Track17 - Der Musikpodcast

Die besten aktuellen Platten, Features über alles zum Thema Musik, Interviews und eine Playlist mit den besten neuen Songs on top. Christopher Hunold spricht in den Reviews mit Melanie Loeper und in den Features mit Gäst*innen über das, was auf den Plattenteller gehört oder was die Musikwelt oder uns gerade bewegt. Denn: Wer ist in den Stunden der größten Niederlagen dabei? Wer hört zu, wenn sonst niemand da ist? Wer sorgt für die großen wie kleinen Momente? Eben. Nur Musik. Und genau darüber muss gesprochen werden. In Track17 treffen wir uns regelmäßig, um als helfende Hand im Release-Dschungel Empfehlungen zu geben, präsentieren Interviews oder sprechen mit Gäst*innen in Features über alles, was die Musikwelt hergibt. Auf der Playlist "Track17 - Playlist zum Podcast" gibt's die 17 Songs des Monats direkt zum Nachhören dazu. Ob Labelliebling, Outsider-Zeug, zufällige Plattenladen-Eroberung oder König des YouTube-Algorithmus. Track 17 – der Musik-Podcast Regelmäßig ergänzte Spotify-Playlist mit Songs aus den Folgen: spoti.fi/2G5xdUG

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episode 73: Shorts 09 | Haldern Pop Festival 2022 - Ein Bericht


von Christopher Hunold

Wir trotten Samstag aus dem kleinen Tonstudio Haldern, im Ohr noch immer die soeben dort gehörte in kleinem Kreis performte viertelstündige Improvisation, in der Black Country, New Road und das Orchester-Kollektiv stargaze sich mit 15 Instrumenten, doppelt so vielen Ideen und noch mehr Talent dabei übertrafen, mich von einem verschwitzen Tränenmoment in den nächsten zu katapultieren. Während ich versuche zu verarbeiten, was da gerade passiert ist, sehe ich zwei Leute in einem Zelt sitzen. Sie prosten sich zu, reden irgendetwas, die Blicke sind unter den Sonnenbrillen nicht erkennbar. Sie werden nie erfahren, was sie wenige Meter von ihnen verpasst haben und vielleicht nur 30 Leute erleben durften und weder wiederholt werden wird noch aufgezeichnet wurde. Die Beine schwach, das Herz rast, Gefühle überall, ich auch… Ob ich das „uff“ gerade denke, ausspreche oder seufze, bemerke ich gar nicht.

Es war das beste Haltern aller Zeiten (Platz 2: 2019, Platz 3: 2011)

Was soll ich sagen. Black Country, New Road, black midi, Squid auf einem Festival. Dazu Famous, Wu-Lu, Ghum, Nilüfer Yanya, Sons of Kemet, Dry Cleaning undundund. Ein Line-Up, das hier in diesem kleinen Pop-Dorf noch nie so gut sein durfte, trotz der vielen guten Jahre, die hinter dem Festival liegen. Was ich dem Festival und der Planung anrechnen muss, ist dass sie mehr Risiken eingehen und nach einigen mittelmäßigen Jahren (zwischen 2013 und 2019 war das Line-Up insgesamt viel schlechter mit all ihren typischen folky Klampfmännern, den offensichtlichen WIederkehrern und wenigen neuen, spannenden Künstler:innen - trotz der selbstredend immer wieder gestreuten Highlights) eine Verjüngung anstreben, das Festival nicht mit dem Publikum altern lassen und das abgesagte 20er-Haldern zumindest in Teilen rekonstruieren konnten. Der Plan ist frühzeitig erstellt, wenn er das nicht schon für sich alleine erledigen muss.

