen ihn zuerst nach Hongkong auf das Schiff seines Freundes Lim Tok. Von dort geht die Jagd weiter nach Rostock und schließlich nach Hiddensee. Was nur ein kleiner Kreis Eingeweihter weiß, der Fall rührt an eines der größten Geheimnisse. Dieses reicht weit in die Vergangenheit bis in die ehemalige deutsche Kolonie Kiautschou zurück. Der Major hat in Deutschland alte Verbündete, die ihn auf dieser gefährlichen Reise zurück durch die Zeit unterstützen. Doch auch die Verbindungen seiner mächtigen Gegner reichen weit zurück ...

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episode 16: Li und der Schatz - Kapitel 16


Li CiWen, Deutschland, Februar 2004

Das Treffen mit John Chow verlief so, wie sie es geplant hatten. Keine unangenehmen Überraschungen, keine Nachverhandlungen. Alles so, wie es sein sollte. John Chow erwies sich als eine Ausnahmeerscheinung. Überdurchschnittlich intelligent, sorgten sein tapsiges Äußeres und seine hohe freundliche Stimme dafür, dass man ihn, ohne es verhindern zu können, sträflich unterschätzte. Ein gemütlicher Panda. Dass John Chow bis fast in die höchste Triadenebene aufgestiegen war, hätte selbst ein gewiefter Ermittler wie Li CiWen nicht glauben mögen. Und doch war es so. Auf der anderen Seite war er eben doch nicht der brutale Mafiaboss, den man in dieser Stellung erwarten müsste. John Chow war ein Menschenfreund, den das Schicksal in diese Position gespült hatte. Lim und Li wussten nach wenigen Worten, die sie mit dem Paar gewechselt hatten, dass Chow und seine Freundin ihr gesamtes Wissen ausbreiten würden. Sie hatten endgültig mit ihrem bisherigen Leben abgeschlossen und waren grimmig entschlossen, die dargebotene Chance zu nutzen. Auch auf die Gefahr hin, dass dies das Letzte war, was sie taten. Li CiWen spürte eine Verantwortung den beiden gegenüber. Wie erwartet hatte das Paar alle nötigen Vorbereitungen für die Flucht getroffen. Keine Zeit dafür war günstiger als um das Neujahrsfest herum. Lim und Li hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Zwei Tage später konnte die Flucht über die Bühne gehen. Ein einfacher Grenzübertritt mit dem Auto erschien ihnen zu riskant. Die Drei Harmonien hatten ausgezeichnete Sniper, was sie auf diesem Weg schon öfter unter Beweis gestellt hatten. Diese Leute benötigten keine Vorwarnzeit. Ein Anruf und sie legten aus ihrem Fenster an. Triadische Grenzsicherung nannte Lim Tok das. Angeblich waren alle Straßen nach draußen auf diese Weise gesichert. Noch stand John Chow nicht auf der Abschussliste, aber niemand mochte warten, bis es so weit war.

