Christoph predigt

Predigten von Pfarrer Christoph Fischer, Gäufelden

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El Roi (II)


Gnade mit euch und Friede von Gott, dem Vater, und von Jesus Christus, unserem Herrn!

Aus dem Genesisbuch, das wir auch "1. Mose" nennen, aus dem 16. Kapitel:

1 Sarai, Abrams Frau, gebar ihm kein Kind. Sie hatte aber eine ägyptische Magd, die hieß Hagar. 2 Und Sarai sprach zu Abram: Siehe, der Herr hat mich verschlossen, dass ich nicht gebären kann. Geh doch zu meiner Magd, ob ich vielleicht durch sie zu einem Sohn komme. Und Abram gehorchte der Stimme Sarais. 3 Da nahm Sarai, Abrams Frau, ihre ägyptische Magd Hagar und gab sie Abram, ihrem Mann, zur Frau, nachdem Abram zehn Jahre im Lande Kanaan gewohnt hatte. 4 Und er ging zu Hagar, die ward schwanger. Als sie nun sah, dass sie schwanger war, achtete sie ihre Herrin gering. 5 Da sprach Sarai zu Abram: Das Unrecht, das mir geschieht, komme über dich! Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben; nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der Herr sei Richter zwischen mir und dir. 6 Abram aber sprach zu Sarai: Siehe, deine Magd ist unter deiner Gewalt; tu mit ihr, wie dir's gefällt. Da demütigte Sarai sie, sodass sie vor ihr floh. 7 Aber der Engel des Herrn fand sie bei einer Wasserquelle in der Wüste, nämlich bei der Quelle am Wege nach Schur. 8 Der sprach zu ihr: Hagar, Sarais Magd, wo kommst du her und wo willst du hin? Sie sprach: Ich bin von Sarai, meiner Herrin, geflohen. 9 Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Kehre wieder um zu deiner Herrin und demütige dich unter ihre Hand. 10 Und der Engel des Herrn sprach zu ihr: Ich will deine Nachkommen so mehren, dass sie der großen Menge wegen nicht gezählt werden können. 11 Weiter sprach der Engel des Herrn zu ihr: Siehe, du bist schwanger geworden und wirst einen Sohn gebären, dessen Namen sollst du Ismael nennen; denn der Herr hat dein Elend erhört. 12 Er wird ein Mann wie ein Wildesel sein; seine Hand wider jedermann und jedermanns Hand wider ihn, und er wird sich all seinen Brüdern vor die Nase setzen. 13 Und sie nannte den Namen des Herrn, der mit ihr redete: Du bist ein Gott, der mich sieht. Denn sie sprach: Gewiss hab ich hier hinter dem hergesehen, der mich angesehen hat. 14 Darum nannte man den Brunnen: Brunnen des Lebendigen, der mich sieht. Er liegt zwischen Kadesch und Bered. 15 Und Hagar gebar Abram einen Sohn, und Abram nannte den Sohn, den ihm Hagar gebar, Ismael. 16 Und Abram war sechsundachtzig Jahre alt, als ihm Hagar den Ismael gebar. (Genesis 16,1-16)

Geliebte Gottes in der Gäufelden,

"Du bist ein Gott, der mich sieht." So lautete die Jahreslosung 2023. Der Bibelvers also, auf den wir Christ:innen uns geeinigt hatten, sozusagen als Überschrift über das ganze Jahr. Entsprechend oft haben wir letztes Jahr darüber geredet. Zumindest am Anfang. Da hat es uns Mut gemacht. Ist zum Trost geworden.

Lange ist das her. Längst haben wir eine andere Jahreslosung. Wisst ihr die noch?

Der alte Text ist dadurch ja aber nicht verschwunden. Oder "ungültig" geworden. Heute, mitten in der österlichen Freudenzeit, begegnet er uns wieder. Vielleicht, weil der Hirte seiner Schafe nur zu gut weiß, das wir das immer wieder hören müssen. Hören wir also noch einmal hin: "Du bist ein Gott, der mich sieht."

