Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

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Sein Volk


Babylon. 6. Jahrhundert vor Christus. Eine Weltstadt. Metropole. Zentrum der zivilisierten Welt. Sitz der Mächtigen. Prachtstadt am Euphrat. Reich und herrlich. "Gewaltig und prächtig gebaut wie meines Wissens keine andere Stadt der Welt", schreibt der griechische Historiker Herodot. Und auch wenn er es mit den Größenangaben gerne etwas übertrieben hat: 18 km Doppelringmauer mit prächtigen Toren wie dem Ishtar-Tor, das heute im Pergamonmuseum in Berlin steht, drei- bis vierstöckige Häuser, die zentrale Prozessionsstraße mit Palast und Marduktempel mit der riesigen heiligen Statue im Inneren, der Zikkurat, die große Stufenpyramide, und schließlich eines der antiken Weltwunder, die "hängenden Gärten" -- was heute nur noch Ruinen in der Wüste sind, konnte einem damals schon den Atem rauben.

Sie gehören nicht dorthin. Obwohl man ihre Volksgruppe rund um Babylon findet, stammen sie nicht in der Gegend. Sie wollten auch nie dort sein. Sie sind nur Opfer der Expansionspolitik des neubabylonischen Großreichs. Man hat sie hierher verschleppt. Entwurzelt. Der Heimat beraubt.

Die Älteren unter ihnen erinnern sich noch: An das kleine Land an der Mittelmeerküste. An die Ebenen am Meer und das Mittelgebirge im Inneren. An die Wüstengebiete und an das Jordantal mit seinem Grün. An den frischen Wind vom fernen Hermon im Libanon, im Norden. Damals. Als sie noch etwas waren. Ein Land hatten sie. Einen eigenen König. Eine Kultur. Einen Tempel. Eigene Riten und Gebräuche. Einen Gott, auf den sie vertrauten. Damals.

Jetzt sitzen sie hier. Wer sind sie denn? Was bleibt denn noch, wenn einem alles geraubt wurde, woran man bisher seine Identität festmachte? Manche von ihnen haben Hoffnung: Sie wollen wieder zurück. Irgendwann, eines Tages. Wollen wieder aufbauen, was vom Krieg zerstört wurde. Andere haben das längst aufgegeben. Sie passen sich an. Sie wollen hier dazugehören. Die alten Traditionen, die alten Gebräuche, der alte Glaube -- das taugt hier nichts mehr. Wer sind sie denn noch?

Ein Buch entsteht in dieser Zeit. Eigentlich viele Bücher. Wenn man es genau nimmt, lässt sich der größte Teil der hebräischen Bibel, wie wir sie kennen, um diese einschneidende Zeit im Exil herum gruppieren. Die Verarbeitung all der Fragen, die Suche nach der eigenen Identität Israels, war der Anlass für viele der einzelnen Schriftstücke, die wir heute zum Ersten Testament unserer Bibel zusammenfassen. Alte Überlieferungen, oft mündlich von Generation zu Generation weitergegeben, werden aufgeschrieben. Texte, die schon existieren werden zusammengetragen und gesichtet. Manches wird neu bewertet. Vieles wird zum ersten Mal so zusammengestellt.

Eine Geschichte entsteht. Ein Bild beginnt sich zu zeigen. Ein Bild von einem Volk. Von denen, die zusammengehören. Von dem, was sie ausmacht. Von dem, was wieder sein könnte. Von dem, was noch ist, wenn alles Äußerliche verloren ging.

Wer sind wir eigentlich?