Macau Skyline

Das Paar fuhr am übernächsten Tag zur Chung-Kong-Road, um, wie öfter in den letzten Wochen, einen Trip nach Macau zu machen. Ein bisschen spielen. Ein Sky-Shuttle würde sie nach Macau fliegen. Doch sie stiegen nicht in Macao aus. Zwei Flugbegleiter – ein großer Mann und eine Frau, verließen in der Kleidung der beiden den Helikopter. Dann wurde ein gefakter Krankentransport zugeladen. Der Helikopter hob wieder ab und brachte Chow und Freundin zum Zuhai-Airport-Hospital. Vor den Blicken Dritter geschützt, verschwanden sie als Krankenpersonal verkleidet im Hospital und begaben sich in die Hände der chinesischen Sicherheitskräfte. Wo es dann mit ihnen hinging, konnte Li CiWen nicht sagen. Er hatte in Xiamen auch schon Triaden-Überläufer aus Fujian versteckt. Die nächsten Tage und Wochen würden für die beiden nicht einfach werden. Tagelange Verhöre mit ewig gleichen oder nur leicht variierten Fragen würden auf sie einprasseln. Jedes einzelne Wort würde von einem Expertenstab auf Plausibilität geprüft werden und wenn nur die kleinste Ungereimtheit auftauchte, fing der ganze Zirkus von vorne an. Es würde noch gründlicher, noch tiefer gebohrt. Sie waren zwar offiziell keine Gefangenen, theoretisch gab es sie nicht einmal auf chinesischem Boden, aber praktisch waren sie es dennoch. Sie würden sich beide über die Zeit kaum sehen. Und wenn, würde jede Kommunikation zwischen Ihnen überwacht. Li und Lim hatten ihnen die Prozedur in dem Abbruchhaus genau geschildert und hoffentlich die Illusion genommen, dass sie sich mit Zurückhaltungen oder Lügen durchmogeln könnten. Konnte man nicht. Hatten sie es endlich überstanden, würden sich plastische Chirurgen der beiden annehmen. Wenn die Wunden abgeheilt waren, bekamen sie neue Papiere mit aktuellen Bildern. Je nachdem, wo sie ein neues Leben anfangen wollten, ob in Australien, den USA oder Großbritannien, die Pässe wären echt und ihre Legenden absolut wasserdicht. An ihnen hatten Spezialisten mehrere Wochen gearbeitet. Inklusive der Verlegung von Spuren in Melderegistern, in Schulen, bei Ärzten und wo Menschen im Laufe ihres Lebens Spuren zu hinterlassen pflegen. Ja, sie würden in ihrer neuen Umgebung sogar Besuch von langjährigen Freunden bekommen, die sie noch nie gesehen hatten. Und auf dem Grillfest anlässlich ihres Einzugs ins neue Haus, würden sie mit diesen Freunden Geschichten vor den neuen Nachbarn zum Besten geben, die nie stattgefunden hatten. An alles war gedacht. Und doch gab es ein Restrisiko. Von nun an waren sie ihr restliches Leben auf der Flucht. Falls sie Verwandte oder Freunde hatten, würden sie die niemals mehr wiedersehen. Es war ein hoher Preis. John Chow hätte die Treppchen in den Triaden weiter nach oben klettern, und sich irgendwann auf einer der Inseln auf sein Altenteil zurückziehen können. Er hätte im Geld schwimmen und sich jeden Wunsch erfüllen können und hätte nur mit dem Finger schnippen müssen, um etwas zu regeln. Doch er und seine Gefährtin hatten eine Entscheidung getroffen. Li Ciwen wünschte ihnen in Gedanken viel Glück.

Li CiWens Arbeit in Hong Kong war getan. Erkenntnisse, die ihren Fall betrafen, flossen dank John Chow direkt nach Xiamen. Er konnte in der Stadt nicht mehr viel ausrichten. Lim Tok hatte beschlossen, für eine Weile mit Pipi zu verschwinden. Sie waren ja mobil. Er glaubte zwar nicht, dass ihnen direkt eine Gefahr drohte. Mal von der Bildfläche zu verschwinden, war für einen erfolgreichen Privatdetektiv nie schlecht. Umso mehr würde seine Wiederauferstehung gefeiert. Ihre erste Station sollte Thailand sein, dann Singapur und dann vielleicht Australien. Sie würden sich treiben lassen. Mal sehen, was die Zeit brachte.
Pipi, Lim und Li CiWen saßen an Deck. Der Abend war lau, aber der Wind hatte zugelegt. Die Dünung ließ das Boot leicht dümpeln. Auf dem Tisch stand eine große Schüssel frisch zubereiteter Krabben. Li CiWen tunkte ein Krabbenbein in die Soße und knackte es krachend mit seinen Zähnen. Genüsslich zutschelte er das weiße Fleisch heraus. Auf dem Tisch stapelten sich die Überreste. Dazu gesellten sich etliche leere Bierflaschen. Die schwankende Laterne über dem Tisch tauchte das Inferno in unruhiges Licht.

Ruins of St. Paul’s, façade originally of The Cathedral of St. Paul built in 1602.

