Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

https://christoph-fischer.de/

subscribe
share






Gottverlassen


Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!

Aus dem Matthäusevangelium, aus dem 26. Kapitel:

33 Und als sie an die Stätte kamen mit Namen Golgatha, das heißt: Schädelstätte, 34 gaben sie ihm Wein zu trinken mit Galle vermischt; und da er's schmeckte, wollte er nicht trinken. 35 Als sie ihn aber gekreuzigt hatten, verteilten sie seine Kleider und warfen das Los darum. 36 Und sie saßen da und bewachten ihn. 37 Und oben über sein Haupt setzten sie eine Aufschrift mit der Ursache seines Todes: Dies ist Jesus, der Juden König. 38 Da wurden zwei Räuber mit ihm gekreuzigt, einer zur Rechten und einer zur Linken. 39 Die aber vorübergingen, lästerten ihn und schüttelten ihre Köpfe 40 und sprachen: Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz! 41 Desgleichen spotteten auch die Hohenpriester mit den Schriftgelehrten und Ältesten und sprachen: 42 Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben. 43 Er hat Gott vertraut; der erlöse ihn nun, wenn er Gefallen an ihm hat; denn er hat gesagt: Ich bin Gottes Sohn. 44 Desgleichen schmähten ihn auch die Räuber, die mit ihm gekreuzigt waren. 45 Von der sechsten Stunde an kam eine Finsternis über das ganze Land bis zur neunten Stunde. 46 Und um die neunte Stunde schrie Jesus laut: Eli, Eli, lama asabtani? Das heißt: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen? 47 Einige aber, die da standen, als sie das hörten, sprachen sie: Der ruft nach Elia. 48 Und sogleich lief einer von ihnen, nahm einen Schwamm und füllte ihn mit Essig und steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu trinken. 49 Die andern aber sprachen: Halt, lasst uns sehen, ob Elia komme und ihm helfe! 50 Aber Jesus schrie abermals laut und verschied. 51 Und siehe, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stücke von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, 52 und die Gräber taten sich auf und viele Leiber der entschlafenen Heiligen standen auf 53 und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen. 54 Als aber der Hauptmann und die mit ihm Jesus bewachten das Erdbeben sahen und was da geschah, erschraken sie sehr und sprachen: Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Wo bist du, mein Gott?

Warum? Ja, warum hast du ihn denn verlassen?

Ist er denn nicht dein Christus, dein Messias, Gesalbter des Herrn? Ist er denn nicht der, auf den alle gewartet haben? Der, mit dem sich alles wenden sollte?

Wo bist du, mein Gott?

Warum hast du ihn verlassen?

Ist er denn nicht der, von dem der Engel "große Freude" verkündigte: Der Heiland, Retter der Welt, Christus der Herr?

Ist er denn nicht der, von dem du selbst sagtest, "Das ist mein geliebter Sohn", während dein Geist auf ihn herabkam in Gestalt einer Taube?

Ist er denn nicht der, der von sich selbst zeugen konnte mit den Worten deiner Propheten: "Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." (Lukas 4,18b-19)

Wo bist du, mein Gott?

Warum lässt du ihn hier am Kreuz hängen?

Warum hast du ihn verlassen?

Ist er denn nicht dein Ebenbild, der Erstgeborene vor aller Schöpfung?

Ist denn nicht in ihm alles geschaffen, was im Himmel und auf Erden ist, das Sichtbare und das Unsichtbare, es seien Throne oder Herrschaften oder Mächte oder Gewalten?

Ist er denn nicht vor allem, und alles besteht in ihm?

Wohnt denn in ihm nicht alle Fülle deiner selbst?

Wo bist du, mein Gott?

Warum lässt du ihn hier am Kreuz hängen?

Warum hast du ihn verlassen?

Warum verreckt er jetzt hier an diesem elenden Folterinstrument?

Die um ihn herumstehen, machen sich lustig.

Soldaten treiben ihre grausamen Spielchen mit ihm.

Er hängt dort, ein Bild des Grauens, des absoluten Elends und über ihm ihr Schild: "Dies ist Jesus, der Juden König."