Manches kann man sich nicht oft genug sagen lassen. Schon gar nicht an einem Wochenende, an dem drei Gemeindeversammlungen in Gäufelden hinter uns liegen. Die waren alle gut. Sie haben uns, den Gemeindeleitenden, Mut gemacht für den weiteren Weg. Und trotzdem waren sie ja auch voller Zahlen und Fakten, die es einem ganz anders werden lassen. Vielleicht müssen wir es ja auch deshalb heute noch einmal hören:

"Du bist ein Gott, der mich sieht." Nicht für jede:n hört sich das sofort nach einer guten Überschrift über ein Jahr, einen Tag, für die Zukunft an. Für viele schwingt da erst einmal ein kritischer Unterton mit. Erinnerungen an ein Gottesbild, das vielleicht in der Kindheit so vermittelt wurde und nicht selten das ganze Leben geprägt hat. Der erhobene Zeigefinger: Pass auf, was du tust! Gott sieht alles. Pass auf, was du sagst: Gott sieht alles! Pass auf, was du denkst! Gott sieht alles. Die Idee vom alles überwachenden Gott, der selbst in die verborgensten Regungen des Herzens hineinsieht und dem man es irgendwie nie recht machen kann. Immer fühle ich mich schuldig. Immer werde ich an mein eigenes Versagen erinnert. Immer erscheint Gott als der mindestens kritisch Dreinblickende, wahrscheinlich aber sogar als der hart Richtende.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Bevor wir jetzt diesen Text gleich wieder weglegen, sollten wir ihn zumindest einmal in seinem Zusammenhang verstanden haben. Da klingt das nämlich gleich ganz anders.

Du bist ein Gott, der mich sieht.

Es sind Worte aus der Wüste, die wir da gehört haben. Dort sitzt sie nämlich, die Frau, die sie ausspricht. Erschöpft und niedergeschlagen sitzt sie an einem Brunnen in der Wüste. Um sie herum: Nur weite Leere. Nichts, was Hoffnung geben könnte. Kein Ziel vor Augen. Kein Platz, der Geborgenheit bietet. Keine Heimat. Keine Perspektive. Keine Zukunft. Sie sitzt dort, am Ende ihrer Kräfte, weil sie abgehauen ist. Sie hat es nicht mehr ausgehalten, wie man sie behandelt hat. Die Frau, die dort sitzt, ist keine Heilige. Sie ist keine sanftmütige Pietistin, die in der Stille des Morgens mit einer Tasse Kaffee über Gott nachsinnt und ihn als den wahrnimmt, der sie sieht.

Die Frau ist ein Nichts. Eine Ausländerin aus Ägypten. Eine Sklavin, Eigentum der Frau eines Patriarchen. Ausgebeutet: Sie ist nur da, um ihre Arbeitskraft für andere zu geben. Und manchmal auch mehr als ihre Arbeitskraft. Für uns heute kaum vorstellbar -- und doch auch noch schreckliche Realität an anderen Orten in unserer heutigen Welt: Manchmal ist sie auch einfach nur eine Gebärmutter. Denn als die Besitzerin dem Patriarchen keine Kinder gebären kann, da muss sie herhalten. Zum Sex gezwungen mit einem Mann, ohne Liebe, ohne ihre Zustimmung, ohne überhaupt ein Interesse für ihre Person -- und das so oft, bis sie schließlich schwanger wird. Mir graust vor dieser Geschichte und vor Abram und Sarai (später werden sie Abraham und Sara heißen), die wir oft so verklären in unseren Bibelgeschichten.