Von der Erwählung Abrahams erzählen die Geschichten. Von Gottes Handeln an einer Familie, die zu einem Volk heranwächst. Von der Befreiung aus Ägypten. Vom dem ewigen Bund, den Gott mit diesen, seinen erwählten Menschen schließt. Vom Weg durch die Wüste in das verheißene Land. Das Buch, aus dem wir heute lesen, setzt dort an: Am Eingang in das Land am Mittelmeer. Es fasst das, was Israel ausmacht, zusammen in eine Gruppe von Reden, die es Mose, der großen Heldenfigur der Befreiungsgeschichte, zuschreibt. Hört also aus dem 4. Kapitel des Deuteronomiumsbuchs, das wir oft "5. Buch Mose" nennen -- auf Hebräisch heißt es einfach "Worte":

Sieh, ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der Herr, mein Gott, geboten hat, dass ihr danach tun sollt im Lande, in das ihr kommen werdet, um es einzunehmen. So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. Wenn sie alle diese Gebote hören werden, dann müssen sie sagen: Was für weise und verständige Leute sind das, ein herrliches Volk! Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter so nahe sind wie uns der Herr, unser Gott, sooft wir ihn anrufen? Und wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege? Hüte dich nur und bewahre deine Seele gut, dass du nicht vergisst, was deine Augen gesehen haben, und dass es nicht aus deinem Herzen kommt dein ganzes Leben lang.Und du sollst deinen Kindern und Kindeskindern kundtun den Tag, da du vor dem Herrn, deinem Gott, standest an dem Berge Horeb, als der Herr zu mir sagte: Versammle mir das Volk, dass ich sie meine Worte hören lasse und sie mich fürchten lernen alle Tage ihres Lebens auf Erden und ihre Kinder lehren. Da tratet ihr herzu und standet unten an dem Berge; der Berg aber stand in Flammen bis in den Himmel hinein, und da war Finsternis, Wolken und Dunkel. Und der Herr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Den Klang der Worte hörtet ihr, aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da. Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln. Und der Herr gebot mir zur selben Zeit, euch Gebote und Rechte zu lehren, dass ihr danach tun sollt in dem Lande, in das ihr zieht, es einzunehmen.So hütet euch um eures Lebens willen – denn ihr habt keine Gestalt gesehen an dem Tage, da der Herr mit euch redete aus dem Feuer auf dem Berge Horeb –, dass ihr euch nicht versündigt und euch irgendein Bildnis macht, das gleich sei einem Mann oder einer Frau, einem Tier auf dem Land oder Vogel unter dem Himmel, dem Gewürm auf der Erde oder einem Fisch im Wasser unter der Erde. Hebe auch nicht deine Augen auf zum Himmel, dass du die Sonne sehest und den Mond und die Sterne, das ganze Heer des Himmels, und fallest ab und betest sie an und dienest denen, die der Herr, dein Gott, zugewiesen hat allen Völkern unter dem ganzen Himmel. Euch aber hat der Herr angenommen und aus dem Schmelzofen, nämlich aus Ägypten, geführt, dass ihr sein Erbvolk sein sollt, wie ihr es jetzt seid. (5. Mose 4,5-20)


Mit dem Staunen beginnt dieser Text: Mit dem Staunen der Völker über Israel. Über Weisheit und Verstand: "Was für weise und verständige Leute sind das. Was für ein herrliches Volk!"

Für die versprengte Gemeinschaft in Babylon ist das ein ferner Traum. Hier staunt niemand über sie. Nicht einmal sie selbst. Das haben sie längst verlernt. Es fällt ja schwer, sich überhaupt noch als eigene Gemeinschaft, als Zusammengehörige wahrzunehmen. Der Text lädt dazu ein, erst einmal selbst wieder neu zu beginnen mit dem Staunen. Er lädt zu einem neuen Nationalgefühl, zu einem neuen Verständnis der eigenen Identität ein.

Nur: Worüber denn staunen? Die Antwort des Mosetexts ist ganz einfach: Über Gott. Über den der da ist, der euch erwählt hat und über seine Gebote.