Schöner König.

Wo bist du, mein Gott?

Warum lässt du ihn hier am Kreuz hängen?

Warum hast du ihn verlassen?

Die, die vorübergehen, sehen gleich, dass sein Anspruch gescheitert ist: "Der du den Tempel abbrichst und baust ihn auf in drei Tagen, hilf dir selber, wenn du Gottes Sohn bist, und steig herab vom Kreuz!"

Die, die es schon immer besser wussten, zerreißen sich ihre Lästermäuler: "Andern hat er geholfen und kann sich selber nicht helfen. Er ist der König von Israel, er steige nun herab vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben."

Selbst die, die zurecht bestraft werden, halten sich für etwas Besseres.

Wo bist du, mein Gott?

Warum lässt du ihn hier am Kreuz hängen?

Warum hast du ihn verlassen?

Warum hast du auch noch dein Gesicht abgewandt?

Vom Sterben berühmter Rabbinen kennt man ähnliche Geschichten: Von Dingen die fallen oder zerbrechen. Von seltsamen Erscheinungen. Von Dunkelheit. Gott verhüllt sein Gesicht. Er zeigt sich nicht mehr.

Dem, der dort am Kreuz hängt, bleibt nur der verzweifelte Schrei:

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Es will mir das Herz zerreißen.

Es will meine Welt zerreißen.

Es ist der Schrei der zerrissenen Herzen, der zerrissenen Welt, der Schrei, der schon so oft gehört wurde -- und immer wieder neu:

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Er schreit ihn, als er vom Arzt heimkommt. Er ist noch ganz benommen. Eigentlich war es nur eine Routineuntersuchung, als der Arzt plötzlich "Hm." sagte. Es ist nie gut, wenn der Arzt "Hm." sagt, das wusste er gleich. Dann kam eine ganze Batterie von Tests. Das ernste Gesicht des Arztes, als sie die Ergebnisse besprechen sollten, sagte schon alles. Nach den ersten Worten blieb ihm erst einmal die Luft weg. "Krebs" hörte er noch, und "fortgeschrittenes Stadium". "Inoperabel". "Sechs Monate noch vielleicht." Jetzt ist er allein. Er hat das Auto am Waldrand geparkt auf dem Weg nach Hause. Er muss jetzt erst einmal laufen. Atmen. Schreien. Ganz laut, wo ihn keiner hört.

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Sie schreit es, als sie die Nachricht verstanden hat. Ganz benommen schon war sie, als sie die Haustür öffnete, mitten am Vormittag, wo sonst nie jemand kam. Sie sah die Polizeiuniformen und dachte schon an das Schlimmste. Ob man bitte hereinkommen dürfe und sich einen Augenblick setzen... Es war wie im Fernsehen, nur in echt und furchtbar beklemmend. Und dann noch viel schlimmer, als in ihren schlimmsten Vorstellungen. Ihre Tochter. Heute morgen. Ein anderes Auto überholte bei Gegenverkehr. Frontaler Zusammenstoß. Hubschrauber. Mehr bekommt sie nicht mehr mit. Ihr Blick verengt sich. Ihre Ohren rauschen. Die ganze Welt scheint auf sie zusammenzustürzen. Sie bringt keinen Ton mehr heraus, obwohl alles in ihr schreit, laut, lauter, lauter als je irgendetwas gewesen ist:

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Er schreit es, als ihm ganz plötzlich die Arbeitsstelle gekündigt wird. Wie soll es denn jetzt weitergehen?

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"

Sie schreit es, als er betrunken nach Hause kommt. Dabei hatte er doch versprochen, aufzuhören -- hoch und heilig! Hat das denn nie ein Ende?

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Dieser Schrei durchdringt den Raum und die Zeit. Schrill, immer lauter werdend erfüllt er die ganze Welt.

Es ist der Schrei der missbrauchten Kinder.

Es ist der Schrei derer, die Gewalt erleben hinter verschlossenen Türen.

Es ist der Schrei der Opfer von Krieg und Terror.

