Augen zu

Was macht große Kunst aus? Darf man Beuys einen Scharlatan nennen? Muss man Botticelli lieben? Mit Leidenschaft, Fachwissen und Witz entführen die beiden Gastgeber einmal im Monat ihre Zuhörerinnen und Zuhörer in die wunderbare Welt der Kunst. Jede Folge widmet sich einem Künstler oder einer Künstlerin, ihren biografischen Wendungen, ihren besten Werken, ihren seltsamsten Ansichten. Überraschende Telefonjoker bieten jeweils neue Einblicke. Und am Ende hat jeder – auch mit geschlossenen Augen – einen Kopf voller Bilder. Florian Illies schreibt, seit er denken und sehen kann, über Kunst. Er gründete nach seinem Kunstgeschichtsstudium das Magazin “Monopol” und war lange Jahre Leiter des Auktionshauses Villa Grisebach. Er ist Autor der Bücher “1913" und “Generation Golf” und Mitglied des Herausgeberrats der ZEIT. Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der ZEIT und ein leidenschaftlicher Kunstliebhaber. Dieser Podcast wird produziert von Pool Artists.

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Egon Schiele – der Mann, der sich selbst und die Welt durchschaute


Er war voll unbändiger Energie, voll Lust aufs Leben und voll Angst, er traute sich selbst nicht über den Weg und niemand anderem: Egon Schiele ist sicherlich eine der wichtigsten und schillerndsten Künstlerfiguren am Anfang unserer Moderne. Worin liegt seine Außergewöhnlichkeit, was machte er mit dem Bleistift und dem Pinsel sichtbar, was anderen verborgen blieb? Das diskutieren Florian Illies und Giovanni di Lorenzo in der neuesten Folge des Podcasts Augen zu.

Es war ein kurzes Leben, aber eines im Geschwindigkeitsrausch. Von 1890 bis 1918 lebte Egon Schiele nur – aber in den zwölf Lebensjahren, die ihm ab seinem Wechsel auf die Wiener Kunstakademie 1906 blieben, schuf er über 3.000 Werke auf Papier und über 300 Gemälde. Schiele war von einer ungeheuren Rastlosigkeit, er konnte nicht still sitzen, er zog Grimassen, wenn er sich selbst malte, verdrehte sich, als sei das Leben ein einziges Schleudertrauma. Erst als er 1911 Wally Neuzil im Atelier seines Förderers Gustav Klimt kennenlernt und sie zu ihm überwechselt, erst als Modell, dann als Geliebte, kommt eine gewisse Ruhe in seine furiose Kunst. Er lässt sich Zeit, ihren Körper nachzuzeichnen und er schaut auf sich selbst in seinen zahllosen Selbstbildnissen nicht immer nur mit den aufgerissenen Augen des Entsetzens.

Wien um 1900 – das war ein singulärer Zeitpunkt, an dem die Welt neu durchschaut wurde: Sigmund Freud blickte in die Seelen, Ludwig Wittgenstein ins Gehirn, Karl Kraus bis zu den Sprachwurzeln, Arthur Schnitzler in die Herzkammern, Georg Trakl hörte das Gras wachsen und Arnold Schönberg die Tonlagen der Zukunft. Und zwischen dem malenden Berserker Oskar Kokoschka und dem elegischen Frauenausschmücker Gustav Klimt betrat plötzlich dieser Egon Schiele die Bühne und entdeckte in seiner Kunst Mann und Frau neu als Körper. Die Zeitgenossen waren verschreckt von seiner Drastik und Sexualisierung – doch Schiele antwortete mit seiner Privatmythologie: "Auch das erotische Kunstwerk hat Heiligkeit". Wie blicken wir heute auf diese Darstellungen der Frau? Silke Hohmann, Kunstkritikerin des Magazins Monopol, äußert sich im Podcast zu der Frage, wie Schieles Zeichnungen und Gemälde innerhalb der Geschlechterdiskurse unserer Gegenwart bestehen können.

Mit Schiele wird die erotische Aktzeichnung zu einem autonomen Kunstwerk – und das Selbstbildnis zu einem Schlachtfeld, zu einem ewigen, zweifelnden "Ecce Homo". Aus den Ruinen des Subjekts baute er ein neues Weltbild und lehrte, dass Leben eben Lust und Leiden heißt – auch deshalb ist Egon Schieles Faszinationskraft bis heute ungebrochen. Es geht um tiefe Traurigkeit in seinem Werk, um Ernst und Würde – und er kann all das eben nicht nur in den Körpern finden, sondern auch in einem Buchenwald und in den Häuserlandschaften Böhmens, in die er sich zurückzog, um sich von sich selbst zu erholen. Er stirbt an der Spanischen Grippe, als der Erste Weltkrieg endete. Doch seinen Kampf für einen Platz im ewigen Kanon der Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts hat er gewonnen.

Lob, Kritik, Anmerkungen? Schreiben Sie uns gern an augenzu@zeit.de


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 July 6, 2022  45m