Ex nihilo - Martin Burckhardt

Gedanken zur Zeit

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Die Verwandlung I


VademecumAls Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.  (Franz Kafka, Die Verwandlung)

Kann man sich überhaupt irgendetwas Furchterregenderes vorstellen als eine solche Verwandlung? Ja. Wenn der Betreffende nicht bemerkt, dass ihm dergleichen widerfahren ist, und zwar, weil nicht seine Körperlichkeit, sondern sein Inneres einer solch monströsen Verwandlung unterlegen ist. Genau dies ist der Grund für die 4-teilige Serie, welche die Geschichte der Silk Road erzählt, jener ominösen Plattform, welche die Welt des Internets zwischen 2011 und 2013 beschäftigt hat und die den beschuldigten Ross Ulbricht mit einem horrenden Urteil abstrafte, einer doppelt lebenslangen Haftstrafe, die, um weitere 40 Jahre ergänzt, jede Möglichkeit auf eine vorzeitige Haftentlassung unterbinden sollte. Vertieft man sich jedoch in die Einzelheiten dieses Geschichte, begreift man sehr bald, dass man es nicht mit einem Einzelfall, sondern mit einer kollektiven Metempsychose zu tun hat, einer Verwandlung, der auch wir, die wir gelernt haben, mit unseren Avataren zu leben, unterlegen sind - ob wir dies wollen oder nicht.

Foto: Martin Burckhardt via Leonardo.aiAufstieg und Fall des Dread Pirate Roberts

I Der Anfang der Geschichte

Manchmal beginnt eine Geschichte früher, als ihren Protagonisten bewusst ist. Und manchmal ist sie schon zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hat (wie in der Freudschen Bemerkung über den jungen Mann, »der eine große Zukunft hinter sich hat«). Dann wieder gibt es Geschichten, die, aus Versatzstücken zusammengesetzt, merkwürdig unwirklich oder karnevalesk anmuten, wie ein Maskenball oder einer jener Treppenwitze der Geschichte, bei denen man sich fragt, ob sie den Aufwand einer Interpretation überhaupt lohnen. Wenn hier die Geschichte der Silk Road und ihres Gründers, des Dread Pirate Roberts, erzählt werden soll, so stellt die Entscheidung, in welchem Genre man sie ansiedelt, bereits eine Auslegung dar. Folgt man der Perspektive der Ankläger, so ist die Angelegenheit klar, begegnen wir hier einem Eliott Ness der Cyberkriminalität, der sich einer übermächtigen Verschwörung in den Weg gestellt hat und dem es gelungen ist, den Staatsfeind Nr. 1 dingfest zu machen. Was für ein Sumpf! Ein Ebay für Drogen, mit Sternen und Kundenbesprechungen, Versand über FedEx! Wenn Suburbia, der Hort aller Tugend, von Drogen überschwemmt zu werden droht, verwundert es nicht, dass Stimmen laut werden, dies zu unterbinden. Sonderbar bloß, dass die lauteste einem Politiker gehört, der sich im Falle des Glass Steagall Acts von 1996 als Befürworter der vollständigen Befreiung der Finanzmärkte bemerkbar gemacht hatte: Senator Charles »Chuck« Schumer.