Man hätte ja annehmen können, dass alles mindestens besser würde, jetzt, wo sie das Kind des Patriarchen austrägt -- den erhofften Erben, seit so vielen Jahren sehnsüchtig erwartet. Den, der einmal das erwählte Volk Gottes leiten soll. Man hätte annehmen können, dass wenigstens das ihren Status irgendwie verbessert hätte. Nein. Im Gegenteil. Was jetzt stattfindet, macht alles noch schlimmer. Wir nennen das heute Täter-Opfer-Umkehr. Die Täter, die, die sie ausgenutzt haben, stilisieren sich selbst zu den Opfern: "Ich habe meine Magd dir in die Arme gegeben;", sagt Sarai zu Abram, "nun sie aber sieht, dass sie schwanger geworden ist, bin ich gering geachtet in ihren Augen. Der Herr sei Richter zwischen mir und dir." Den Patriarchen interessiert sie gar nicht: Mach doch, was du willst. Es ist deine Sklavin. Für sie kommt zu Ausbeutung und Missbrauch nun auch noch die ständige Demütigung durch die Besitzerin. Kein Wunder, dass sie wegrennt.

Und nun sitzt sie in der Wüste. Wertlos. Gedemütigt. Ausgenutzt. Hilflos. Hoffnungslos. Am Ende.

Was bleibt ihr denn noch im Leben, der entlaufenen Sklavin, ohne Wert, ohne Heimat, ohne einen Vater für ihr Kind? Ohne Zukunft?

Gott. Gott bleibt ihr.

"Gott?" hätte sie wahrscheinlich jetzt bitter gefragt. "Was soll der schon für mich tun?" Für sie ist der Gott, an den wir glauben, der Gott von Abram und Sarai. Der Gott der Ausbeuter und der Täter. Natürlich kennt sie die Geschichte. Man wird sie ja oft genug erzählt haben, abends am Feuer. Sie ist die Antwort auf alle Fragen, warum die Sippe des Patriarchen nicht irgendwo sesshaft wird, sondern immer weiterzieht durch fremde Lande -- mit Zelten und Vieh und Sklavinnen wie Hagar. Gott steckt dahinter. Gott -- mit seinem Versprechen an Abram: ein Land, ein Kind und ganz viel Segen für die ganze Welt. Gott hat ihn auserwählt. Gott selbst hat zu ihm geredet. Gott ist auf seiner Seite -- und das war Grund genug, damals die gesicherte Existenz zu verlassen und seither wartend durch die Welt zu ziehen. Gott hinterher! Irgendwann wird er sagen: Wir sind am Ziel. Irgendwann wird sein Versprechen erfüllt sein. Irgendwann wird Abram zu "Abraham", dem "Vater der Vielen". Und die, die ihn langsam für verrückt erklären, werden erkennen, wen Gott freundlich ansieht.

Hagar ist nicht überrascht. Die vielen Götter des antiken Orient stehen immer auf der Seite der Mächtigen. Für Menschen wie Hagar gibt es keine Götter.

Für sie gibt es nur Wüste. Und Leere. Und Hoffnungslosigkeit.

Bis der Engel des Herrn sie dort findet.

"Der Herr hat dein Elend erhört."

Bis Hagar, die Ausländerin, die Sklavin, die Wertlose, sich herausnimmt, Gott einen Namen zu geben: El Roi. "Der Gott, der mich sieht."

Der Gott, der mich sieht.

Nicht nur die Starken.

Nicht nur die Heiligen.

Nicht nur die, die ohne Fehler sind.

Nicht nur die, die sich mit seinem Namen schmücken.

Nicht nur die, die sich seines Segens gewiss sind.

Nicht nur die, die einen Titel tragen.

Nicht nur die, die oft genug in die Kirche gehen.

Auch nicht nur die Kirchengemeinden, die stark und wachsend sind, wo es Mitarbeitende und Programme ohne Ende gibt. Die von einem Erfolg zum anderen eilen.

El Roi. Der Gott, der mich sieht.

Mich. Und uns, hier in Gäufelden.

Denn so ist er wirklich, unser Gott.

