Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

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Hoffnungskind


Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!

Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Die junge Frau aus der Weihnachtsgeschichte hat so etwas von einer Revoluzzerin an sich. Lange schon, bevor das Kind geboren wird und in der Krippe liegt, da bringt sie im Gebet vor Gott, was sie ahnt von diesem Kind, das der Engel ihr angekündigt hat. Was sie ahnt und was sie sich wünscht, wenn nun schon ein Kind von Gott unter so besonderen Umständen zur Welt kommt. Sie betet, was wir heute schon gebetet haben. Sie preist den Charakter des Gottes, der in ihrem Kind Mensch wird. "Magnificat" nennen wir das, nach der lateinischen Anfangszeile "Magnificat anima mea dominum":

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit. (Lukas 1,46-55)


"Wir haben Hoffnung!", hätte sie gesagt, wäre sie Pfarrerin in Gäufelden gewesen. In diesem Kind, das Gott schenkt, liegt unsere Hoffnung, dass sich alles ändern kann. Dass die Unterdrückten befreit, die Hungrigen gesättigt und die Schwachen gestärkt werden. Dass Gott den Trend der Welt umkehrt. Eine Revolution, wenn auch eine ganz anders geartete--in einem Kind. Wir haben Hoffnung.

"Gott gedenkt der Barmherzigkeit", rühmt sie und mit ihrem Gebet schreibt sie ihr noch werdendes Kind ein in die Geschichte Israels, angefangen von den Vätern, Abraham, Isaak und Jakob; in die Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk; in sein Heilshandeln an seiner ganzen Schöpfung. "Er hat große Dinge an mir getan", weiß sie jetzt schon. "Von nun an werden mich selig preisen alle Kinderkinder." Ob sie geahnt hat, wie recht sie damit behalten würde?

Vielleicht schon, denn sie kannte ja die ganzen Geschichten, in denen Gottes Handeln durch Menschen geschah. Menschen wie Abraham, Isaak und Jakob. Die Vätergeschichten. Gründungsgeschichte eines ganzen Volkes. Immer wieder hat Gott darin Einzelne mächtig gebraucht. Einzelne, die nicht immer unbedingt das waren, was man von einem Helden, einer Heldin, erwartete. "Gott hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen", weiß sie. Und sie weiß auch: Das ist für Gott kein Hindernis. Der Gott, der Feiglinge wie Gideon gebrauchen kann, einfache Hirtenjungen wie David und selbst Menschen von zweifelhaftem Ruf, wie Rahab -- der Gott unserer Geschichten -- warum soll er nicht auch mich gebrauchen können? Und mein Kind?

Das ist es, was sie von klein auf gehört hat. Schließlich trägt sie ja selbst einen Namen, der an genau solche Geschichten erinnert. Wir nennen sie meist mit der lateinisierten Version ihres Namens, Maria. Natürlich haben sie ihre Eltern nicht so gerufen. Die hatten einen hebräischen Namen ausgewählt, einen großen Namen. Mirjam haben sie ihre Tochter genannt. Wie die Schwester des Mose. Und deren Geschichte geht so--aus dem Exodusbuch (2. Mose), aus dem 2. Kapitel:

1 Und es ging hin ein Mann vom Hause Levi und nahm eine Tochter Levis zur Frau. 2 Und sie ward schwanger und gebar einen Sohn. Und als sie sah, dass es ein feines Kind war, verbarg sie ihn drei Monate. 3 Als sie ihn aber nicht länger verbergen konnte, nahm sie ein Kästlein von Rohr für ihn und verklebte es mit Erdharz und Pech und legte das Kind hinein und setzte das Kästlein in das Schilf am Ufer des Nils. 4 Aber seine Schwester stand von ferne, um zu erfahren, wie es ihm ergehen würde. 5 Und die Tochter des Pharao ging hinab und wollte baden im Nil, und ihre Dienerinnen gingen am Ufer hin und her. Und als sie das Kästlein im Schilf sah, sandte sie ihre Magd hin und ließ es holen. 6 Und als sie es auftat, sah sie das Kind, und siehe, das Knäblein weinte. Da jammerte es sie, und sie sprach: Es ist eins von den hebräischen Kindlein. 7 Da sprach seine Schwester [Mirjam] zu der Tochter des Pharao: Soll ich hingehen und eine der hebräischen Frauen rufen, die da stillt, dass sie dir das Kindlein stille? 8 Die Tochter des Pharao sprach zu ihr: Geh hin. Das Mädchen ging hin und rief die Mutter des Kindes. 9 Da sprach die Tochter des Pharao zu ihr: Nimm das Kindlein mit und stille es mir; ich will es dir lohnen. Die Frau nahm das Kind und stillte es. 10 Und als das Kind groß war, brachte sie es der Tochter des Pharao, und es ward ihr Sohn, und sie nannte ihn Mose; denn sie sprach: Ich habe ihn aus dem Wasser gezogen. (Exodus 2,1-10)


Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Sicher habt ihr nicht damit gerechnet, am 1. Weihnachtstag im Gottesdienst die Mose-Geschichte zu hören. Sie ist an dieser Stelle ganz neu in unserem Leseplan. Ihr hättet heute erwartet, von einem ganz anderen Neugeborenen zu hören. Aber haltet noch aus, ihr werdet sehen, die beiden haben viel gemeinsam. Tatsächlich wäre das, was für uns heute die Weihnachtsgeschichte ist, nicht nur für Mirjam/Maria damals in Israel, sondern für jeden frommen Juden die Mosegeschichte gewesen: Die große Erzählung von der Geburt des Retters. Mose ist schließlich die zentrale, identitätsstiftende Figur des Volkes Israel. Alle Geschichten führen irgendwann zu ihm. Durch ihn hat Gott sein Volk aus Ägypten geführt--aus der Sklaverei in die Freiheit. Er war es, vor dem sich das Rote Meer teilte. Er war der, der auf dem Sinai die entscheidenden Worte des Bundesschlusses hörte: "[...] ihr [sollt] mein Eigentum sein vor allen Völkern; denn die ganze Erde ist mein. Und ihr sollt mir ein Königreich von Priestern und ein heiliges Volk sein." (Exodus 19,5-6). Mose war es, der mit den Tafeln mit den 10 Geboten vom Berg herunter gab. Mose war es, der das Volk durch die Wüste führte, 40 Jahre, bis sie endlich dort ankamen, wo Gott ihnen neue Heimat schenken wollte. Freiheit. Zusammenhalt. Identität. Alles nicht vorstellbar ohne Mose.

Doch, ähnlich wie das Baby von Bethlehem, ist Mose heute nicht der Held seiner eigenen Geschichte. Er liegt ganz ähnlich machtlos in seinem Schilfkörbchen wie der kleine Jesus auf dem Stroh in der Krippe. Keiner von beiden ist da ein strahlender Held. Keiner überbietet alle anderen an Stärke. Im Gegenteil: Die Starken und Mächtigen sind jeweils ganz andere in der Geschichte. Und das sind nicht die Guten! Am Ende der Weihnachtsgeschichte setzt der machtgeile König Herodes seine Soldaten in Bewegung und es geht allen kleinen Kindern in Bethlehem an den Kragen. In der Mosegeschichte sind die Schergen des Pharao schon längst unterwegs, um alle hebräischen Kinder zu töten. Es ist ein Wunder, dass der kleine Junge ihnen bisher entgangen ist.

Die Heldenrolle in beiden Geschichten füllen andere aus. Heldinnen, müsste man sagen. In der Mosegeschichte ist das ein kleines Sklavenmädchen. Sie traut sich im entscheidenden Moment aus ihrem Versteck und stellt durch ihr beherztes Reden die Weichen für die weitere Geschichte des Retters. Und, noch seltsamer, die andere Heldin ist eine ägyptische Prinzessin. Die Tochter des Pharao, die das Kind in seinem Körbchen findet und sofort begreift, was hier gespielt wird. Sie hat den Mut, Menschlichkeit über die Loyalität zu ihrem Vater, zu ihrem Herrscher zu stellen. Auch sie, die Ägypterin, widersetzt sich den unmenschlichen Befehlen des Machthabers. Von Menschen gezogene Grenzen verschwimmen plötzlich: Die ägyptische Prinzessin im Bunde mit den Hebräern, mit den Sklaven. Die Linien überkreuzen sich: Die Ägypterin nimmt das hebräische Kind an. Die hebräische Mutter kümmert sich um den Adoptivsohn der Pharaostochter. Welch eine Ironie in dieser alten Geschichte, dass der Retter Israels im Haus des größten Feindes Sicherheit findet. Dass im Hause des Pharao der aufwächst, der ihn einmal zu Fall bringen wird.