Umgekehrt redet sein Gegenspieler wie ein Verwandter im Geiste. Wie Schumer preist auch der Dread Pirate Roberts die Vorzüge des freien Marktes, und weil dies nicht bloß auf Rhetorik, sondern auf tiefste Überzeugung zurückgeht, vermag er als Treuhänder dieser Ordnung, ja geradezu als politischer Visionär in Erscheinung zu treten – nur dass man es in diesem Falle nicht mit Devisen-, sondern mit Drogenhandel zu tun hat. Vertieft man sich in die Einzelheiten des Falles, verliert sich jede moralische Eindeutigkeit. Wie in einem Spiegelkabinett zersplittert das Bild, wachsen sich Körperglieder zu grotesk verformten Monstrositäten aus, beginnen den Menschen gleich mehrere Köpfe zu wachsen. Fair is foul and foul is fair. Wie soll man sich zurechtfinden, wenn das Mastermind der Verschwörung ein liebenswerter junger Mann ist, während umgekehrt staatliche Ermittler auftreten, deren kriminelle Energie alles in den Schatten stellt, was die vermeintlichen Übeltäter aushecken? Und weil sich alles immer weiter verknäult, wechseln die Rollen: Da wird erpresst und gelogen, da werden Morde fingiert und Mordaufträge gegeben, und all dies trägt Züge eines durchgeknallten Computerspiels, bei dem die Anteilnahme aller Beteiligten schließlich auf den Gefühlswert eines Emoticons herabsinkt. Wie in der Geschichte des Chemielehrers, der sich zum bösen Drogenbaron wandelt, beginnt das Übel zu metastasieren – nur dass es nicht mehr einen einzelnen Menschen, sondern eine ganze Gesellschaft betrifft. Freilich: von alledem ist in dem Urteil, das die Richterin Katherine Forrest schließlich über die Geschichte gefällt hat, nichts mehr zu lesen. Hier behauptet sich eine Moral, die dem moralischen Dilemma dadurch ausweicht, dass sie den Feind gleich für immer wegsperrt, sein Verschwinden aber damit begründet, es müsse ein Präzedenzfall geschaffen werden. So wurde Ross Ulbricht zu einer doppelt lebenslangen Strafe verurteilt – nicht weil er dieses oder jenes Verbrechen begangen, sondern weil er sich über das Gesetz gestellt hatte: »Klar ist, dass Sie als Dread Pirate Roberts der Kapitän des Schiffes waren und dass Sie sich ihr eigenes Recht geschaffen haben. Das war Ihr Werk, und es sollte Ihr Vermächtnis werden.« Was er getan habe, fuhr die Richterin fort, sei präzedenzlos – und dementsprechend müsse er (so die krause Logik) bestraft werden, wie jeder andere Drogendealer auch.

Folgt man der Anklage, ist der Fall überaus simpel: Ein junger, vielversprechender Mann errichtet eine Website, auf der Drogenhändler, geschützt durch die Anonymität des Tor-Browsers, aber auch der Bitcoin-Währung, gefahrlos ihre dunklen Geschäfte abwickeln können. Mag der junge Mann einer libertären Ideologie huldigen, ja, selbst eine wöchentliche Leserunde mit seinen Klienten abhalten, so können derlei Äußerungen nichts weiter als die Camouflage handfester, materieller Interessen gelten – was sich in einem akkumulierten Bitcoin-Vermögen von umgerechnet 150 Millionen Dollar zeigt (wobei ein nicht unbeträchtlicher Teil dieses Vermögens den Spekulationsgewinnen der Währung zuzuordnen ist). In dieser Lesart handelt es sich nicht nur um einen maliziösen Drogenbaron, sondern um einen Feind der öffentlichen Ordnung. Tatsächlich kann diese Lesart des Geschehens mit einigen Argumenten aufwarten: Logfiles der Plattform, die belegen, dass der Betreffende, in die Ecke gedrängt, auch zum Einsatz von Folter, ja selbst zu Exekutionen seiner Feinde bereit war. Nun ist bis heute keine Leiche aufgetaucht, ja stellte sich heraus, dass die Angebote, seine Feinde zu beseitigen, auf Aktivitäten korrupter DEA und Secret-Service-Agenten zurückgingen.