HALDERN 2022 DONNERSTAG, 11.08.22

Das Dorf, es glüht, man winkt der Sonne zu, die als ungebetener Gast mit nichts außer einer gut eingestellten Uhr in den Abendstunden zu vertreiben sein wird. Bis dahin wird nach ein paar Songs der nicht so spannenden Emilie Zoe die Kirche aufgesucht, wenn auch nur von außen, weil das noch mitgeschleppte Gepäck einen Eintritt verhindert. Keine Kühlung, keine Musik. Wobei. Das stimmt nicht, Etaoin ist auch von den Stufen der Kirchenrückseite zu vernehmen, auf denen wir sitzen. Während Grashalme das bisschen Wind in Empfang nehmen, das sich hierhin verirrt hat, hallt es durch die Schlitze der dicken Tore, die als Rückenlehne herhalten müssen. Schöne Stimmung und das erste Corny lässt sich dabei gut verspeisen. Es ist ein bisschen Schokolade drauf, die Idee war nicht so gut, aber in Ermangelung negativer Erfahrungen an diesem Wochenende kann diese guten Gewissens die Öffentlichkeit erreichen.

Zurück auf dem Marktplatz. Dort steht das einzige Überbleibsel des Wander-Halderns 2021, über dies schrieb und sprach ich letztes Jahr ja ausführlich. Dort treten Husten auf und während ich nun überlege, ob es die Mühe wert ist, über einen Spruch nachzudenken, der eine Verbindung vom Klang eines Husters zur tatsächlichen Musik der Band herstellt, die hier in Uniform stehend Musik macht für die ich nie alt genug sein werde, bin ich in Gedanken bereits bei der traditionell jedes Jahr verspeisten und seit elf Jahren zuverlässig guten Pizza im Dorf. Mit etwas Verspätung ist dann auch der Gaumen soweit und mit einem seit 2011 lächerlich gering ausfallendem Preisanstieg von mickrigen 5,50 € auf 6 € kann auch hier nur von einem Erfolg gesprochen werden.

Der Weg auf das Gelände wird von einem gewohnt nachbarschaftlichen Spirit begleitet. Dieses „man hilft sich“, aber als Mood, aber als aufgestellte DIY-Dusche am Wegesrand, durch die man schnell durchrennt, das hgilt auch für den Rasensprenger und, der da einfach steht und darauf wartet, mit einem flotten Gang durchlaufen zu werden. Fresh. Unten auf dem Gelände ist alles für Yard Act angerichtet, die aber gecancelt haben, was der Physics House Band im Spiegelzelt die Möglichkeit gibt, diesen mit Spiegeln, üppigen Toren und einem selbst im Neuzustand gefühlt klebrigen Holzboden ausgestatteten Highlight-Ort jedes Halderns schon Nachmittags ihren größtenteils instrumentalen und sich überschlagenden Math-Rock unterzujubeln, bei dem Gitarren, Saxofone und Drums einen Tanz choreografieren, der in den meisten Staaten verboten scheint.

Rüber zur Hauptbühne, wo Supertyp Wu-Lu seine minimalst aufgestellte Band unter der gleißenden Sonne parkt, welche keinen Zentimeter Schatten für das Publikum bereitstellen will, was der allgemeinen Festival-Laune hätte schaden können, ich aber nicht bemerke, weil die Hände sich am Frontrow-Gitter bereits dezent verbrennen, während ich diesen von mir sehr geschätzten Post-Punk-Rap-Grime-Bass-Mix mit tanzgleichen Bewegungen belohne. Was auf Platte für Verwirrung stiften kann, wird auf der Bühne sauber aufgeteilt. Die hard hitting Songs dürfen beginnen, der von nicht mehr als den Drums begleitete Rap-Part nimmt den zweiten Teil ein. Wunderbar.

Crace Cummings zeigt sich auf der Leinwand, während Buntspecht zurecht ignoriert werden, schließlich muss die Getränkezufuhr gesichert werden und der nächste Energielieferant in Form einer überteuerten Mini-Portion von einer der etlichen Foodbuden muss geordert werden.

Dann aber ist es Zeit für SONS OF KEMET, eines der großen Highlights dieses ersten Tages. Der eingeleitete Sonnenuntergang fungiert als Intro für dieses einstündige, irrsinnige Schauspiel, bei dem allen voran Shabaka Hutchings, den wir in Track17 ja noch vorige Woche mit seinem neuen Solo-Album besprochen haben mit einer pausenlosen Performance Kinnladen mit dem staubigen Boden bekanntmacht. Tenorsaxofon, Flöte, zwei Drums, eine gigantische Tuba und k e i n e p a u s e. Sie spielen sich musikalische Bälle zu, die sie mit einer Luft aufpumpen, die sie irgendwo finden, wo auch immer, ich weiß es nicht. Airdrumming intensifies. Unbedingt anschauen.