Es ist der Schrei von Auschwitz, von Buchenwald und Majdanek, und, ja, das wissen wir hier, auch von einem Außenlager in Tailfingen.

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Man schreit es in Kiew und Dnipro.

Man schreit es in Israel und in Gaza.

Man schreit es in Russland nach dem Anschlag auf die "Crocus City Hall".

Man schreit es in den Minen im Kongo, in den Kakaoplantagen der Elfenbeinküste, in den Sweat Shops in Bangladesh.

Man schreit es dort, wo einem die Gewalt den Atem gefrieren lässt.

Wo die Dunkelheit sich mit Händen greifen lässt.

Wo Hoffnung so unendlich weit weg ist, als habe es sie nie gegeben.

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Er schreit es.

Gequält presst er die Worte durch die trockenen, blutverkrusteten Lippen.

"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"


Warum? Ja, warum mein Gott?

Wo bist du?

Wo bist du?


Ich schaue mich um.

Lachende Soldaten, höhnische Passanten. Triumphierende Gegner. Zynische Verbrecher.

Ich schaue mich um in diesem bunten Tableau, das der Evangelist uns zeichnet und plötzlich entdecke ich ihn.

Gerade noch, bevor es dunkel wird.

Mein Blick streift das gequälte Gesicht des Gekreuzigten.

Ich höre den Schrei der Gottverlassenheit.

Ich schaue ihm in die weit geöffneten Augen.

Ein Universum an Schmerz und Qual und Leiden.

Und da schaut Gott mich an.


Mein Gott, mein Gott, da bist du?


Er ist doch Immanuel. Gott mit uns. Als er zur Welt kam, sprachen wir von Gott, der sich klein macht. Der einer von uns wird. Der in unsere menschlichen Wege hineintritt. Der zeigt, dass wir ihm nicht egal sind. Der zeigt, wie sehr er uns liebt.

Wir ahnten ja nicht, dass er so weit gehen würde. Dass er bis dorthin mitkommen würde. Dorthin, wo man schreit.

Wo man leidet. Wo man stirbt. Verreckt, sogar.

Dort, wo man nicht in der Lage ist, Gott zu sehen.

Wo man sich ganz allein dem grausamen Schicksal ausgesetzt sieht.

Wohin es kein, aber auch gar kein Lichtstrahl der Hoffnung schafft.

Ins Dunkel.

In die Gottverlassenheit.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


Dort hängt er. Am Kreuz. In Jesus, seinem Sohn.

Das kann man gar nicht begreifen. Wieder einmal sprengt Gottes Handeln die Begrenztheit meines kleinen menschlichen Verstands. Gott selbst setzt sich der Gottverlassenheit aus. Er zerreißt sich quasi selbst.

So weit, so unendlich, grenzenlos weit geht seine Liebe zu uns, dass er das auf sich nimmt. Dass er sich dem aussetzt.

Dass er dort hingeht.

Für uns.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


Der ohrenbetäubende Schrei der Verzweifelten, der Hoffnungslosen, der Gequälten -- es ist seiner.

Ihr schmerzverzerrtes Gesicht ist seines.

Er sitzt mit in den Schutzbunkern unserer Kriege.

Er schuftet mit in den Fabriken und den Plantagen und den Minen.

Er kauert mit in den Trümmern von Gaza.

Er hockt mit auf dem einsamen Sofa, wo die stillen Tränen geweint werden.

Er versteckt sich mit unter der Bettdecke, die doch keinen Schutz vor der grausamen Welt bietet.

Überall, wo sich seine Menschen von allem verlassen wissen, entdeckt man ihn an ihrer Seite.

Er macht sich eins mit den Opfern dieser Welt.

Er wird selbst das Opfer.


Unweit des Kreuzes, aber ungesehen von dort, zerreißt im Tempel der Vorhang von oben bis unten. Gott macht die Tür auf. Es braucht keinen stillen, heiligen Ort mehr, um ihn zu finden. Er geht selbst dorthin, wo die Not am größten ist. Näher kann er uns nicht mehr kommen. Ferner kann er sich selbst und unseren überholten Gottesvorstellungen nicht mehr sein.

