Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

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Die Zukunft ist sein Land


Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!

Wenn ihr alle einen Augenblick still seid, dann kann man es vermutlich von hier hören -- das Seufzen der ganzen Schöpfung, von dem Paulus an die Christ:innen in Rom schreibt. Sie seufzt nämlich tief und laut und überall. Auch 2023 noch, fast 2.000 Jahre nach des Apostels Brief. Oder vielleicht sogar noch mehr. An manchen Tagen ist es geradezu ohrenbetäubend laut, ihr Seufzen, und ich höre es schon morgens, wenn ich die Bettdecke zurückschlage und mich die ersten Nachrichten auf dem Handy erreichen. Sie seufzt in den ausgebombten Kellern von Kiew. Sie seufzt in den Familien in Israel, die durch den Terror der Hamas ihrer liebsten beraubt wurden und in den Lagern im Gazastreifen, wo das eigene Volk zu Geiseln eben dieser Terroristen wird. Sie seufzt in den Minen im Kongo und seufzt in den Slums in Bangladesch und seufzt in den Gefängnissen unzähliger Diktaturen rund um den Erdball. Sie seufzt hier in Deutschland, wenn ein neuer Tag in der Arbeitslosigkeit und Hoffnungs- und Sinnlosigkeit beginnt. Sie seufzt mit geschlagenen Ehefrauen und frustrierten Ehemänner und seufzt mit den Kindern, denen die Chance aufs Leben geraubt wird. Sie seufzt mit den Geflüchteten, die hier auch nicht ankommen dürfen und seufzt mit den jüdischen Mitbürgern, die sich schon wieder überlegen müssen, wo sie sich noch zu erkennen geben dürfen. Sie seufzt in der Schule in Offenburg, wo das Leben eines Fünfzehnjährigen so sinnlos geraubt wurde. Sie seufzt und seufzt und seufzt. Ein Seufzer auf den anderen. Eine ohrenbetäubende Kakophonie von Stöhnen und Seufzen, die doch nur übertönt, was wir schon gar nicht mehr hören, weil es im Verborgenen geschieht, da wo nicht einmal zum Seufzen mehr Kraft ist. Wo die Tränen ungesehen und leise fließen, nachts im Bett, oder einfach schnell abgewandt von anderen, damit es keiner mitbekommt.

Die ganze Schöpfung seufzt und mit uns Menschen sind das auch alle unsere Mitgeschöpfe, denen wir die Hölle heiß gemacht haben mit dem Klimawandel durch alles, was wir in die Luft pusten, denen wir die Meere vergiftet haben mit unserem Müll und Mikroplastik, dem wir den Lebensraum überschwemmen oder das Wasser ganz rauben mit allem, was sich verändert auf dieser Welt, weil wir in all unserem Seufzen keine Zeit finden, uns um die Zukunft zu kümmern.

Seufzen und stöhnen und weinen und klagen.

Ich bekomme es gar nicht mehr aus dem Kopf, wenn ich mich dann am Abend wieder ins Bett lege, und an vielen Tagen möchte ich einfach nur mit einstimmen in das lärmende Seufzen--weil ja auch die Kirche mitseufzt und stöhnt und klagt. Wenn die Menschen weniger werden, die es noch darin aushalten. Wenn man immer nur von Rückgang und Reduzierung redet. Wenn es in Gäufelden-Tailfingen nach Sonja Kuttler nun keine Pfarrerin mehr gibt und in Albstadt-Tailfingen das Dienstsiegel meines bisherigen Pfarramts Erlöserkirche zerschnitten im Mülleimer liegt, weil auch dort nie wieder ein Pfarrer seinen Stempel führen wird. Wie lange in Herrenberg noch ein Dekan sitzen wird, wissen wir ja auch nicht, Herr Feucht. Welche Bilder der im Frühjahr zu beschließende Pfarrplan 2030 in uns auslöst, darüber denken wir am liebsten gar nicht nach an so einem Festtag heute -- sonst sind wir alle nur noch beim Seufzen und Stöhnen und lassen den Kopf in die Hände sinken.

Es sind ja nicht nur die anderen. Es ist ja nicht nur unsere Mitmenschen, die "draußen", die Schöpfung um uns her. Auch wir gehören zu denen, die seufzen und uns sehnen. Wo soll das alles enden? Wie lange noch, Herr?

Erbarme dich.