Nimmt man auf der anderen Seite die Reaktionen, die die Verhaftung des Ross William Ulbricht begleiteten, so begegnet man: ungläubigem Erstaunen. Tatsächlich scheint die Geschichte geradezu ein Versehen. Keiner seiner Bekannten kann sich vorstellen, dass der junge Mann, der in einer öffentlichen Bibliothek festgenommen wurde, der Alleinherrscher jenes kriminellen Imperiums ist, das im November 2011 in einem Beitrag des Webmagazins Gawker erstmals Schlagzeilen machte. Hier wurde unter dem Titel: The Underground Website Where You Can Buy Any Drug Imaginable einer schaurig-erregten Öffentlichkeit klargemacht, dass der Parallelwelt des Internet eine Unterwelt zugewachsen war, die wie eine Parodie auf Ebay, Amazon und Konsorten anmutete – und als deren Propagandist ein gewisser Dread Pirate Roberts auftrat, eine Mischung aus Drogenbaron und politischem Untergrundkämpfer.

Freilich: dieses Bild will mit jenem 29-jährigen jungen Mann, der im Juli des 2013 in San Francisco ein Zimmer anmieten will, nicht zusammengehen. So berichtet der Mitbewohner, der zwei Monate mit ihm zusammengelebt hat, von einem Wohnungsgenossen, der sich von all den hysterisierten Startup-Kandidaten wohltuend unterschied, ein »Techie« gewiss, »aber er verhielt sich anders. Er schien eloquent, optimistisch, bodenständig. Er schien vertrauenswürdig.« Statt sich über seine Erfolge auszulassen, redet der vermeintliche Bitcoin-Händler über die Vorzüge verschiedener Biersorten – und gibt er zu verstehen, dass er seinen Facebook-Account gelöscht habe. Jemand, der kein Smartphone besitzt, auf seiner DeviantArt-Seite, unter dem Titel »Natural Beauty«, ein Selbstporträt mit Tiger, Papageien und Blumen zeigt, eine harmlose Bleistiftzeichnung, die auch durch eine andere Zeichnung, ein psychedelisches Gruselbild à la William Blake, keine größere Tiefe gewinnt. Niemand, weder Freunde noch Bekannte, geschweige denn seine Familienangehörigen können dem Erscheinungsbild des Ross William Ulbricht die sinistre Doppelexistenz des Dread Pirate Roberts zuordnen.

Die Spuren, die man im Internet über ihn findet, zeigen einen gutaussehenden jungen Mann, der, manchmal bärtig, manchmal rasiert, am Strand oder zwischen Felsen posiert, mit Rucksack, Mutter, Schwester oder Freundin. Ein Naturbursche und Surfertyp, barfuß und mit nacktem Oberkörper.

Man findet die Masterarbeit eines jungen Physikers, die sich unter dem Titel »Growth of EuO Thin Films by Molecular Beam Epitaxy« mit einer nanotechnologischen Fragestellung beschäftigt. Ihr erster Satz lautet: »Das Material der Wahl definiert nicht selten eine historische Ära. Die Stein- und die Bronzezeit sind Belege dafür. In der modernen Zeit sind fast alle Materialien revolutioniert worden.« Zwei, drei Berichte in einer Studienzeitung, in denen er sich zur Überregulierung des staatlichen Gesundheitswesens äußert und die Kräfte des freien Marktes zur Heilung anruft. Man findet das Video, das er mit seinem besten Freund geführt und auf die Storycorps-Seite hochgeladen hat, die sich der Oral History verschrieben hat.

Redet der Freund, den es nach einer abgebrochenen Karriere als Möchtegern-Filmemacher, nach San Francisco gezogen hat, darüber, dass er hier jene beiden Dinge zusammenzubringen sucht, die der Film offenkundig nicht hat ermöglichen können (Geld und Kreativität), hört er meistens zu und wird erst gesprächiger, als es um Frauen, gemeinsame Highschool-Erfahrungen, oder die Zukunft des Silicon Valley geht. Das Gespräch hat etwas Naives, wie jede adoleszente Selbstvergewisserung naiv und arglos sein muss – und niemand, wirklich niemand der wenigen Menschen, die es sich angeschaut haben, wird auf den Gedanken verfallen sein, dass sich hier der Tycoon eines Multimillionen-Dollar Geschäfts zu Wort meldet. Allein seine etwas unbescheidene Antwort auf die Frage, wo er sich in zwanzig Jahren sehe (Bis dahin wolle er einen substanziellen und positiven Beitrag für die Zukunft der Menschheit geleistet haben), lässt durchblicken, dass man es hier nicht mit einem lässigen Slacker, sondern mit einem durchaus ehrgeizigen jungen Mann zu tun hat. Diese andere Seite jedoch schlägt sich allein in seinem LinkedIn-Eintrag durch, in dem er die Verlagerung seiner Interessen begründet, von der Werkstofftechnik und der Kristallographie hin zum freien Unternehmertum:

»Jetzt haben sich meine Ziele verschoben. Ich möchte die ökonomische Theorie als Mittel einsetzen, um den Gebrauch von Zwang und Aggression unter den Menschen abzuschaffen. So wie die Sklaverei fast überall abgeschafft worden ist, so glaube ich, dass Gewalt, Zwang und alle Formen der Machtausübung eines Menschen über einen anderen an ihr Ende gekommen sind. Der weitverbreitetste und systematische Einsatz von Gewalt findet auf Seiten der Institutionen und der Regierung statt, und genau hier setze ich an. Die beste Art und Weise, eine Regierung zu verändern, besteht darin, die Köpfe der Regierten zu verändern. Zu diesem Zweck arbeite ich an einer ökonomischen Simulation, um Menschen eine Erfahrung erster Hand zu vermitteln, wie es wäre, in einer Welt ohne systemische Gewalt zu leben.«

Folgt man der dürren Vita seines LinkedIn-Profils, so ist dieses ominöse Projekt die Fortsetzung einer Unternehmung namens Good Wagon Books, die der junge Mann in einem Garagenkomplex initiiert, oder genauer: von seinem Nachbarn übernommen hat. Allerdings weisen weder das Geschäftsmodell noch das Ziel dieser Unternehmung auf ein besonders ausgeprägtes Gewinnstreben hin, handelt es sich doch um eine eher nachbarschaftlich organisierte Unternehmung, bei der Menschen ihre alten Bücher abstoßen und sie neuen Lesern zukommen lassen können. Obwohl »wir technisch betrachtet eine profitorientierte Gesellschaft sind, machen wir keinen Profit, weil wir soviel an soziale Zwecke abgeben.« Wie, so lautet die Frage, die sich Familienangehörigen, Freunden und Bekannten des jungen Mannes stellen musste, wie konnte dieser junge Mann nur zum Drogenbaron und zum Staatsfeind mutieren?

Mit dieser Frage fangen wir, wenn wir sie nicht unter Einkaufspreis beantworten wollen, wieder ganz von vorne an. Denn die Einsicht, die aus Ross Ulbricht den Schöpfer der Silk Road machen sollte (die zu Anfang noch Underground Brokers heißen sollte), ist nicht aus der Biografie des jungen Mannes herzuleiten. Tatsächlich ist er weder Schurke noch Held, sondern vor allem Kind seiner Zeit, einer Zeit, die den Abgrund, der sich zwischen den Institutionen und der Technik aufgetan hat, nicht in ein zeitgemäßes Denken, geschweige denn in ein politisches Ordnungssystem hat überführen können. In dieser Geschichte ist der 1.1.1970 ein markantes Datum, nicht nur weil hier The Epoch, das Computerzeitalter beginnt, sondern weil zugleich klar wird, dass das Moment der globalen Vernetzung die absolute Vormacht der nationalstaatlichen Einheiten bricht. Das erste, markante Symptom des nahenden Sturms ist der Zusammenbruch von Bretton Woods. Denn damit war nicht nur die Ablösung vom Goldstandard und das Ende der monetären Nachkriegsordnung, sondern auch der Beginn der Globalisierung besiegelt: Fortan war das Kapital nicht mehr in den Kapitalen zuhause, sondern verwandelte sich zu einem dematerialisierten Fließgleichgewicht, das von anonymen Finanzmärkten aufrechterhalten wurde. An dieser Zeitschwelle öffnet sich ein doppelter Raum: zum einen die Verheißung einer weltweiten Kommunikationsapparatur, zum andern die Vorstellung einer Weltwährung, die frei ist von den marktverfälschenden Interventionen der Nationalstaaten. Mochten die Zeitgenossen die Aussicht auf eine grenzenlose, nie zuvor genossene Freiheit darin sehen, so ist die Macht, die sich hier Bahn bricht, von eher janusköpfiger Art. Gewiss verleiht sie den Marktteilnehmern eine nie zuvor gekannte Weltläufigkeit, auf der anderen Seite jedoch bringt sie all jene Mittel hervor, die wie eine Schreckenskammer des totalen Staates anmuten. Tatsächlich – und das unterscheidet sie vom Orwellschen Monster – ist die Logik dieser Macht strukturell janusköpfig, korrespondiert der digitalen Entgrenzung stets eine Entgrenzung auch ihres Missbrauchs. Denn wenn jede Transaktion im digitalen Raum geloggt werden kann, so wird das Netz, unweigerlich, zu einer Falle jeder Privatheit – tut sich das Schreckensszenario des Verlustes aller bürgerlichen Freiheiten auf.