Lim Tok fing an zu sprechen: „Wir wissen jetzt eine ganze Menge mehr, als im Jahr des Schafes. Die Thomas‘ aus Kent, haben den Boshanlu identifiziert und die Drei Harmonien informiert. Es ist ihnen gelungen, den Hintergrund des Stückes in der Zeit zurückzuverfolgen. Zu unserem Glück haben sie diese Information nicht sofort übermittelt. Für die Triaden sind die beiden abgetaucht. Vermutlich sind die nicht glücklich darüber. Einer ihrer Soldaten hat die Witterung der Thomas‘ aufgenommen und ist ihnen gefolgt. Nach dessen Auskunft sind sie jetzt alle drei in Deutschland. Wir wissen nicht, ob die Thomas‘ ihr eigenes Ding durchziehen wollten oder ob sie nur das Inkognito wahrten. Denn wir wissen, dass auch Dienste der Briten an denen dran sind. Es muss nicht unbedingt ein unfreundlicher Akt der Thomas’ gegenüber den Triaden gewesen sein. Ich kann mir das kaum vorstellen. Die Thomas‘ hätten viel zu verlieren und nur wenig zu gewinnen. Wie auch immer, sie sind unseren Leuten deutlich nähergekommen. Ob sie die richtigen Schlüsse ziehen werden, wissen wir nicht. Die Weichen werden jetzt in Deutschland gestellt. Ich hoffe, du bekommst das Baby geschaukelt.“
„Ja“, sagte Li CiWen, „ich bin gerne da drüben. Allerdings lieber, um Urlaub zu machen. Mein Flieger geht morgen nach Frankfurt. Wenn ich mich recht erinnere, dann ist es um die Zeit richtig kalt in Deutschland. Ich weiß nicht, ob mir das gefällt. Lasst von euch hören, wenn ihr euer neues Ziel erreicht habt.“
Sie stießen an und machten sich wieder über die Krabben her.

Macau City Centre

Frankfurt empfing ihn, wie erwartet. Das Wetter war deutsch. Grau, diesig und unanständig kalt. Er hatte keine entsprechende Kleidung dabei. Vor seiner Abreise hatte er seiner Kontaktperson in Deutschland übermittelt, dass er wie ein Sommereisender ausgestattet war. Neben seiner Uniform, weißes Hemd, helles Jackett, schwarze Hose und schwarze Halbschuhe hatte er sich einen Trenchcoat gewünscht. Die Idee entsprang einer plötzlichen und, wie er zugeben musste, albernen Anwandlung. Die passende Driving Cap hatte im Lim Tok gegeben. Mütze und Trenchcoat erschienen ihm erst etwas exzentrisch, aber nun war er froh über die Eingebung. Jeder dritte Mann lief auf dem Flughafen mit einem Trenchcoat umher. Die Hutform streute zwar, doch der Mantel war eine Konstante. Genau wie die schwarzen Schuhe und die passende Hose. Dass er nie eine Krawatte trug, riss ihn etwas raus. Deutschland war schon merkwürdig, dachte er. Dank des First Class Tickets konnte er die Maschine schnell verlassen und brachte die Pass- und Zollkontrolle vor den meisten seiner Mitflieger hinter sich. Nach nicht mal einer halben Stunde hatte er alles erledigt, stand am Ausgang und hielt nach seiner Abholung Ausschau. Es waren nicht nur viele Chinesen an Bord der Hong Konger Maschine, auch die, die warteten, waren überwiegend Asiaten. Er wollte sich gerade Sorgen machen, da sah er seinen Namen auf einem Schild. Ein junger Konsulatsmitarbeiter aus Frankfurt. Er würde Li CiWen direkt nach Berlin zur Botschaft fahren. Ihm war es recht. Er wollte so schnell wie möglich nach Norden. Insgeheim hatte er befürchtet, dass sie erst dem Konsulat in Frankfurt Aufwartung machen mussten. Die S-Klasse, in der er nun saß, würde für die Strecke sechs Stunden brauchen. Ein Anschlussflug wäre schneller gewesen. Ein wenig ärgerte er sich darüber, dass das Frankfurter Konsulat nach der Planänderung nicht gleich einen Weiterflug gebucht hatte. Auf der anderen Seite war der Wagen wunderbar bequem und wohltuend leise. Der weiche Sitz, die hohe Temperatur und das leise Schnurren des Motors ließen ihn schläfrig werden. Er hatte im Flugzeug nur schlecht geschlafen. Es quälte ihn nicht nur der Kater von ihrem letzten Abend auf der Dschunke. Hinzu kam, immer wenn er gegen die Zeit flog, hatte er das gleiche Problem mit der Schlaflosigkeit. Es gab dafür keine logische Erklärung. Flog er in die andere Richtung, nach Osten über die Datumsgrenze nach Amerika war es ganz anders. Er schlief auf diesen Touren wie ein Murmeltier und die Anpassung an die Zeit brauchte nicht länger als einen Tag. Dagegen ärgerte er sich auf seinen Deutschlandflügen mindestens drei Tage mit dem Jetlag herum.