War's das also? Sind wir bereit aufzugeben? Ist der Neuanfang dieser Investitur heute am Ende einer ohne Zauber, nur ein letztes Aufbäumen, nur noch ein wenig länger die Illusion aufrechterhalten, dass noch nicht alles verloren ist. Bleibt uns denn noch irgendetwas außer Seufzen und Leiden, als ängstliches Harren und Vergänglichkeit und Wehen?

Ja, liebe Nebringer! Ja, liebe Tailfinger! Ja, liebe Gäufeldener!

Wenn es irgendeine Sache gibt, die ich euch gleich zu Beginn meiner Zeit mit euch unüberhörbar zurufen möchte, dann das: Ja, es bleibt uns noch etwas anderes.

Wir haben Hoffnung.

Wir haben Hoffnung.

"Denn ich bin überzeugt, dass dieser Zeit Leiden nicht ins Gewicht fallen gegenüber der Herrlichkeit, die an uns offenbart werden soll.", schreibt der Apostel schon vor zwei Jahrtausenden nach Rom. Für die, die gerade am Seufzen sind, ist das erst einmal frustrierend zuhören. Werden denn meine berechtigten Sorgen gar nicht wahrgenommen? Werden meine authentischen Gefühle hier abgewertet? "Gar nicht ins Gewicht fallen"?

Wie bitte? Schnell fühlt sich jeder hier bestätigt, der sowieso befürchtet, in Zukunft unter die Räder all der Veränderungen zu kommen. Auch beim Pfarrplan und bei veränderten Strukturen in Gäufelden.

Lass mich dich ganz schnell beruhigen: Bei Gott wiegen deine Sorgen und Lasten ganz schwer. Bei Gott wird keine Träne übersehen und kein Seufzer durch Wichtigeres übertönt. Wie gut tut es auch mir immer wieder, dass ich bei ihm echt und ehrlich sein darf und auch meine Klage vor ihm ausbreiten kann. Gott war schon immer der Gott der Seufzenden und der Belasteten, der Tröster der Weinenden und der Begleiter der Hilflosen. Auch du bist ihm unendlich wichtig mit deinen Anliegen.

Und doch will und muss ich es geradezu dir noch einmal gemeinsam mit Paulus zurufen:

Uns bleibt etwas anderes, was größer ist und schwerer wiegt und weiter trägt.

Wir haben Hoffnung.

Wir haben Hoffnung.

"Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden."

Liebe Tailfinger, liebe Nebringer, liebe Gäufeldener,

die Welt -- diese so unüberhörbar und ununterbrochen seufzende Welt um uns her -- sie wartet, sagt Paulus. Sie wartet...

...auf uns, wollte ich jetzt gerade sagen, aber das würde dem, was der Apostel sagt, ja nicht gerecht.

Die Welt -- diese so unüberhörbar und ununterbrochen seufzende Welt um uns her -- sie wartet auf das, was an uns offenbart werden soll. Auf das, was wir mitbringen und was so dringend fehlt, in dieser seufzenden Welt und was wir mitbringen, was wir zu geben haben:

Wir haben Hoffnung.

Und dann kommt er ins Schwärmen, der Paulus, von der Herrlichkeit und der Freiheit, und der herrlichen Freiheit der Kinder Gottes, von Kindschaft und Erlösung und von Errettung. In bunten Farben malt er ein Bild, das dem tristen Grau der Seufzerwelt diametral entgegensteht. Vor unseren Augen wird sie plastisch, greifbar, die Hoffnung, die wir haben und nach der wir uns sehnen und die die Welt doch auch so dringend braucht.

Wir haben Hoffnung.

Liebe Tailfinger, liebe Nebringer, liebe Gäufeldener, das ist es, wie ich gerne beginnen möchte, hier mit euch Kirche in den Orten zu leben und wie ich gerne mit euch hineingehen möchte in Veränderungen und in neue Formen, in Strukturdebatten und Pfarrplandiskussionen, in Abschiede von manchen liebgewordenen Traditionen, die wir uns in einer neuen Situation nicht mehr leisten können, und in vielleicht unsichere Schritte ins Neue, das wir erst noch ertasten und erkunden müssen:

Wir haben Hoffnung.

Und deshalb kann ich nicht anders, als euch heute schon ein Bild von dieser Hoffnung, die uns eint und trägt, vor Augen zu malen, so wie Paulus in seinem Brief. Ein Bild, weil das mehr sagt als tausend Worte. Und weil ich kein so begnadeter Zeichner bin wie mein Kollege Rainer in Öschelbronn, haben wir euch einfach ein Bild in euer Liedblatt gedruckt. Vielleicht habt ihr es schon entdeckt.