Für Nilüfer Yanya darf man direkt stehenbleiben. Ihre Performance ist naturgemäß reduzierter, die Texte dürfen sich nach ganz vorne stellen und das trockene on-point-Spiel ihrer Band drückt auch hier alle richtigen Knöpfe. Vor vier Jahren spielte sie noch in der kleinen Turnhalle. Jetzt sind die Songs nicht einmal so groß, dass sie eine Hauptbühne brauchen, es ist aber maximal angemessen, dass sie das entsprechende Publikum serviert bekommt.

Für die New Yorker Punk- und Garagenrock-Verwalter GEESE geht’s zurück in das in Schweiß getränkte Spiegelzelt. Wobei, eigentlich geht es für Dry Cleaning ins Zelt und eigentlich will ich nur möglichst wenig Beatsteaks mitbekommen. Klappt alles, denn ja, das Haldern bleibt von der komplizierten Festivalsituation und der coronabedingten Müdigkeiten in all things Großveranstaltung nicht unberührt. Es werden nur etwas mehr als 5.500 der insgesamt 7.000 Tickets verkauft, was mich insgesamt betrübt, aber immerhin dafür sorgt, dass der Weg ins Zelt ein bisschen schneller verläuft. Any,way. Gesse. Das ist so ein Fall von „gewinnt durch Festival“, denn eine spektakuläre neuasrichtung von Gitarrenmusik sucht man hier vergeblich, dafür sind meine Briten zuständig. Die New Yorker Luft weht jede Menge Strokes-Staub auf ihre Songs. Alles fein. Kann man machen.

Jetzt aber wird’s wichtig. Erste Reihe. 2 Uhr nachts. Dry Cleaning. Ich mag ihren sprechbesingten, funky deadpan-indie SEHR, dass sich dieser aber live so spektakulär übertragen lassen sollte, hat mir vorher niemand gesagt. Gefragt habe ich zwar auch nicht, aber was für eine wenig befriedigende Ausrede ist das denn. Während Sprecherin Florence Shaw ihre Gesichtsmuskeln vor dem Mikrofon trainiert und Dinge mit Blicken bewirft, die nicht existieren, versuche ich tanzend drei Begriffe zu finden, die zu diesem Schauspiel passen. Haunted, Disgusted, Confused. Eh ein guter Album-Name, aber treffend für ihre Performance. Kassetten werden über ein kleines Gerät abgespielt, das sie regelmäßig in den Händen hält, als sei es die Antwort auf alle Fragen dieser und jeder unentdeckter Welt und ich vermute, die Kassetten, sie bewirken etwas, wenngleich ich es nicht höre. Dry Cleaning gibt sich hier als wahnsinnig unterhaltsame Showband, was keine je veröffentlichte Platte wirklich vermuten ließ, aber weil der wild gestikulierende und die Bühne abhüpfende Gitarrist immer wieder auffordernde, motivierende und gelegentlich angsteinflößende Blicke in die Menge spuckt, während der Bassist seine wallende Mähne vor dem kleinen Ventilator platziert, der längst aufgegeben hat, etwas an den Luftverhältnissen dieses aufgeheizten Zeltes zu ändern, sondern den Anschein erweckt, nur dafür gebaut worden zu sein, eine zarte Rockpose um kurz nach halb 3 zu ermöglichen, steckt in dieser Nacht noch einmal ein riesiges Highlight. Neues Album. Gib.

FREITAG , 12.08.2022

Für die sogenannten „lulz“ sollten die auf den ersten Blick fehlplatzierten Diskussionsrunden rund um das Kulturleben im kleinen Rahmen aufgesucht und mit ungefragten Meinungsbeiträgen begossen werden, aber wie denn bitte soll das funktionieren, wenn der Wecker klingelt, bevor er eigentlich korrekt gestellt werden kann. Während also die Sonne Überstunden schiebt um dem Thermometer einen Motivationspush für unangemessene 30+-Temperaturen zu verpassen, wird zum ersten Mal seit Jahren wieder der See aufgesucht. Erwähnenswert ist an diesem Spaziergang aber das anliegende Reitercasino, schließlich warten nebenan mehrere Pferde darauf besucht zu werden und ein licht dicklicher Labrador sieht es als seine Hauptbeschäftigung an, ebenfalls Berührungen abzustauben und platziert sich im optimalen Winkel zu den Streichelnden. Ich hoffe, es geht ihm gut. Er hat alles richtig gemacht.