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Er schreckte auf. Dies war nicht mehr die Autobahn. Der Funkturm glitt an dem Fenster vorüber. Sie fuhren auf der Bundesstraße. Wenn kein Stau dazwischenkam, wären sie in einer halben Stunde in der Botschaft. Li CiWen konnte es kaum fassen, er hatte fast die gesamte Strecke verschlafen. Das war einerseits gut, denn er fühlte sich fit und ausgeschlafen, aber andererseits bestand die reale Gefahr, dass er die nächste Nacht nicht schlafen konnte. Es war früher Nachmittag. Mit etwas Glück konnte er die Formalitäten in der Botschaft schnell erledigen. Ihm wäre es recht, wenn er sich gleich weiter auf den Weg nach Rostock aufmachen könnte. Li war schon klar, was die Botschaft von ihm wollte. Sein Aufenthalt in Deutschland war nicht ganz unkompliziert. Im Gegenteil, unkompliziert war ein Euphemismus, wenn man seine Mission betrachtete. Es war schlicht illegal, was er tat und konnte ernsthafte diplomatische Verwicklungen heraufbeschwören. Er sollte in einem fremden Land ermitteln. Und zwar strikt unter dem Radar der Polizei oder anderer Dienste. Ihm standen zwar die Kollegen in China für Auskünfte und Ähnliches über die Botschaft zur Verfügung, aber im Grund war er auf sich allein gestellt.
Seine Legende war die eines Geschäftsmannes in der Tourismusindustrie, welcher neue Ziele für chinesische Touristen in Mecklenburg-Vorpommern und besonders auf den Ostseeinseln ausloten sollte. Das hatte er sich selber ausgedacht und gegen den leichten Widerstand seiner Vorgesetzten letztlich durchgedrückt. Ihm gefiel die Vorstellung, dass seine Landsleute nicht mehr ins Münchner Hofbräuhaus, nach Neu Schwanstein, zum Brückentor in Heidelberg und zur Berliner Mauer in unzähligen Bussen gekarrt wurden, sondern das richtige, rauere, aufregendere Deutschland wahrnehmen könnten. Location Scout für ein Touristikunternehmen muss ein ziemlich cooler Job sein, falls es den wirklich gab, dachte er. Die gut zahlenden chinesischen Touristen ließen sich nach seiner Meinung mit einem pittoresk-albernen Scheindeutschland abspeisen. Mal sehen, seine aktive Dienstzeit dauerte nicht ewig. Freiberuflicher Scout könnte ihm gefallen. Eher nicht Privatermittler, so wie Lim Tok. Dessen Beruf unterschied sich nur marginal von seinem jetzigen. Vielleicht würde der nicht mehr ganz so tief in menschliche Abgründe schauen. Doch immer noch tief genug, wenn er Lims Geschichten lauschte.

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Ein Botschaftsmitarbeiter empfing ihn ohne jede Wartezeit. Gut, dachte Li CiWen, chinesische Effizienz auch hier. Nicht lange rummachen, gleich loslegen. Der Mitarbeiter, der seinen Namen nicht nannte, erklärte ihm noch mal die bekannten Umstände.
„Major Li CiWen, ich brauche Ihnen sicher nicht die Brisanz dieses Auftrages zu schildern. Die Beziehungen der Volksrepublik zu Deutschland sind nicht wirklich supergut. Wirtschaftlich kommen wir miteinander aus, politisch gibt es einige Hürden. Zwar hat der aktuelle Kanzler ein wenig Druck aus dem Kessel genommen – gerade hinsichtlich der Tibetfrage, aber es gibt immer noch genug Reibungsflächen. Wir hätten eine polizeiliche Ermittlung in Zusammenarbeit mit deutschen Kollegen beantragen können. Das wäre meine präferierte Vorgehensweise gewesen. Leider hat jemand in Beijing enormen Druck gemacht und Sie mir hergeschickt.“ Er schaute Li CiWen einen Augenblick aufmerksam an und fuhr dann fort: „Ich will gar nicht wissen, was da gelaufen ist. Nur soviel, unsere aktuellen Beziehungen zu Deutschland sind das Ergebnis langjähriger und wirklich harter Bemühungen beider Seiten. Jetzt haben wir große Sorge, dass jemand das wieder einreißen könnte.“
Das war für einen Chinesen ungewöhnlich deutlich. Li konnte den Mitarbeiter verstehen. Auch Lis Situation war kompliziert. Er war Polizist – kein Geheimdienstler. Von dem Gewerbe hatte er keine Ahnung. In der Abteilung der organisierten Kriminalität arbeiteten sie oft verdeckt, hatten aber immer einen mächtigen Apparat über sich. Der fehlte nun. Außerdem musste er den offiziellen Apparat des Gastlandes unterlaufen. Li CiWen hatte es in Qingdao ein paarmal erlebt, dass ihm ausländische Ermittler ins Handwerk pfuschten. Diese Ermittler machten reine Polizeiarbeit. Amtshilfeersuchen über die diplomatischen Kanäle zogen sich endlos hin und dann hatte irgendwo in den USA, UK oder EU ein Vorgesetzter die Geduld verloren und rein pragmatisch entschieden. Polizisten tickten auf der ganzen Welt ähnlich. Flog so eine Initiative auf, lief das diplomatische Getriebe heiß. An die Öffentlichkeit gelangten die Fälle nicht, aber für die Beteiligten hatten sie fast immer unangenehme Konsequenzen. Jetzt war Li CiWen in der Rolle des illegalen Spielverderbers. Die Botschaftsmitarbeiter kannten nur einen Teil des Bildes. Li CiWen steuerte seinerseits nichts zur Aufhellung bei. Er ließ die Belehrung stoisch und ohne Worte über sich ergehen. Nach kurzer Zeit waren sie fertig.