Dort hängt er.

Er schreit.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


Der Evangelist, der das schreibt, kennt diese Worte. Für ihn sind sie sofort ein vertrauter Teil des alten Gebets der Verzweifelten. Wir nennen es heute den 22. Psalm. Wir haben heute auch schon Verse daraus gebetet.

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?


Für den Matthäusevangelisten, der schon immer zeigen wollte, dass Jesus die Erfüllung aller Verheißungen, aller heiligen Schrift ist, klingt das völlig logisch. Das Verteilen der Kleider, die Verspottung durch die Umstehenden -- selbst das Bekenntnis des römischen Hauptmanns kann er dort schon entdecken. Wieder einmal geht in Jesus alles in Erfüllung. Der Evangelist würde sagen: Es musste so kommen. Es sollte so sein. Es war schon immer Gottes Plan, sich selbst hier hin zu begeben. Sich selbst zum Opfer zu machen.

Der gottverlassene Gott:

Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

In seinem Schrei umarmt er das ganze, leidende Universum.


Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

In diesem Schrei ist er im vollsten Sinne "Immanuel" -- Gott mit uns.

Nie war er uns näher.

Nie hat er uns mehr geliebt.

Nie hat er uns fester umarmt.

Für uns -- das ist die Botschaft der Apostel -- für uns lässt er sich dort hinhängen.

Er schreit unseren Schrei.

Für uns.


"Nur der leidende Gott kann helfen", wird fast 2.000 Jahre später Dietrich Bonhoeffer schreiben.

Gott steht immer, bis zum bittern Ende, bis zu letzten Konsequenz, auf der Seite der Opfer, der Gequälten, der Leidenden.

Immer.

Auch dann, wenn man ihn gar nicht mehr sieht.


Elie Wiesel, ein Ausschwitzüberlebender, erzählte einmal von einem Schreckenstag im Konzentrationslager. Drei Häftlinge waren zum Tod verurteilt worden. Drei Häftlinge wurden vor allen anderen gehängt. Zwei Erwachsene. Ein Kind. "Es lebe dire Freiheit", riefen trotzig die beiden Erwachsenen. Das Kind schwieg. "Wo ist Gott, wo ist er?" hört Wiesel hinter sich jemand fragen. Dann kippten vorne die Stühle unter den Gehenkten um. Schweigen im ganzen Lager. Ein langer Todeskampf. "Wo ist Gott?", fragt noch einmal der unsichtbare Mann in der Menge. "Und ich hörte eine Stimme in mir antworten", erzählt Elie Wiesel. "Wo ist er? Dort -- dort hängt er, am Galgen..."

Das ist Immanuel. Gott mit uns.

Im tiefsten Dunkel.


Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?

Er betet den Psalm der Verzweifelten. Ob er ihn ganz spricht, das wissen wir nicht. Zum Zuhörer dringt nur sein Schrei durch -- herausgerissen aus dem langen Gebet. Für jüdische Ohren klingt trotzdem immer das Ganze mit. Die ganze lange Klage derer, die keinen Gott mehr entdecken in ihrer Not.

Und die Hoffnung am Ende des Psalms. Am Kreuz ist sie nirgends zu sehen. In ganz vielen anderen Situationen auch nicht.

Aber sie dämmert uns schon entgegen vom Ostermorgen her.

In der Gottverlassenheit des Kreuzes und überall, wo Menschen sich von Gott verlassen sehen, hast du, mein Gott, an ihrer -- an unserer Seite -- dich zur Hoffnung gemacht:


Rühmet den Herrn, die ihr ihn fürchtet; ehrt ihn, all ihr Nachkommen Jakobs, und scheut euch vor ihm, all ihr Nachkommen Israels! Denn er hat nicht verachtet noch verschmäht das Elend des Armen und sein Antlitz vor ihm nicht verborgen; und da er zu ihm schrie, hörte er's. (Psalm 22,24-25)


Er war ja schließlich ganz nahe. Immanuel. Gott mit uns. Du warst da.

Für uns.

Amen.


fyyd: Podcast Search Engine
share








 March 29, 2024  18m