Festivals, die in Corona-Jahren stattfinden sind jederzeit von Absagen betroffen und neben der alles überstrahlenden Vorfreude stand aber zuletzt auch immer so ein bisschen die Angst vor Absagen der Künstler:innen der hauseigenen Prio-Listen. Glücklicherweise trifft mich keine erfolgte Cancellation, sorgt aber für dezente Umstrukturierungen des Tagesplans.

So steigt das erste wichtige Konzert wieder erst um 5, wieder im Spiegelzelt. GHUM sind dran. Ein feiner Geheimtipp, den ich seit einiger Zeit mit mir herumtrage, vereint er die von Farben befreite, angespitze Post-Punk-Musik der vier jungen Frauen mit einer Freude am stilsicheren Zertanzen der Welt um sich herum. Diese, es bleibt auch an Tag 2 recht auffällig, wird im gerade im Spiegelzelt wieder aus zum Schneiden dicker Luft bestehen, gegen die man bei jeder Bewegung stößt. Die gefühlten 50 Grad umarmen mich jede Sekunde ein bisschen fester und auch die Crowdwork von Sängerin Lora bedient sich den an diesem Wochenende beliebten „let's sweet together“-isms. Toller Auftritt. Tolle Band.

Rüber zur Hauptbühne. Friedberg kümmern sich um drei Buchstaben, streng genommen zwei, aber einer davon erscheint doppelt in der Auflistung. Pop. Gitarren-Pop. In unspektakulär. In gut. Heiß wird es sowieso, vielleicht ist es ja ganz okay, dass die Musik eine Nummer entspannter operiert. Zu hören waren sie für mich sonst immer nur dann, wenn ich in den Menüs eines der letzten FIFA-Spiele herumgeisterte, dass sie mehr können, ist erfreulich. Und Musik, die sich mit Kuhglocken anfreundet, freundet sich auch mit mir an. Vor dem Spiegelzelt freunden wir uns mit dem Gedanken an die heiße Draußenluft der sehr sehr heißen Drinnenluft vorzuziehen, um Gustaf zu sehen, die sich von Anfang an auf der must-see-Liste breit gemacht haben und mit ihrem rumpelnden, glamy Art-Rock genau die Show abziehen, die einem späten Nachmittag angemessen sind, bei dem es darum geht sich möglichst viel zu bewegen, um der Illusion zu erliegen, der Schweiß käme durchs Tanzen und nicht durch die noch immer alles dominierende Hitze.

So langsam ist die Uhr im Kopf auf Nacht gestellt, denn schließlich sollen Squid und black midi in wenigen Stunden mit minimalem Abstand kurz hintereinander spielen. Also geht’s nach ein bisschen Shame und gestärkt zurück ins Zelt, Gilla Band warten und ich vergesse immer wieder, wie gut die eigentlich sind und was mich persönlich extrem hypen soll ist die Tatsache, dass sie ihr ohnehin hervorragendes Set mit ihrem umwerfenden Cover von Blawans 2012er-Bass/Techno-Stampfer „Why They Hide Their Bodies Under My Garage“ beenden.

