Lesung - Klassiker, Philosophie, Gedichte | Gelesen von Elisa Demonki

Elisa Demonki liest Klassiker, alte philosophische Werke und Gedichte."Das Wort sei die Macht in deinem Ohr, dein Gefühl zu akzeptieren und neu zu erleben."Lesungen: Philosophie, Literatur, Klassiker, Gedichte von Goethe, Heine, Nietzsche, Georg Trakl, Schiller…

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(13) Friedrich Nietzsche »Zarathustra« 1.Teil Nr.2


»Ja, ich erkenne Zarathustra. Rein ist sein Auge, und an seinem Munde birgt sich kein Ekel. Geht er nicht daher wie ein Tänzer? Verwandelt ist Zarathustra, zum Kind ward Zarathustra, ein Erwachter ist Zarathustra: was willst du nun bei den Schlafenden? Wie im Meere lebtest du in der Einsamkeit, und das Meer trug dich. Wehe, du willst an’s Land steigen? Wehe, du willst deinen Leib wieder selber schleppen?« Zarathustra antwortete: »Ich liebe die Menschen.« »Warum«, sagte der Heilige, »ging ich doch in den Wald und die Einöde? War es nicht, weil ich die Menschen allzu sehr liebte? Jetzt liebe ich Gott: die Menschen liebe ich nicht. Der Mensch ist mir eine zu unvollkommene Sache. Liebe zum Menschen würde mich umbringen.“ Zarathustra antwortete: »Was sprach ich von Liebe! Ich bringe den Menschen ein Geschenk.« »Gib ihnen Nichts«, sagte der Heilige. »Nimm ihnen lieber etwas ab und trage es mit ihnen – das wird ihnen am wohlsten tun: wenn er dir nur wohltut! Und willst du ihnen geben, so gib nicht mehr, als ein Almosen, und lass sie noch darum betteln!« »Nein«, antwortete Zarathustra, »ich geb kein Almosen. Dazu bin ich nicht arm genug.« Der Heilige lachte über Zarathustra und sprach also: »So sieh zu, dass sie deine Schätze annehmen! Sie sind mißtrauisch gegen die Einsiedler und glauben nicht, daß wir kommen, um zu schenken. Unsre Schritte klingen ihnen zu einsam durch die Gassen. Und wie wenn sie Nachts in ihren Betten einen Mann gehen hören, lange bevor die Sonne aufsteht, so fragen sie sich wohl: wohin will der Dieb? Gehe nicht zu den Menschen und bleibe im Walde! Gehe lieber noch zu den Tieren! Warum willst du nicht sein, wie ich, – ein Bär unter Bären, ein Vogel unter Vögeln?« »Und was macht der Heilige im Walde?« fragte Zarathustra. Der Heilige antwortete: »Ich mache Lieder und singe sie, und wenn ich Lieder mache, lache, weine und brumme ich: also lobe ich Gott. Mit Singen, Weinen, Lachen und Brummen lobe ich den Gott, der mein Gott ist. Doch was bringst du uns zum Geschenke?« Als Zarathustra diese Worte gehört hatte, grüsste er den Heiligen und sprach: »Was hätte ich euch zu geben! Aber lasst mich schnell davon, dass ich euch Nichts nehme!« – Und so trennten sie sich von einander, der Greis und der Mann, lachend, gleichwie zwei Knaben lachen. Als Zarathustra aber allein war, sprach er also zu seinem Herzen: »Sollte es denn möglich sein! Dieser alte Heilige hat in seinem Walde noch Nichts davon gehört, dass Gott tot ist!«


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 September 26, 2006  3m