Er schaut hinein in die letzten Winkel der Wüste und sieht die verzweifelte Hagar.

Er schaut hinein in die Flüchtlingslager und sieht die Menschen ohne Heimat und Hoffnung.

Er schaut hinein in die Fabriken in Bangladesch und sieht die Kinder, die dort arbeiten müssen und keine Perspektive auf Verbesserung im Leben haben.

Er schaut hin, wo Frauen ihre Körper verkaufen müssen, um genug zum Leben zu haben.

Er sieht die junge Frau, die schwanger ist und nicht weiß, wie sie das schaffen soll.

Er sieht das Kind, das zuhause leiden muss und keiner nimmt es wahr.

Er sieht die, die abgelehnt werden von anderen: Sei es wegen ihres Aussehens, wegen ihrer Herkunft, wegen ihrer Sexualität, oder warum auch immer. Wo andere betreten wegschauen, da schaut er hin.

Er sieht hinter die heruntergelassen Rolläden, wo ein alter Mensch einsam sitzt und keiner kommt.

Er sieht Menschen, die auch in Gemeinschaft mit anderen letztlich einsam bleiben.

El Roi. Der Gott, der mich sieht. Er übersieht keinen.

Er sieht auch nach Gäufelden. Er schaut hinein in unsere Kirche, in unsere Gemeinde.

Er schaut hinein in dein Zuhause. In dein Zimmer. Auch in dein Herz. Er sieht dich. Er kennt dich. Er weiß, was dich umtreibt.

El Roi. Der Gott, der dich sieht. Er hat dich nicht vergessen.

Er hat uns in Gäufelden nicht vergessen. Nebringen nicht. Tailfingen nicht.

Und sein Blick, wie dort bei Hagar, ist keiner, der anklagt. Keiner, der richtet. Keiner, der teilnahmslos weiterschaut.

Sein Blick ist voller Liebe. Sein Blick ist voller Erbarmen. Sein Blick ist voller Hoffnung für dich.

El Roi. Der Gott, der dich sieht.

Voller Hoffnung. Er ist der Grund, warum ich nicht aufhöre, zu sagen: "Wir haben Hoffnung". Nicht Zahlen. Nicht Strukturen und Modelle. Nicht Erfolge. Er. Weil er uns sieht.

Er ist der Gott, der neben dir steht. Der bei dir ist. Der dich nie alleine lässt. Der zu dir kommt und mit dir geht, auch wenn es durch Wüstenstrecken geht. Er ist der Gott, der sich immer und überall und bedingungslos seinen Menschen zuwendet. Der mit uns durch Leben und Sterben geht. "Immanuel" haben wir ihn genannt. "Gott mit uns."

In Christus haben auch wir ihn gesehen. Das haben wir Hagar voraus. In Christus bekam er ein menschliches Angesicht. Wir konnten entdecken, wahrnehmen, dass er überall dort ist, wo wir Menschen unterwegs sind. Dass er das alles nicht nur sieht, sondern selbst mitgeht. Selbst in die schwierigsten Momente. Ins Sterben hinein. Und dass er daraus aufersteht. Er ist wahrhaftig auferstanden! Wir sind die, die an ihm gesehen haben, dass er selbst die aussichtslosesten Situationen verwandeln kann. Von dem, der das kann, lassen wir uns gerne sehen. Das ist es, was uns Hoffnung gibt.

Er betritt auch jeden Moment der Zukunft mit uns. Nie wird er dich aus seinen Augen lassen. Was auch geschehen wird -- wer weiß das schon? -- er bleibt immer in Sichtweite.

El Roi. Der Gott, der mich sieht.

Mit ihm kann ich erhobenen Hauptes in alles gehen, was kommt. Ich bin gesehen. Von Gott, der mich sieht. Und dich auch.

Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Meine Schafe hören meine Stimme, und ich kenne sie, und sie folgen mir; und ich gebe ihnen das ewige Leben (aus Johannes 10)

Amen.


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