Einer der Pioniere, der diese Problematik früh erkannt und sich ihrer angenommen hat, ist der Kryptologe David Chaum, der im Jahr 1981 die theoretische Grundlage für die verschlüsselte Kommunikation, aber auch für eine anonymisierte Währung gelegt hat. In einem kleinen Text für den Scientific American, drei Jahre vor der Geburt des Ross William Ulbricht, beschreibt er das System einer digitalen Signatur, bei der Mikroprozessoren die Pseudonyme und Zugangsprozeduren, ja selbst das Geld ihrer Nutzer verwalten. Seine Lösung ist insofern überraschend, als sie, strukturell betrachtet, eine schizophrene Einheit vorsieht: Gibt es hier einerseits einen Repräsentanten, der für das Interesse des Nutzers steht, gibt es anderseits einen Beobachter, der die Kommunikationen mit externen Agenten überwacht. Beide zusammen generieren für jede Transaktion Schlüssel, die zusammengesetzt ein digitales Pseudonym darstellen. Dabei interagieren die beiden Entitäten wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, wo der eine nicht weiß, was der andere tut – und genau diese Unwissenheit, diese strukturelle Spaltung, führt dazu, dass man die Person nicht mehr dingfest machen kann. Zwar weiß die Bank, wenn sie den öffentlichen Schlüssel des Auftraggebers empfängt, dass es sich um einen legitimen Nutzer handelt, kann also die erwünschte Transaktion ausführen – aber sie fungiert dabei wie ein blinder Treuhänder, der im nachhinein weder die Summe, noch Absender und Empfänger dingfest machen kann. Auf diese Weise werden Zahlungs- oder Kommunikationsakte ermöglicht, die (unter der Voraussetzung, dass sich nicht unbefugte Personen eines Repräsentanten bemächtigen) vollständige Anonymität und Fälschungssicherheit gewähren. Hier liegt, politisch besehen, der Clou dieses Konzepts: Denn der Repräsentant ist nicht der Nutzer selbst, sondern das Gerät, über das er verfügt: seine Kreditkarte, sein Computer, sein Smartphone.

