Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

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Leuchten von Wolke 97


Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!

Aus dem Danielbuch der Hebräischen Bibel, aus dem letzten, dem 12. Kapitel:

1 Es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. 2 Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. 3 Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. (Daniel 12,1b-3)

Ein Buch. Gott schreibt ein Buch. Als bekennender Bücherwurm horche ich auf. Was da wohl drinsteht?

Ein Buch. Gott schreibt ein Buch und kein Beststeller dieser Welt wird da mithalten können. Wir alle dürfen auf den Inhalt gespannt sein.

Ich will euch heute einen kleinen "Teaser" daraus geben. Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was da zu lesen sein könnte. Ich will euch von einem erzählen, der da drin steht. Nicht in aller Ausführlichkeit -- die kennt nur Gott. Aber zumindest von dem, was ich ahne, was da vorkommen könnte.

Ich will euch von Herrn Kramer erzählen. Wolfgang Michael hieß er, aber so habe ich ihn nie genannt. Für mich war er immer nur Herr Kramer. Herr Kramer, der sich im Unterricht nie hinter das Lehrerpult setzte, sondern am liebsten drauf -- so halb zumindest, mit einem Bein stehend, das andere im Sitzen baumelnd. Herr Kramer, der beim Reden gerne seinen großen Schlüsselbund vom Pult nahm und damit spielte, so dass ich noch heute bei manchem glaube, seine Stimme zu hören, begleitet von dem ständigen Klappern der vielen Schlüsseln. Herr Kramer, der sich, wenn er von Gott redete, immer betont und dezidiert abgrenzte von der Gottesvorstellung eines "alten Mannes mit weißem Bart, der auf Wolke 97 sitzt und von oben herabschaut." "Wolke 97". Das ist, glaube ich, das erste, was mir einfällt, wenn ich an Herrn Kramer denke.

Von Gott, eben nicht vom alten Mann auf dieser Wolke, hat er viel geredet: Herr Kramer war über viele Jahre mein Religionslehrer im Andreae-Gymnasium in Herrenberg. Ich habe die Jahre mit ihm geliebt. Und ich frage mich, wie viele graue Haare Herr Kramer wegen mir bekommen hat. Ich kam ja aus meiner eigenen, kleinen freikirchlichen Welt. Ich brachte ganz viele Gewissheiten ja schon mit. Wir waren ja die "entschiedenen Christen". Wir waren ja die, die die Bibel lasen und ernst nahmen und verstanden hatten. Nicht selten schauten wir auch herab auf die, die anders vom Glauben redeten wie wir--die es eben (noch?) nicht richtig verstanden hatten. Oder: Nicht richtig verstehen wollten. Was habe ich diskutiert mit Herrn Kramer! Was habe ich mich oft kolossal geärgert über manche seiner falschen Ansichten.

Es gibt Dinge, die kann man wohl als junger Schüler noch nicht wirklich schätzen. Erst in späteren Jahren ist mir bewusst geworden, mit wie viel Geduld Herr Kramer meinen theologischen Engstellen immer wieder liebevoll die Weite des Glaubens und die Freiheit der Christenmenschen entgegengehalten hat. Damals habe ich das nicht so wahrgenommen. Aber der Same, den er in vielen Gesprächen und Diskussionen immer wieder gesät hat, ist aufgegangen.

Nach der Schule habe ich im Rahmen meiner Freikirche Theologie studiert. Dort, wo immer alles klar zu sein schien und Fragen keinen Platz hatten, hat in mir gearbeitet, was ich bei Herrn Kramer gelernt habe. Ich wurde zu einem Suchenden, einem, der sich nach Weite sehnte. Das ist auch in den Jahren, in denen ich als Pastor meiner Freikirche gearbeitet habe, weiter in mir gewachsen – so lange, bis es am Ende am angestammten Ort nicht mehr passte. Was in den Begegnungen mit Menschen wie Herrn Kramer in meiner Jugend begonnen hatte, setze sich fort, bis ich schließlich eine neue geistliche Heimat in der Evangelischen Landeskirche fand. Seit vielen Jahren muss ich immer wieder an Herrn Kramer denken freue mich, heute ein Stück von der Freiheit und Weite, die er damals schon kannte, entdeckt zu haben.