Das fällt schwer, besonders wenn man in Babylon ist und die herrliche Mardukstatue kennt, die dort im großen Tempel steht. Das ist mal ein beeindruckender Gott! Seine Macht und Herrlichkeit zeigt sich nicht nur in der äußerlichen Erscheinung, sondern beweist sich doch gerade darin, dass sein Volk eindeutig auf der Siegerseite steht und sich die ganze Welt untertan zu machen scheint. Was hat denn Israel? Keinen Tempel. Keine Opfer. Keine Priester. Keinen herrlichen Schmuck. Und: Keinen Gott, den man vorzeigen kann! Wie soll man denn da staunen? Wie soll man sich auf so einen denn verlassen?

Der Mosetext lässt die alten Geschichten wieder aufleben: Vom Bundesschluß am Sinai. Von Donner und Blitzen, Wolken und Dunkel. Beeindruckende Demonstrationen von Macht und Herrlichkeit, die weit über das hinausgehen, was Bildhauer fabrizieren können. Aber vor allem: Bilder vom Auszug aus Ägypten. Von der Überwindung der damals größten Weltmacht. Von Gott, der seine Souveränität und Stärke eben an seinem Volk zeigt. Vergesst das nicht! Erinnert euch: Das ist euer Gott.

Den großen Schöpfer des Himmels und der Erde kann man nicht in Bilder fassen. Er passt nicht in irgendein Schema. Jeder, der ihn festlegen will auf eine konkrete Gestalt, versündigt sich, weil er so viel wegnimmt von dem, wer Gott ist. Weil jeder, der solchen Bildern glaubt, in die Irre geführt wird, belogen über Gott und beraubt dessen, was geschehen könnte, wenn er sich auf den Weg macht mit dem unsichtbaren Gott Israels. Das ist übrigens genau das, was vor einigen Wochen in einem vielbeachteten Satz in der Abschlusspredigt des Kirchentags formuliert wurde -- dem einzigen Satz vom Kirchentag, den viele gehört haben, ohne Zusammenhang und ohne Verständnis für seinen Inhalt. "Gott ist queer" hat Pastor Quinton Ceasar dort formuliert -- und all denen, die da sofort ohne weiter hinzuhören entsetzt aufschrien, ist völlig entgangen, dass das Wort "queer" schlicht und einfach das bedeutet, was die biblischen Texte längst formulieren: Gott lässt sich nicht in ein Schema pressen. Gott sprengt alle unsere Bilder.

Das lässt ihn aber nicht verschwimmen und ausdrucklos werden. Der Gott, zu dessen Nachfolge auch hier eingeladen wird, zeigt ganz klare Konturen: Er ist ein befreiender Gott. Er führt heraus aus der Gebundenheit und den engen Grenzen Ägyptens, aus Zwängen und aus dem Eingesperrt-sein. Hinaus ins Leben, in die Freiheit, in ein neues Land. Er schafft weiten Raum. Er ist ein begleitender Gott, der einlädt zu einem Weg, zu einem Wagnis, weil die Zukunft unbekannt bleibt und man jeden Schritt aufs Neue im Vertrauen auf ihn gehen muss, in der Sicherheit, die nur seine Gegenwart geben kann. Wir nennen das übrigens einfach "Glaube". Er ist ein liebender Gott, der sich um seine Menschen kümmert und sorgt, und der diese Sorge gerade dadurch zum Ausdruck bringt, dass er liebevolle und gerechte Leitlinien für ein gelingendes Leben und ein gutes Miteinander gibt. Nicht als Gängelung. Nicht als Spielverderber, der alle Freude verbietet. Sondern als Hilfestellung für ein Leben in Freiheit, hin zu der Weite, die Gott selbst verspricht. Als Christ:innen sind wir uns gewiss, dass sich diese Konturen Gottes nirgends klarer zeigen, als an Jesus Christus, in dem Gott selbst zu uns kommt.

Erinnert euch! Staunt über ihn! Seht, was er schon alles für euch getan hat.