Die Stunde Pause in Reihe 1 wird überwunden, denn der Soundcheck einer Band wie Squid ist unterhaltsamer als der eigentliche Auftritt vieler Bands. Drums also in die Mitte, die Band drumherum und auch wenn „The Cleaner“ nur angeteast wird, serviert mir diese Lieblingsband hier gleich zwei neue Songs und so gut wie alles, was ich vom aktuellen Album je hätte hören wollen. Mit dem Rücken zum Publikum gespielte Drum-Solos, der schon auf Platte crazy klingende Mix ihres dronigen Synths und der jahrhundertealten Instrumente, die sie damit steuern und überall diese donnernden, funky Rhythmen und somit eine Show, die sich bequem auf dem Treppchen des Wochenendes bequem machen kann. Nachdem ich gleich 2x eine ihrer Shows verpasst habe, gibt es keinen besserem Rahmen dafür. Draußen ist es dunkel, im Spiegelzelt strahlen unterschiedlichste Farben und Lichter auf Bühne und Publikum und ich springe, tanze, singe, verzichte darauf mich zu kneifen, den Job erledigen die Ellenbogen und Hände um mich herum. Squid rules. Schaut Squid. Hört Squid.

Ob ich für Seratones jetzt im Zelt bleiben muss, um meinen black-midi-Platz hier vorne nicht zu verlieren? Als Mann des Risikos geht’s wieder raus, wie setzen uns vor die Leinwand, essen was, genießen die gute Luft, die sich aus Angst vor der Sonne tagsüber verkriecht und ich beschließe so kurz vor Schluss wieder reinzugehen, wird schon klappte. Und es klappte.

Das dritte black-midi-Konzert war sicher nicht ihr Bestes, noch vor wenigen Monaten in Köln hatte ich sicherlich noch etwas mehr Grund zur Freude ob der Darbietung dieser überkandidelten Las-vegas-Showtunes im Post-Punk, Prog und Art-Rock-Gewand und auch ihr erster Haldern-Gig 2019 hat nicht nur wegen der dort getragenen Cowboy-Hüte eine extra Portion Klasse kassiert. Ob der während des Soundchecks performte Schlagabtausch wirklich ernstgemeinte Drohungen des vorzeitigen Abbruchs beinhaltet oder zur Show gehört, wird mir nicht ganz klar, aber was wirklich wichtig ist: Ich stehe direkt vor Drummer Simpson und ergebe mich diesem unfassbaren, unmenschlichen Spiel. Wie er es schafft, immer wieder aus den Songs auszusteigen, wieder reinzukommen und dabei die anderen Bandmitglieder mitzunehmen, das Tempo vorgibt und all diese irrsinnigen Elemente der umso wahnsinnigeren Songs einzufangen, ist nie nicht beeindruckend, auch wenn die Saxofone fehlen. Bonus: Zwei Songs des vierten Albums wurden gespielt. Man muss den Humor bewundern.

SAMSTAG, 13.08.2022

Wir sitzen auf einer verlassenen Bierbank im Schatten hinter der Kirche, die offenen Bäckerstüten enthüllen Mini-Schweineohren und ein matschiges Käsebrötchen. Wichtiger ist aber was die Festival-App enthüllt. Der noch freie Slot am Abend im Tonstudio, dieses winzige, aber beeindruckende kleine Nicht-Venue am Rande des Campinggeländes, er geht an Black Country, New Road, die gemeinsam mit stargaze, dem Orchester-Kollektiv, spielen sollen. Ich muss das sehen. Kein Weg führt daran vorbei und im gleichen Atemzug muss ich mich bei Parquet Courts entschuldigen, die ich dafür sausen lassen muss.

Aber wir springen nochmal drei Stunden zurück. Der Samstag führt erstmals in die Pop-Bar, spielt hier nämlich mit Famous eine weitere der absoluten Prio-Bands für mich. Famous haben einen so uniquen Style im Gepäck. Immer ein bisschen episch, immer ein bisschen traurig, immer ein bisschen gemurmelte oder gebrüllte Lyrics, die sich in die sphärischen Synths einbetten, die vom Band kommend die scharfen Gitarren und die schnellen Drums unterstützen sollen. Ich liebe beide EPs und empfand im Vorfeld die Versetzung in die winzige Bar, die ein paar dutzend Personen fasst, als Schnapsidee, zumal 12 Uhr als Startzeitpunkt nach der letzten Nacht mit black midi in meinem fortgeschrittenen Alter dafür sorgt, dass wirklich die letzten Kräfte mobilisiert werden müssen, um klarzukommen. Wir stehen fast mit auf der Bühne, der Gitarrist stellt sich vielleicht drei Zentimeter vor uns auf, die Stimmung ist fantastisch. Die Musik eh. Für den letzten Song verabschiedet sich die Band, nur der Sänger sitzt wenige Meter entfernt am Piano, das sich in der Ecke hinter der Bühne befindet, auf die jetzt alle klettern, um noch etwas zu sehen. Hört. Diese. Band.