Als in den vergangenen Monaten klar wurde, dass mein Weg mich wieder hier in die Gegend führen würde, hatte ich insgeheim die Hoffnung, Herrn Kramer vielleicht irgendwann einmal wieder zu begegnen. Leider sollte es dazu nicht mehr kommen. Ich wusste nicht, dass er seit Jahren krank war. Mitte September ist er verstorben.

Ob er jetzt wohl auf Wolke 97 sitzt? Ich weiß es nicht, aber irgendwie würde ich es ihm wünschen. Ich bin mir fast sicher: Wenn Gottes Zukunft irgendwelche nummerierten Wolkenplätze enthält, dann ist die 97 bestimmt für Herrn Kramer reserviert.


Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Ein Grund, warum ich heute so viel Zeit damit verbringe, euch von einem einzelnen Menschen zu erzählen, kommt tatsächlich aus dem alten Prophetentext aus dem Danielbuch. Der ist ungewöhnlich an seinem Ort. Wenn im ersten Teil der Bibel über das menschliche Leben geredet wird, dann eigentlich so gut wie immer in seiner Begrenztheit und Vergänglichkeit. Das gute, "gerechte" (oder noch besser: "aufrechte") Leben vor Gott hier und jetzt, das ist es, was da wichtig ist und worüber geredet wird. Das Menschenbild der Hebräischen Bibel kennt zwar außer dem körperlichen schon einen Bereich des Menschseins, den es "Seele" (auf Hebräisch: näfäsch) nennt, aber die gängige Vorstellung, die sich hier findet, ist, dass diese "näfäsch" nach dem Tod in das "Totenreich" gelangt. Und dann passiert einfach gar nichts mehr. "Totenreich", das ist ein Bereich ohne Leben. Ohne Ereignisse. Ohne Inhalte. Und ohne Zugang zu Gott, der Quelle des Lebens. Weiter nichts.

Über die Zeit entwickelte sich das Denken über Leben und Tod dann aber weiter. Der heutige Text aus dem Danielbuch ist einer der spätesten im Ersten Testament. Er lässt, wie kaum ein anderer Text der Hebräischen Bibel, die Hoffnung durchscheinen, dass mit dem Tod eben doch nicht alles Leben endet. Er spricht von Auferstehung. Er spricht von Zukunft. Er schlägt eine Brücke zwischen dem hier und jetzt und dem was kommt: Gott schreibt ein Buch. Was hier ist, was hier war, ist darin aufbewahrt. Was hier an Gutem geschah, was hier an Liebe verschenkt wurde, das bleibt auch über den Tod hinaus. "Die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich." Ich ahne: Es leuchet hell von Wolke 97.

Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Ein Grund, warum ich heute so viel von einem Menschen erzähle, ist, dass ich euch in wenigen Minuten eine Liste von Namen vorlesen werde: Menschen, die in diesem letzten Jahr von uns gegangen sind. Menschen, um die wir immer noch trauern. Menschen, an die wir uns heute erinnern. Auch da leuchtet viel Gutes und Schönes, das bleibt, das seine Spuren hinterlassen hat -- an uns und bei Gott.

Für mich, der ich ganz neu hier bin, sind das einfach Namen. Ich kannte diese Menschen nicht. Ich weiß nicht mehr als Alter und Sterbedatum. Aber heute sitzen andere hier, die auch Geschichten erzählen könnten wie ich euch von Herrn Kramer erzählt habe. Heute sitzen Menschen hier, die ganz viel sagen könnten von dem Guten, das bleibt vom Leben derer, die jetzt nicht mehr da sind. Andere, die noch weiter erzählen könnten, sind heute vielleicht nicht hier. Ich glaube, wir können ganz oft gar nicht einschätzen, wo und wie ein einzelnes Leben überall Spuren hinterlässt.

Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Für uns, die wir auf Christus schauen, wird die Hoffnung aus dem alten Prophetenbuch zur Gewissheit. In Christus sehen wir, dass Gott den Tod überwindet. Dass Christus auferstanden ist, gibt uns Zuversicht und einen neuen Blick auf Leben und Sterben. Gerade heute, in oft auch trauriger Erinnerung, halten wir uns an seinen eigenen Worten fest: "Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt." (Johannes 11,25) Wir richten uns auf an der Zusage, die wir beim Apostel Paulus finden, dass Christus nur der Erste ist, den Gott von den Toten auferweckt hat. Dass er das auch bei uns tun wird und bei denen, an die wir uns jetzt nur noch erinnern können.

Jesus -- meine Zuversicht!

Der Blick auf ihn richtet uns auf und tröstet uns. Der Blick auf ihn schafft Raum für eine Zukunft auch über den Tod hinaus. Der Blick auf ihn lässt Leben ahnen, neues Leben, in dem es auch ein Wiedersehen geben wird. Ein neues Leben, in dem nicht verlorengeht, was hier war. Ein Leben, in dem für immer aufgehoben ist, was hier an Gutem war.

"Die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich."


Mich lässt das hoffnungsvoll werden -- und wer in den wenigen Wochen, in denen ich jetzt hier bin, ein bisschen zugehört hat, ahnt vielleicht, dass "Hoffnung" für mich ein ganz wichtiges Thema ist.


Zurück lässt mich der Text und die Erinnerung aber auch mit zwei Fragen.

Die erste: Was ist denn dann dort, wo in der Erinnerung nichts aufleuchtet? Was, wenn ein Leben keine positiven Spuren hinterlässt? Ein ehrlicher Blick auf das menschliche Leben zeigt doch schnell, dass selbst da, wo viel Licht ist, auch Schatten sind. Und dass es an manchen Stellen ganz dunkel aussieht. Sicher, ein differenzierter Beobachter weiß, dass man die Menschen in kein schwarz-weiß Schema stecken kann. Einfache Sortierungen, die nur "Gute" und "Böse", nur "ewiges Leben" oder "ewiges Gericht" kennen, werden der Wirklichkeit nicht gerecht. Wir leben alle mit unseren Grauzonen. Was, wenn am Ende gar alles nur Grau ist?

Da fehlt mir in dem alten Text noch der Blick auf den gnädigen Gott, den mir Christus eröffnet. Da muss ich heute mit dem, was ich bei ihm sehe, noch Evangelium dazulegen -- "was Christum treibet". Dann bin ich froh, dass er meine Gerechtigkeit ist, wo es bei mir an Gerechtigkeit noch zu oft fehlt. Wenn wir, mit Luther gesprochen "alle Bettler" sind, dann ist der Christus der, der uns angesichts des Todes doch durchbringt zum Leben, auch wenn nicht alles leuchtet und alles glänzt. Und andere auch, die vielleicht nur Schatten geworfen haben auf unser Leben.

Die zweite Frage, die mir bleibt, ist eine ganz persönliche. Sie lässt mich nachdenklich werden darüber, was denn von meinem Leben am Ende bleibt. Was von dem, was ich tue, aufgeschrieben sein könnte in Gottes großem Buch. Ob mein Leben auch gute Spuren hinterlässt -- Saat, die aufgeht und anderen zum Segen wird -- und ob da dann auch etwas glänzt und leuchtet, am Ende. Das will ich mitnehmen, in meinen Alltag hinein. Auch das heißt, "lehre uns bedenken, das wir sterben müssen" und darüber nachzudenken, hilft sicher beim "klug werden."


Am Ende trägt mich die Hoffnung auf Gott, die ewige Quelle des Lebens und auf seinen Christus, der den Tod überwunden hat. Er zeichnet mich ein in das Bild einer Zukunft, die Leben und Leuchten mit sich bringt. Und, so hoffe ich persönlich, Zeit für einen Plausch mit einer Tasse Kaffee auf Wolke 97.

Amen.


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 November 26, 2023  11m