Wenig überraschend ist es eine Christusfigur. Was sollte es denn sonst sein? Unsere Hoffnung, liebe Christ:innen in Gäufelden, besteht doch nicht in irgendwelchen großen Worten und philosophischen Konzepten, nicht in Strukturmodellen und Pfarrplänen, nicht in großartigen Theorien von Gemeindebau. Unsere Hoffnung ist eine Person. Unsere Hoffnung heißt Jesus Christus. Wer zeigen will, worauf wir hoffen und wonach wir uns sehnen, der muss auf ihn zeigen, auf Christus. Wer sich wecken lassen will aus der Depression des Seufzens, wer sich erinnern lassen will an das, was uns bis hierher brachte und was in Ewigkeit trägt, der muss auf ihn schauen, auf Christus. Und wer das tut -- auf ihn Schauen -- der kann nur ins Schwärmen kommen. Der kann nur Staunen. Mein lieber Freund Siggi, der heute mit hier sitzt, sagt es immer wieder so: "Jesus Christus ist das Attraktivste, was der christliche Glaube zu bieten hat."

Wer auf ihn schaut, auf Christus, der sieht die Mensch gewordene Liebe Gottes zu seiner Schöpfung. Wer auf ihn schaut, entdeckt die unendliche Menschenfreundlichkeit Gottes. Wer auf ihn schaut, der staunt über Gott, der all die menschlichen Wege mitgeht und all die menschlichen Leiden mitträgt und all die menschlichen Seufzer mitseufzt -- bis hin zum letzten tiefen Atemzug. Bis hinein in Sterben und Tod. Wer auf Christus schaut, weiß: Gott lässt uns nie alleine seufzen. Immer ist er schon dabei, der menschenfreundliche Gott. Immanuel. Gott mit uns. Und immer ist er uns auch schon vorausgegangen. Denn es blieb ja nicht beim Sterben. Der Christus, auf den sich unsere Hoffnung gründet, ist der auferstandene Christus. Wo alle nur noch Vergänglichkeit sahen und Leid, wo nur noch Seufzen und Weinen und ängstliches Harren war, da hat Gott Christus zu neuem Leben erweckt. Weil er wahrhaftig auferstanden ist, können wir heute gegen alles Seufzen sagen:

Wir haben Hoffnung.

Der Christus, den ich euch heute vor Augen malen möchte, kommt in Gestalt einer Holzfigur aus dem 17. Jahrhundert. Der frühbarocke Künstler Georg Petel hat sie geschaffen. Sie steht in der -- bitte entschuldigt, wenn ich das so sage, liebe Nebringer, liebe Tailfinger -- schönsten Kirche, die ich kenne: Die Moritzkirche in Augsburg ist eigentlich eine unscheinbare Pfarrkirche abseits der großen Kathedralen der Stadt. Seit dem 11. Jahrhundert wurde sie immer wieder umgebaut. 1944 brannte sie in einer Bombennacht aus. Fast die komplette barocke Innenausstattung ging verloren. Was übrig blieb, war recht einfach. Ab 2010 wurde die Moritzkirche noch einmal saniert. Der Londoner Stararchitekt John Pawson hat hier ein absolutes Meisterwerk geschaffen. Die barocken Schnörkel wichen klaren Linien, minimalistischem Weiß und einem genialen Lichtkonzept. "Kirchenraum der Zukunft", hieß das Ziel.

Wer heute die Moritzkirche betritt, wird nicht von Schnörkeln erschlagen, sondern vom Licht umhüllt. Der klare, weiße Innenraum lenkt den Blick des Betrachters unweigerlich nach vorne. Dort steht in der Spitze des Chorraums die Holzfigur von Georg Petel. Sie steht dort, aber für den Betrachter steht sie nicht: Der Christus der Moritzkirche ist kein statischer. Er ist auch kein Leidender, kein Crucifixus. Die Christusfigur der Moritzkirche ist der auferstandene Christus, der durch Gottes überwindende Liebe durch Leid und Seufzen vorausgegangen ist in Freiheit und Leben. Der Christus der Moritzkirche ist der Christus der Zukunft, unserer Zukunft. Dort steht er nicht, oder sitzt oder liegt in einer Hängematte und freut sich, dass er es geschafft hat. Nein. Er geht. Er geht nicht, er eilt. Er rennt dem Betrachter förmlich entgegen, mit wallendem Mantel, den Wind im Gesicht. Er eilt uns entgegen, die Arme ausgebreitet zur Umarmung, bereit zum Segen. Er rennt uns entgegen, mit offenen Augen und sein Blick ist Liebe und Güte und Gottes ganze, unbegreifliche Menschenfreundlichkeit. Er, der überwunden hat, den Gott aus Tod und Seufzen herausgezogen hat ins Leben, er kommt uns entgegen mit seiner Kraft, seiner Freiheit, seinem Leben.