Das ist es, was die beiden Geschichten verbindet: Gott stellt die üblichen Verhältnisse auf den Kopf. Die unwahrscheinlichsten Figuren werden zu Helden. Die Schwächsten werden stark und bringen die Mächtigen zu Fall. Gott sendet einen Retter und das Blatt wendet sich auf völlig unerwartete Weise. Genau wie Miriam/Maria es gebetet hat: "Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen." Und gleichzeitig: "Seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten."


Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Wir haben es einfach, wenn wir heute über diese Dinge reden. Ob Ägypten oder Bethlehem -- wir kennen jeweils schon das Ende der Geschichte. Die Frauen, von denen ich heute erzähle, waren mittendrin. Sie wussten noch nicht im Detail, was alles geschehen würde. Was sie vereint, ist der Blick ins Gesicht eines kleinen Kindes, der sie gewiss werden lässt: "Wir haben Hoffnung!" -- auch, wenn ein Happy End noch denkbar unwahrscheinlich ist. Das Vertrauen auf den Gott, den sie hinten diesen Kindern wissen, gibt ihnen Mut, den Mund zu öffnen. Mut, gegen den Trend der Mehrheit zu handeln. Mut, sich auf schwierige Rollen einzulassen. Mut, sich vorzuwagen, ohne das Ergebnis absehen zu können. Und dadurch wird der Weg frei für die Freiheit, für die Rettung der Welt.

Geliebte Gottes in Nebringen/Tailfingen,

Ich wünschte, wir würden es Ihnen nachtun. Viel mehr als bisher und nicht nur an Weihnachten. Wir sind viel zu oft konzentriert auf die Probleme. Auf die mächtigen Widerstände. Auf das, was uns den Atem raubt. Und, ja, das gibt es, und viel zu viel davon. Wir sehen die Probleme im Großen, Weltweiten; im Lokalen; im Institutionellen; und bis hinunter auf die ganz persönliche Ebene: der unerwartet verstorbene Ehepartner; die demente Mutter; das Enkelkind, das im Krankenhaus liegt. Die Probleme, die wir sehen, sind real und zum Fürchten und sie rauben uns den Atem und den Mut. Wir können sie nicht einfach wegreden. Aber wir können wegsehen: Hin zu dem Gesicht eines Kindes, in dem wir sehen: Es gibt Hoffnung. Das Kind von Weihnachten bietet sich an: "Euch ist heute der Heiland geboren", sagt der Engel von ihm. Der Heiland. Der Heilmacher, der Retter der Welt -- welcher ist Christus der Herr. Sicher, im Vergleich zu dem, was wir sonst sehen, sieht er vielleicht nicht nach viel aus: Auf Stroh mit seinen Windeln. Hoffnung ist das, was über das Sichtbare hinausschaut und sein Vertrauen auf Gott setzt.

Wie Miriam/Maria ihr Kind, so schreiben wir uns selbst ein in die große Geschichte von Gottes Heilshandeln an seiner Welt. Da gehören wir dazu. In Christus hat er uns da mit hineingenommen. Das Kind von der Krippe ist unser Retter, unser Befreier, unser Heiland und Herr, unsere Zukunft, unsere Hoffnung. Und da, wo wir noch nicht sehen, noch nicht greifen können, was sein befreiendes Handeln an uns tun könnte, da beten wir voll Vertrauen mit der jungen Frau aus der Weihnachtsgeschichte:

Meine Seele erhebt den Herrn, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes; denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen. Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder. Denn er hat große Dinge an mir getan, der da mächtig ist und dessen Name heilig ist. Und seine Barmherzigkeit währet für und für bei denen, die ihn fürchten. Er übt Gewalt mit seinem Arm und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn. Er stößt die Gewaltigen vom Thron und erhebt die Niedrigen. Die Hungrigen füllt er mit Gütern und lässt die Reichen leer ausgehen. Er gedenkt der Barmherzigkeit und hilft seinem Diener Israel auf, wie er geredet hat zu unsern Vätern, Abraham und seinen Nachkommen in Ewigkeit.

Amen.


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 December 25, 2023  13m