Zwei Stunden später geht es schon wieder in die Bar, The Lounge Society stehen an. Ein bisschen eine der Zweite-Reihe-Bands der ganzen Speedy-Wunderground-Artists, aber immerhin eine Pflicht-7“ können sie sich auf die Fahne schreiben, die hier nicht weht, weil bei den 50 Grad in der Bar überhaupt kein Lüftchen wehen darf. Heiße Sache, gute Musik. Das Album kommt nächste Woche.

Ein letztes Mal runter auf das Gelände, im Hinterkopf die letzten beiden großen Aufgaben des Wochenendes. Wir hören noch ein bisschen Horse Lords, diese instrumentalen Gitarren-Frickler, die vor zwei Jahren ein ganz und gar empfehlenswertes Album entstehen ließen. Danach wird weiter herzhaft gegen die Dehydrierung gekämpft, alles aber kaum der Rede wert, auch kulinarisch will keine Revolution ausgerufen werden, aber die Return of Handbrot gilt es natürlich dennoch zu bejubeln.

Irendwann stehe ich dann bei Anais Mitchel vorne und finde das alles eher anmaßend langweilig, wohl wissend, dass ich mir einbilde bereits hier stehen zu müssen, weil nach diesen restlichen 20 Minuten Konzert ganze 60 Minuten Wartezeit in der Sonne warten, bevor Black Country, New Road endlich dran sind.

Es ist ja so, ich habe mir in den letzten paar Monaten bewusst keinen Schnipsel der bisherigen Auftritte dieser dritten Band-Version angehört, wenngleich diverse Bootlegs und Videos auf der Festplatte auf mich warten. Es git nur eine Möglichkeit diese komplett neuen Songs zum ersten Mal zu hören und das muss live sein und das darf ich mir nicht nehmen lassen und sollte genau jetzt um kurz vor sechs auch passieren.

Sie teilen sich ab jetzt die Songwriting-Duties, jede* r bringt ihre/seine Songs mit und entsprechend viele Überraschungen hat es gegeben. Direkt der erste Song ist eine Power-Ode an sich selbst. „Look at what we made together / BCNR friends forever“. Ständig frage ich mich „Was kommt denn jetzt noch?“ und dann kommt etwas, mit dem ich nicht rechnen kann und dann war es einfach nur umwerfend. Kennt ihr das, wenn man so anfangen muss zu lachen, weil man völlig überfordert ist, von dem, was einen manchmal so überrennt an Musik? Es war genau das. 45 min lang. Diese mir liebste und beste Band der Welt geht einen nochmal anderen Weg, natürlich auch weil sie muss, aber auch weil sie kann. Dass hier vier Stimmen und vier Arten Songs zu schreiben zusammenkommen, könnte bei einer schwächeren Band für zielloses herumgurken sorgen, nicht aber hier. Favourites: „Up Song“, „Turbines/Pig“.

Auf dem Weg zum Tonstudio regiert die Vorfreude, aber auch die Ungewissheit. Stehen da jetzt schon Leute? Wie wird das? Was zur Hölle haben sie vor? Ein bisschen Zeit haben wir noch, man sieht den Studiohund die Gegend erkunden und gelegentlich einen unmotivierten Beller ablassen. Man kommt ins Gespräch. Andere kommen aus der Schweiz angefahren, dagegen wirken unsere 2 Stunden mit dem Zug eher entspannt. Grüße an der Stelle übrigens an Gabriel, der für dieses Festival extra aus Brasilien angeflogen kam. Irgendwann öffnet sich die Tür, wir stolpern in das Tonstudio, den Aufnahmeraum, genau genommen, den ich zuletzt 2013 aufgesucht habe. Er ist winzig, vor uns sitzen die neun Mitglieder von stargaze mit ihren Streichern, Bläsern und allem, was sie zu bieten haben. Vor ihnen aufgstellt: Black Country, New Road an ihren Instrumenten. Wir bekommen eine kleine Einleitung. Vor zwei Tagen haben stargaze ein paar der neuen Songs bekommen, sie wollen jetzt gemeinsam an ihnen arbeiten, verschiedene Versionen ausprobieren, improvisieren und aufnehmen, ein Workshop.

