Entdecke das Trauma hinter der happy happy Magie
In dieser Folge beginnen wir unsere Wanderung am ehem. Flughafen Tempelhof und ziehen gen Norden durch die Hasenheide. Wir sprechen über den Disney-Film "Encanto" aus dem Jahr 2021 und entdecken den Horrorfilm hinter der Happy Happy Magie (vgl. The Stepford Wives, 1975). Das Trauma ist hier nicht Gründungsmythos von Superheld:innen, sondern die buchstäbliche Leiche im Keller, die transgenerational in der Familie Madrigal wirkt. Der Film erzählt von der Identität der Generation der Enkelkinder, beschreibt, wie der Großmutter ihre Kontrolle zunehmend entgleitet und die unbedarfte Protagonistin Mirabel Antworten auf die brennende Frage findet: "Was war damals 'eigentlich' los?" Auf der Reise durch den Film und Berlin reflektieren wir die biologischen, psychischen und kulturellen Mechanismen, die eine "transgenerationale Weitergabe von Traumata" plausibel machen.
Shownotes
Am Ende der Folge ist unser Pitch für den Film Encanto folgender:
Der Drei-Generationen-Haushalt wird von der Großmutter und einer Kerze zusammengehalten. Die Kerze, wie wir erfahren, ist das Substrat des Großvaters, der als junger Mann auf der Flucht vor den Augen seiner Frau umgebracht wurde. Deren gemeinsame drei Kinder sind psychisch gestört und bilden das Tryptichon von Neurose, Borderline und Psychose.
Alle in der Familie, auch die Enkelkinder, sind von Magie „beseelt“ und regulieren so die familiären Spannungen durch fassadäre Hilfsbereitschaft und Altruismus.
Nur Mirabel, die zweitjüngste, hat keine magischen Kräfte oder Fähigkeiten. Dass sie ganz normal ist, macht sie in der Familie Madrigal zum schwarzen Schaf bzw. der Grenzperson zwischen den Welten. Durch diese Rolle ist sie die einzige, die sich der Familiengeschichte zu stellen vermag.
Während Mirabel anfangs glaubt die Familie zu retten, indem sie versucht die Magie zu retten, zeigt sich schnell, dass mit dem fortschreitenden analytischen Aufdecken von Ursachen die Magie schließlich vollends erlischt. Erst jetzt wird das Trauma erkannt, angesprochen und bearbeitet. Die Familie Madrigal kann ihr Haus wieder aufbauen.
Betrachtet man das Ende des Films Encanto vor dem Hintergrund von Psychopathologie und psychischer Gesundheit, dann wäre es ein Behandlungserfolg, wenn in der dritten Generation nach dem Familientrauma die ‚Heldin‘ Mirabel die Leistungsbezogenheit, die die Familie bestimmt, ablegen könnte. Denn diese Leistungsbezogenheit dient als Kompensation des Defizits (Großvater fehlt als Gründer) und Abwehr des Schmerzes, den der Verlust ausgelöst hat. Der Großvater hat eine Leerstelle hinterlassen, die durch die Familie mit Superkräften ausgefüllt wird.
Die große Abhängigkeit von Anderen (der Dorfgemeinschaft) und der Abtretung eigener Wünsche durch Hilfsbereitschaft (Altruismus) hat Mirabel ja gewissermaßen schon zu Beginn des Films überwunden — gerade weil sie völlig ohne Superkräfte ihr Leben lebt. Doch muss Mirabel ihre Heldenreise antreten, die im Film festgehalten ist, und auf dieser Reise stellvertretend für die Familie, besonders ihre Großmutter, das Trauma durcharbeiten. Als Folge bricht erst einmal alles zusammen, um danach entspannt und reifer, realitätsbezogener und in der Familienidentität gestärkt neu zu entstehen.
Das ist das Happy End vor dem Hintergrund von Psychopathologie und psychischer Gesundheit. Vor diesem Hintergrund ist die Magie, die wieder in die Lebensrealität durchbricht ein wirklicher Horror, nicht unähnlich dem Horror, den die Zuschauer:innen in „Shutter Island“ (Scorcese, 2010) durch den dramatischen Wechsel des Bezugsrahmens zum Ende des Films erleben.