Gerichtsreporter Morling im Kriminalgericht Moabit

Seit über 25 Jahren berichtet Gerichtsreporter Ulf Morling aus dem Kriminalgericht. Er erlebt die Tragödien, die sich täglich dort abspielen und kennt die Menschen, deren Schicksale im Gerichtssaal entschieden werden. Er berichtet authentisch, was er sieht in anfangs mindestens monatlichen Podcasts. Er spricht mit denen, die nie vergessen werden, was man ihnen antat und jenen, die in Moabit arbeiten und richten.

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episode 27: "Letzte Generation": "Wo Politik nach Strafrecht ruft, endet ein Diskurs"


Renommierter Strafrechtler und Sachverständiger Stefan Conen über den Umgang mit den Klimaaktivisten

Die Bundesregierung nennt es "Generationenvertrag für das Klima" Homepage Bundesregierung 07.11.2022 Mit der Änderung des Klimaschutzgesetzes (nach dem zwingenden Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom März 2021) Beschluss Bundesverfassungsgericht vom 24. März 2021 habe die Bundesregierung die Klimaschutzvorgaben verschärft und das Ziel der Treibhausgasneutralität bis 2045 verankert. Bereits bis 2030 sollen die Emissionen um 65 Prozent gegenüber 1990 sinken.

Reichen diese Vorhaben aus, um die Klimaziele einzuhalten und die Klimakatastrophe zu verhindern? U.a. am 12.Juni 2023 legten Rechtsanwälte der Partnerschaft Günther in Hamburg für die "Agora Verkehrswende und Agora Energiewende" unter Mitarbeit einer Mitarbeiterin der Agora Energiewende ein Gutachten vor zur Reform des Bundes-Klimaschutzgesetzes. Gutachten Rechtsanwälte Günther/ Agora Energiewende

Jurist, Strafrechtsexperte, Strafverteidiger und Sachverständiger Stefan Conen kritisiert im Interview mit Gerichtsreporter Morling einige Aspekte, die die Proteste/ Aktionen gegen die Klimakatastrophe betreffen: eine möglicherweise demokratiegefährendende Funkionalisierung der Justiz durch die Politik, so auch die mögliche Anwendung des § 129 Strafgesetzbuch, die durch die Razzia der Generalstaatsanwaltschaft München am 24. Mai 2023 gegen Mitglieder der "Letzten Generation" durchgeführt wurde. Die Genralstaatsanwaltschaft hatte danach kurzfristig gemeldet: »Die Letzte Generation stellt eine kriminelle Vereinigung gemäß § 129 StGB (Bildung bzw. Unterstützung einer kriminellen Vereinigung) dar! (Achtung: Spenden an die Letzte Generation stellen mithin ein strafbares Unterstützen der kriminellen Vereinigung dar!)« LTO zur Razzia und Ververurteilungen durch die Generalstaatsanwaltschaft München Strafrechtlicher Conens Credo ist eindeutig: "Politische Antworten sind im politischen Raum zu finden, aber nicht im Strafrecht zu suchen!"

Vita Rechtsanwalt Stefan Conen (55) 1992 – 1996 Studium an der Freien Universität Berlin 1996 – 1999 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kriminologie und Strafprozess Ab 2000 ausschließlich als Strafverteidiger tätig Bis 2022 1. Vorsitzender der Vereinigung Berliner Strafverteidiger*innen e.V. Diverse Veröffentlichungen sowie Veröffentlichungen in Kommentaren zur Strafprozessordnung und zum Strafgesetzbuch. U.a. Mitglied im Strafrechtsausschuss des DAV, regelmäßig als Sachverständiger zu strafrechtlichen und strafprozessualen Fragen im Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages geladen, Lehrbeauftragter der Freien Universität Berlin für Strafprozessrecht