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Die Botschaft war zwar nicht von seinem Einsatz begeistert, doch sie ließen sich dennoch nicht lumpen. Ein mit allem Schnickschnack ausgestatteter A6 stand auf dem Hof. Im Kofferraum lag eine Garderobe für mindestens zwei Wochen, dazu Visitenkarten eines Reiseveranstalters aus Qingdao, ein Päckchen Bargeld mit lauter Fünfzig-Euro-Scheinen. In der Konsole fand er, an die Freisprechanlage angeschlossen, ein nagelneues Nokia 6810 – inklusive aktivierter deutscher SIM-Karte. Jeder würde ihm bei dieser Ausstattung den chinesischen Entrepreneur abkaufen. Standesgemäß hatte man ihm ein Zimmer im Radisson in Rostock gebucht. Li fuhr los.
Der Verkehr in Deutschland war zwar schnell, bedeutend schneller als in China, aber entspannter. In Xiamen musste er auf jede Eventualität vorbereitet sein: Fußgänger, die ohne jede Umsicht die Straße kreuzten, Fahrzeuge, die ihm auf seiner Spur entgegenkamen, andere Fahrer, die weder nach links noch nach rechts sahen, Autos, die plötzlich mitten auf der Straße stoppten, weil sie den Weg nicht wussten … alles war möglich. Selbst Ampeln konnte man nicht ernst nehmen. Der Straßenverkehr war von reinem Darwinismus getrieben. Es wurde gedrängelt, geschnitten, getäuscht. Geschwindigkeitsbegrenzungen galten als Folklore, die man aus dem Westen übernommen hatte, deren Sinn sich aber den meisten Autofahrern bislang nicht erschloss. Die faktische Regellosigkeit führte dazu, dass der Verkehr auf die Geschwindigkeit heruntergedimmt wurde, die den Fahrern noch halbwegs die Illusion gab, im Falle eines Falles reagieren zu können. Selbst das war noch viel zu schnell. Es knallte an jeder Ecke. Die Unfälle führten wiederum zu Staus unglaublichen Ausmaßes. Da jeder, dem Stau entkommen wollte, verkeilte sich der Verkehr endgültig. Jeder versuchte, mit Hupen den Stau aufzulösen. Dieser Wahnsinn vollzog sich Tag für Tag: brutal, laut und zeitfressend. Autofahren in Xiamen hatte mehr mit Arkade-Spielen, als mit dem Konzept von A nach B zu kommen, zu tun. Li hasste es, in China Auto zu fahren. In Deutschland war das anders. Es juckt ihm in den Fingern. Hier gab es Regeln, an die sich jeder hielt und die man schon gar nicht in Zweifel zog. Eins ergab sich aus dem anderen. Der Verkehr funktionierte wie ein fein justiertes Räderwerk einer Schweizer Uhr. Gemessen an Xiamener Verhältnissen gab es keine echten Störungen. Und wenn doch mal, dann war es den Deutschen wert, dass es im Radio erwähnt wurde. Li fand das rührend. Das Navigationssystem führte ihn durch den abendlichen Verkehr Richtung Autobahn. Ab Wittstock, das wusste er, hatte er die Autobahn fast für sich alleine. Dann kam der Moment, wo sich Li einen kindlichen Gefallen tat und den Audi bis an die maximale Geschwindigkeit beschleunigte. Er hatte mal seine Tochter in den USA besucht. Zusammen sind sie auf einer schnurgeraden Straße durch Nebraska gefahren. Kein Auto bis zum Horizont. Li drückte das Gas durch, doch der Mietwagen regelte bei 80 Meilen ab. Es war so deprimierend. Abgesehen von dieser kleinen Ausnahme, die er sich bei jedem Deutschlandaufenthalt genau einmal gestattete, fuhr Li eher unterhalb der zulässigen Geschwindigkeit. Die Sozialisierung im chinesischen Straßenverkehr kam immer wieder durch. Manchmal stoppte er abrupt, wenn ein Fußgänger forsch an die Ampel trat. Sehr zum Verdruss der Fahrzeuge hinter ihm. Die Hemmung, mit 50 Kilometern an einem Fußgänger, der offensichtlich auf die andere Straßenseite wollte, vorbeizufahren, war zu groß. Da nützte ihm auch das Wissen nichts, dass der ziemlich sicher auf Grün warten würde. Seine Programmierung sagte etwas anderes.