Stargazehaben 2020 bereits mit BC,NR in der Kirche performt und sowohl für „Athens, France“ als auch für „Sunglasses“ sehr gute Arbeit geleistet und die Songs um Elemente erweitert, die ihnen gut stehen. Die neuen Songs, allen voran das in gleich mehreren Varianten aufgenommene „Turnine“Pig“ von Pianistin May gewinnt durch die gefühlt Tausend Ideen, die hier ausprobiert werden, während ich fast mitten im Raum stehe, neben und hinter mir vielleicht 30 Glückliche, die ebenfalls reingekommen sind.

Zu sehen wie sich hier 15 Leute Ideen zuwerfen, an einzelnen Passagen arbeiten, verschiedene Versionen des gleichen Songs aufbauen („yeah lets do a g sharp“, „wait, Charlie do you See it when i go woomp“, „why dont you come in with the flute at this point“ etc etc) und ein langes Stück improvisieren und alle einfach so gut darin sind mit ihren Instrumenten in diesem kleinen, akustisch herausragenden Raum was zu erschaffen und Momente zu ermöglichen, die kein Konzertticket selbst ermöglichen könnte, ist enorm. Für so was holt man sich kein Ticket. So was passiert. Diese sprachlose Form von Überwältigung, die mich auf dem Rückweg zum Gelände begleitet. Wir sind wieder beim ersten Absatz des Textes angelangt.

„Wir trotten Samstag aus dem kleinen Tonstudio Haldern, im Ohr noch immer die soeben dort gehörte in kleinem Kreis performte viertelstündige Improvisation, in der Black Country, New Road und das Orchester-Kollektiv stargaze sich mit 15 Instrumenten, doppelt so vielen Ideen und noch mehr Talent dabei übertrafen, mich von einem verschwitzen Tränenmoment in den nächsten zu katapultieren. Während ich versuche zu verarbeiten, was da gerade passiert ist, sehe ich zwei Leute in einem Zelt sitzen. Sie prosten sich zu, reden irgendetwas, die Blicke sind unter den Sonnenbrillen nicht erkennbar. Sie werden nie erfahren, was sie wenige Meter von ihnen verpasst haben und vielleicht nur 30 Leute erleben durften und weder wiederholt werden wird noch aufgezeichnet wurde. Die Beine schwach, das Herz rast, Gefühle überall, ich auch… Ob ich das „uff“ gerade denke, ausspreche oder seufze, bemerke ich gar nicht„

Alles, was danach passiert spielt keine Rolle mehr. Wir beschließen, dass die morgige Rückreise und die bislang erbärmlichen 3 Stunden Schlaf pro Nacht ein Upgrade verdienen und lassen Wet Leg aus, auch die 2019 hier kennengelernten und live beeindruckenden Cobocobra Quartet werden stehengelassen. Badbadnotgood werden gesehen, gehört, aber kaum erlebt. Der Kopf ist immer noch ganz woanders. Der Spoken-Word-Post-Punk-Rave-Stmp der immer guten Sinead O'Brien wird vor dem Spiegelzelt geschaut. Live noch bedeutend abwechslungsreicher als auf Platte erklingt ihre Musik über das ganze Feld. Nur ein Drumkit und eine Gitarre machen mit, aber es reicht. Ihr Album darf man gehört haben.

Wir schauen noch einmal bei Kae Tempest vorbei, machen eine letzte lange Runde und dann ist es das gewesen. Besser ging es nicht. So gut wie alles hat funktioniert. Ich habe alles gesehen, was ich sehen wollte, wurde überrascht, begeistert und musste dafür nur drei Tage durchschwitzen. Auf dem Niveau darf das Festival weitermachen. Gerne auch wieder mit mehr anderen Menschen. Best friends forever, Haldern.


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 August 22, 2022  21m