Exemplarische Gerichtsentscheidungen zu Aktionen von Klimaaktivistinnen und Statistik (Stand Ende Juni 20239 05.10.2022 Amtsgericht Tiergarten: Von der Staatsanwaltschaft beantragter Strafbefehl gegen eine Aktivistin der „Letzten Generation“ wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte und Nötigung wird abgelehnt. Die Beschuldigte hatte im Juni 2022 mit anderen in Friedrichshain eine Kreuzung dreieinhalb Stunden lang blockiert und sich festgeklebt. „Die Gewalthandlung muss eine dienstliche Vollstreckungshandlung nicht unerheblich … erschweren“, um Widerstand verurteilen zu können, heißt es in der Ablehnung des Strafbefehls u.a.. Die „körperliche Tätigkeit der Beamten“ habe aber lediglich in dem „Heben“ der betreffenden festgeklebten Hände“ bestanden, um das Lösungsmittel auch unter die Hand zu bringen. Damit sei keine Erheblichkeitsschwelle körperlicher Betätigung erreicht, um zu verurteilen. Zum Nötigungsvorwurf entscheidet das Gericht, dass aus den „Akten nicht zu entnehmen“ sei, das durch die Sitzblockade behinderten Autofahrerinnen genötigt worden seien. 18.10.2022 Amtsgericht Tiergarten verurteilt einen 21-jährigen Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen á 20 Euro wegen Nötigung. Der Student hatte im Februar 2022 die A 100 im freitäglichen Berufsverkehr blockiert." Ich nehme ihr Anliegen ernst, aber ich missbillige ihre Mittel", sagt der Jugendrichter in der Urteilsbegründung wörtlich. „Sie haben sich absolut antidemokratisch verhalten!“ Der Angeklagte begründete die Aktion so: „Ich stehe zu meiner Tat… es sterben schon jetzt mehr Menschen durch Hitzewellen, als durch Corona.“ 18.01.2023 Das Landgericht Berlin verwirft die Berufung des 21-jährigen Studenten, der vom Amtsgericht verurteilt worden war und bestätigt damit erstmals die Verurteilung eines Klimaaktisten wegen Nötigung. Durch das Verhalten des Angeklagten seien die Autofahrerinnen im Stau physisch für eine nicht unerhebliche Zeit blockiert worden. Es sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass Straßenblockaden grundsätzlich als Nötigungshandlung zu bewerten seien. Zwar hätten die Demonstranten das Demonstrations- und Versammlungsrecht auf ihrer Seite. Die weitergehenden Ziele der Aktivisten – namentlich der Schutz des Klimas – seien für die strafrechtliche Bewertung nicht zu berücksichtigen. 20.04.2023 Das Amtsgericht Heilbronn verurteilt zwei Männer und eine Frau wg. Nötigung durch eine Straßenblockade zu fünf, vier und drei Monaten ohne Bewährung. 20.04.2023 Das Landgericht Berlin entscheidet, dass das Ankleben auf der Straße bei einer Klimaaktion kein Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte sei. Im Mai 2022 hatte sich die Angeklagte mit den elf weiteren „Muttis gegen den Klimawandel“ am Schaufenster einer Bank festgeklebt. In drei Minuten sei die Angeklagte von der Scheibe gelöst worden, das „habe keine Amtshandlung erfordert, die mit nicht unerheblichen Kraftaufwand verbunden gewesen wäre“, eine der Voraussetzungen für die Verurteilung wegen Widerstands. Außerdem sei die Demonstration von Artikel 8 des Grundgesetzes (Versammlungsfreiheit) gedeckt. 26.04.2023 Amtsgericht Tiergarten verurteilt erstmals zu einer Haftstrafe in Berlin. Die 24-jährige Klimaaktivistin hatte sich im August 2022 in der Berliner Gemäldegalerie an den Rahmen eines Cranach-Gemäldes geklebt. Sie kündigte weitere Aktionen an und wird zu vier Monaten Haft u.a. wegen gemeinschädlichen Sachbeschädigung verurteilt 05.05.2023 Das Berliner Kammergericht beschließt in der bisher einzigen Entscheidung des Berliner Obergerichts, ein Urteil des Amtsgericht vom Oktober 2022 aufzuheben. Es „ergibt sich auch aus dem Gesamtzusammenhang der Urteilsgründe keine tragfähige Grundlage für die gebotene sachlich-rechtliche Überprüfung der Beweisführung.“ Das bloße Geständnis des Klimaakivisten reiche nicht für seine Verurteilung aus. Die Gerichte seien verpflichtet, von Amts wegen den wahren Sachverhalt zu erforschen und in jedem Einzelfall konkret Nötigung bzw. Widerstand festzustellen und in der Beweisführung darzulegen. 31.05.2023 Das Landgericht Berlin beschließt, dass bei einer vorgeworfenen Klimaaktion keine vorgeworfene Nötigung von Autofahrerinnen vorliege, weil die Aktion nicht verwerflich gewesen sei (die Voraussetzung für eine Verurteilung). „Nach Abwägung der widerstreitenden Interessen ist in dem hier allein zu bewertenden konkreten Einzelfall von einem Überwiegen des Grundrechts der Versammlungsfreiheit des Angeschuldigten und seiner Mittäter gegenüber dem Grundrecht der betroffenen Verkehrsteilnehmer in Form der Fortbewegungsfreiheit …auszugehen.“ Allerdings müsse das Amtsgericht jetzt prüfen, ob nicht der Klimaaktivist Widerstand geleistet habe. 04.07.2023 Das Amtsgericht Leipzig spricht fünf Klimaaktivisten nach einer Sitzblockade der „Letzten Generation“ im Juni 2022 vom Vorwurf der Nötigung frei. Die Aktion sei nicht verwerflich, weil das Grundrecht der Angeklagten auf Versammlungsfreiheit überwiege. Nur mehrere Minuten sei der Verkehr behindert worden, Polizei und Presse seien zuvor informiert gewesen. "Der Protest richtete sich gegen die Folgen der Klimakrise und speziell gegen den Autoverkehr", begründete die Amtsrichterin lt. dpa ihr Urteil, dass noch nicht rechtskräftig ist.

**Bis heute hat das Berliner Kammergericht als oberstes Gericht der Hauptstadt und Revisionsinstanz noch nicht entschieden darüber, ob die Rechtsfragen richtig in den gerichtlichen Vorinstanzen entschieden wurden zu den Aktionen der Klimaaktivisten. Noch im Juli 2023 wird eine -für Berlin- höchstrichterliche- Grundsatzentscheidung erwartet. ** Richterinnen der Verkehrabteilungen des Amtsgerichts Tiergarten und des Landgerichts Berlin warten trotz ihrer gesetzlich verankerten Unabhängigkeit auf eine obergerichtliche Entscheidung des Kammergerichts, ob angeklagte Klimaaktivistinnen rechtsfehlerfrei wegen Nötigung oder Widerstands verurteilt werden können. Laut Generalstaatsanwaltschaft haben die Berliner Ermittler bisher 1.972 Verfahren gegen Klimaaktivisten der „Letzten Generation“ geführt, das Amtsgericht Tiergarten sprach danach bisher 107 Urteile aus bis zu einer unbedingten Haftstrafe von vier Monaten. 736 Strafbefehle (das ist ein schriftliches Urteil ohne Prozess, wo regelmäßig Geldstrafen oder Freiheitsstrafen bis höchstens einem Jahr ohne Gerichtsverhandlung verhängt werden können) hat die Staatsanwaltschaft bisher beantragt. 53 der bisher ergangenen Urteile sind danach bis zum 19.Juni 2023 in Berlin rechtskräftig geworden.


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 July 9, 2023  32m