Wer ihn sieht, der möchte selbst anfangen, zu laufen, zu eilen. Wer ihn sieht, der möchte ihm entgegenrennen und, der möchte sich in seine Arme werfen und singen: Meine Hoffnung und meine Freude, meine Stärke, mein Licht. Christus, meine Zuversicht! Auf dich vertrau ich und fürcht‘ mich nicht.

Und weiter singen: Die Zukunft ist sein Land.

Das werden wir jetzt gleich miteinander singen. Denn, liebe Tailfinger, liebe Nebringer, liebe Gäufeldener, das ist es, was unsere Zukunft ist. Unsere Zukunft ist kein Pfarrplan. Unsere Zukunft ist keine Strukturreform. Unsere Zukunft ist nicht Abbau und nicht Reduktion, unsere Zukunft ist nicht Mitgliederschwund, unsere Zukunft sind nicht knappere Finanzen. Unsere Zukunft ist Christus, der Auferstandene. Unsere Zukunft ist sein Land.

Liebe Nebringer, liebe Tailfinger, liebe Gäufeldener, die Zukunft einer Kirche, die sich an Christus hält, kann gar nicht kleiner und enger und knapper sein. Egal, was auf uns zukommt: Die Zukunft ist sein Land. Die Zukunft ist sein Reich, das zu uns zu bringen er gekommen ist und das wächst, in und und um uns und das er eines Tages vollenden wird mit seiner ganzen Schöpfung. Sein Reich ist Gerechtigkeit. Sein Reich ist Friede. Sein Reich ist Freude im Heiligen Geist. Sein Reich ist die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, die schon Paulus ins Schwärmen brachte.

Wir haben Hoffnung.

Die Zukunft ist sein Land.

Das wird vermutlich nicht immer sofort so aussehen. Paulus bleibt da ganz realistisch: Wir sind gerettet, aber auf Hoffnung hin. "Die Hoffnung aber, die man sieht, ist nicht Hoffnung; denn wie kann man auf das hoffen, was man sieht?", fragt er. "Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld."

Ich will ganz ehrlich sein: Das fällt mir nicht immer leicht. Nicht immer bringe ich die Geduld auf, die das erfordert. Dann fange ich an zu seufzen. Ich seufze und sehne mich. Da bin ich nicht allein.

Geliebte Gottes in Gäufelden, einmal habe ich die Moritzkirche in der Passionszeit betreten. Ich hatte mich sehr auf den auf mich zu eilenden Christus gefreut. Umso größer war der Schock, ihn nicht zu sehen. In der Passionszeit stellt die Moritzgemeinde einen Wandschirm vor die Figur des Auferstandenen und davor ein Bild des Gekreuzigten auf den Altar. Passend, klar. Aber nicht das, was ich erwartet hatte.

So wird sich mancher Tag anfühlen. Manche Veränderung, manche Tagesordnung, mancher Beschluss, der zu fassen ist, wird uns zum Seufzen bringen. Wir werden weiter vieles in der Sehnsucht leben.

Geliebte Gottes, lasst uns nicht vergessen, was hinter dem Wandschirm liegt. Die Realität des Auferstandenen wird kein Umstand und kein Leiden und kein Pfarrplan je wieder wegnehmen. Nie werden wir einen Ort betreten, der ihm nicht schon gehört. Mit ihm an unserer Seite uns seinem Geist als "Erstlingsgabe" in unseren Herzen, gehen wir erhobenenHauptes vorwärts. Denn, auch wenn wir es nicht immer gleich sehen und gleich erfassen, gilt an jedem Tag, was wir in wenigen Augenblicken miteinander singen werden:

"Er selbst kommt uns entgegen. Die Zukunft ist sein Land."

Und deshalb:

Wir haben Hoffnung.

Amen.



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 November 12, 2023  17m