Dabei ist wichtig, dass Gottes Handeln an seinen Menschen längst vor seinen Geboten beginnt. Man muss sich seine Zuwendung eben nicht erst durch penible Einhaltung aller Gesetze und Gebote verdienen. Seine Liebe ist nicht Belohnung für Bravsein oder besonders hervorragende Frömmigkeit. Er führt keine Strichlisten, weder über Kirchenbesuch noch über die Anzahl der Worte in deinem Gebet. Er ist der Befreier aus Ägypten, lange bevor auch nur ein einziges Gebot formuliert wurde.

Erinnert euch! Staunt über ihn! Seht, was er schon alles für euch getan hat. Und dann glaubt, dass er auch weiterhin an euch handelt, wie er es euch versprochen hat! Begreift euch als Teil seiner Geschichte. Entdeckt, dass das eure Identität ausmacht.

Geliebte Gottes in Onstmettingen,

Der sogenannte Israelsonntag ist immer wieder eine gute Gelegenheit mit ein paar Klischees aufzuräumen, die sich leider immer noch hartnäckig in manchen Köpfen halten:

Erstens, dass es einen fundamentalen Unterschied zwischen Gott im Ersten und Gott im NeuenTestament gibt. Ihr merkt vielleicht auch schon, dass ich bewusst den Titel "Altes Testament" vermeide, weil der eben für viele suggeriert, dass das etwas "Veraltetes", etwas Überholtes ist. Als sei Gott früher nur der penible Gesetzeshüter gewesen, der je nach Verdienst straft oder belohnt, segnet oder gar töten lässt. Und nun, im "Neuen", sei er auf einmal gnädig geworden. Das entspricht in keiner Weise der Wahrheit der biblischen Texte: Gott war immer der liebende, gnädige Gott, der aus Liebe und Barmherzigkeit an seinen Menschen handelt. Auch damals schon, in Israel.

Das bringt mich zum zweiten Klischee, das immer noch herumgeistert: Dass Gott nämlich sein Volk Israel aufgegeben habe ob ihrer Unfähigkeit, die Gesetze zu halten, und dass er in Jesus einen Neuanfang startet mit einem neuen Volk, dass das alte ersetzt -- mit der Kirche, deren Teil wir sind. Was für ein Gottesbild ist das denn bitte? Ist Gott sich selbst und seinen Versprechen untreu geworden? Sind Liebe und Gnade plötzlich ausgesetzt, weil Gott irgendwann einmal halt der Kragen platzt?

Nein: Gott hat sein Volk nie verworfen. Er bleibt sich immer treu. Er hält sich immer an den Bund den er schließt und ist gnädig und barmherzig über denen, die seine liebevollen Leitlinien immer wieder missachten. Er ist treu zu Israel. Das bleibt für immer wahr. Als Christ:innen vertrauen wir darauf, dass er uns in Jesus Christus ein ganz großes Geschenk macht: Er nimmt uns hinein in seinen Bund. Wir dürfen Teil seines Volkes sein -- wie ein fremder Zweig einem Baum aufgepfropft wird, erklärt der Apostel Paulus im Römerbrief.

Als Teil von Gottes Volk gilt auch uns die Einladung des Mosetexts. Wir sind mit eingeladen, uns zu erinnern an das, was Gott getan hat. An uns. An denen vor uns. Durch die ganze Geschichte hindurch. Wir sind mit eingeladen, zu staunen über ihn und sein Handeln an den Menschen. Wir dürfen auch unsere Identität in ihm entdecken: Als seine erwählten und geliebten Menschen, die er befreit, begleitet und in seine Zukunft gegleitet. Mit Israel in der Wüste sind wir Teil einer großen Lerngemeinschaft, unterwegs mit Gott: getragen durch seine Liebe, geleitet durch seine liebevolle Weisung und auf dem Weg in die Weite der Freiheit und des Lebens.

Auch wenn wir nicht in Babylon sind, brauchen wir diesen Zuspruch. In einer Welt, die oft mehr Fragen als Antworten bietet, finden wir Gewissheit und Mut in der Erinnerung daran wer wir sind: Wir sind sein Volk. Und er ist mit uns.

Amen.


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 August 17, 2023  15m