Ruins of St. Paul’s, façade originally of The Cathedral of St. Paul built in 1602.

Er erreichte das Hotel kurz vor Mitternacht. Wie befürchtet, war er kein bisschen müde, aber dafür hungrig. In Xiamen war es jetzt früher Morgen. Er bestellte sich eine Currywurst vom Duroc-Schwein und dazu ein Rostocker Pils beim Zimmerservice. Dann schaltete er den Fernseher ein und zappte sich durch die Programme. Nach ein paar Minuten gab er auf. In China gab es mehr Fernseh-Sender. Jede Stadt hatte eine handvoll eigener Stationen. Dazu kamen die dreißig staatlichen CCTV-Sender. Das Programm war schlecht. Billigste Produktionen aus China und nicht ganz so billige, aber genauso schlechte Produktionen, aus Taiwan und Korea dominierten das Nachtprogramm. Li hatte bei seinem Umzug nach Xiamen die Gelegenheit ergriffen und sich aus dem Fernsehzeitalter endgültig verabschiedet. Wenig überraschend, war das deutsche Nachtprogramm genauso mies. Er schaltete den Fernseher wieder ab, legte sich ins Bett und versuchte zu schlafen.

Der unbekannte Klingelton seines neuen Handys riss ihn aus dem Schlaf. Er brauchte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Wie es schien, hatte Li CiWen doch ein paar Stunden geschlafen. Der Digitalanzeige des Weckers auf dem Nachttisch zeigte 09:12 Uhr. Wenn er das bezahlte Frühstück mitnehmen wollte, dann müsste er sich beeilen. Li nahm das Gespräch an: „Wei?“
Es war eine Frau am Telefon. Sie sprach gutes Chinesisch, wenn auch mit einem unverkennbaren deutschen Dialekt.
„Hallo Li CiWen. Nun lernen wir uns doch mal kennen. Ich bin es Maren. Ein Freund hat mir deine Nummer heute Nacht per SMS gesendet. Er meinte, du bist in Rostock – richtig? Es gibt was zu besprechen – sagte er.“
Li CiWen war plötzlich hellwach: „Maren! Unglaublich. Ja, ich bin in Rostock, im Radisson. Wo bist du? Können wir uns treffen?“ Li Ciwen war aufgeregt. Ein Stück Geschichte hatte ihn eingeholt. Das euphorisierte ihn.
Die Stimme antwortete: „Ich bin auf der A20. In einer Stunde kann ich im Hotel sein. Ich ruf dich an, wenn ich da bin. Soweit erst mal. Bis gleich!“
„Bis gleich!“, sagte Li CiWen. Eine Stunde war knapp. Duschen, anziehen, frühstücken. Er hängte das Schild, Please Make Up My Room an den Knauf und fuhr mit dem Lift zum Frühstücken. Richtig genießen konnte er das Frühstück nicht. Li war zu aufgeregt. Das Handy lag neben ihm auf dem Tisch. Alle paar Sekunden berührte er eine Taste, um den Bildschirmschoner wegzudrücken. Nach dem Kaffee ging er in die Lobby. Er brauchte nicht lange zu warten. Nach zehn Minuten kam eine schlanke blonde Frau in den besten Jahren in die Lobby. Sie schaute sich aufmerksam um. Als sie ihn sah, nickte sie ihm zu und kam zu seinem Platz.
„Li CiWen, bist du das? Ich wollte dich gerade anrufen … Ich bin Maren Hinrichs.“

Bunker in Macau


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 March 17, 2022  n/a