Mochten Chaums Gedanken in den 80er Jahren noch einigermaßen futuristisch anmuten, so zeigen Systeme wie Phil Zimmermans Pretty Good Privacy, dass die Anonymisierung von Kommunikationsakten bereits im Jahr 1991 eine ökonomische Notwendigkeit darstellte. Und mit der Popularisierung des Internets macht sich der Wunsch nach einer digitalen Privatsphäre immer stärker bemerkbar. Also entstehen jene beiden Repräsentanten, die den Tausch von Informationen und Geld verlässlich anonymisieren: der Tor-Browser und die Bitcoin-Währung. Scheinen diese Werkzeuge einem libertären, anti-etatistischen Denken zu entsprechen (das seinen perfekten Ausdruck in einer Unternehmung wie Wikileaks findet), so ist der Tor-Browser, der die Problematik des anonymen Surfens zu lösen versprach, nicht von irgendwelchen Halbweltgestalten, sondern im Auftrage der DARPA und mit Geldern des Naval Research Laboratory entwickelt worden – mit dem erklärten Ziel, Menschen, die sich in Unrechtsstaaten politischer Verfolgung ausgesetzt sehen, ein Kommunikationswerkzeug in die Hand zu geben, mit dem sie gefahrlos mit Gleichgesinnten in Verbindung treten können. Versucht man die Architektur des Browsers zu erfassen, so kann man sich der Metaphorik anvertrauen, die die Kryptologen gewählt haben: The Onion Router (TOR) bedient sich des Bildes einer Zwiebel, weil er den Kommunikationsakt des Nutzers hinter einer Reihe von hintereinandergeschalteten, zufällig zusammengewürfelten Servern versteckt. In der Vielschichtigkeit wird die IP-Adresse des Nutzers (die eine Art habeas corpus darstellt) unlesbar, wird der Nutzer mit einer digitalen Tarnkappe versehen und bleibt somit: unsichtbar.

Nimmt man den Aufstieg und den Fall des Ross William Ulbricht, sieht man, dass er mehr mit der kryptographischen Logik des David Chaum als mit einer, wie auch immer gearteten, Psychologie zu tun hat. Bestand der Geniestreich der Silk Road darin, Händlern und Käufern verbotener Substanzen einen doppelt verschlüsselten Markt zur Verfügung zu stellen, ging es bei der Zerschlagung dieser Organisation nicht um den Mann, der am 1. Oktober 2013 in einer öffentlichen Bibliothek am Glen Park in San Francisco festgenommen wurde, sondern um seinen Repräsentanten: Ulbrichts Samsung 700z, der ihm buchstäblich unter den Fingern weggerissen werden musste – und zwar ohne dass sein Inhaber Gelegenheit finden sollte, das Gerät zuzuklappen. Denn mit dieser Bewegung hätte sich das System verschlüsselt und wäre zu einer uneinnehmbaren Festung geworden. Schon vor Wochen hatten die FBI-Agenten die Identität des Dread Pirate Roberts enttarnt und wussten, dass er ganz in der Nähe ein Zimmer angemietet hatte. Aber über die Lektüre seiner Mails war ihnen klar, dass sich Ulbricht für einen solchen Augenblick präpariert hatte: er jedenfalls rühmte sich damit, dass er, wann immer ihm dies probat erschiene, mit einer Tastenkombination alle Daten auf seinem Computer löschen konnte. Folglich war der Zugriff, bei dem ein halbes Dutzend Personen ihre verteilten Rollen zu spielen hatte, eine merkwürdige Mischung aus physischer und telematischer Präsenz. Während Ross Ulbricht zunächst zu Hause saß, befand sich ein Agent, Yared Der-Yeghiayan, nur ein paar Schritte entfernt in jenem Café Bello, wo man das Mastermind, mithilfe der Geolokalisierung der IP-Adresse, erstmals physisch ermittelt hatte.1 Dem Agenten war es unter dem Pseudonym Cirrus gelungen, sich in den zurückliegenden Wochen sein Vertrauen zu erschleichen und zum Administrator der Seite befördert zu werden. Seine Aufgabe bestand nun darin, mit dem ominösen Dread Pirate Roberts Kontakt aufzunehmen – um auf diese Weise festzustellen, wann er seinen Computer eingeschaltet hatte. Zugleich waren Beamte in Rejkavijk und in Frankreich vor Ort, um bei seiner Festnahme Zugriff auf die Bitcoin-Konten zu gewinnen. Die Planung war, dass man ihm injenem Café festnehmen würde, dass man schon seit dem Juni im Auge hatte: dem Café Bello in der Diamond Street. Aber als der Mann, den der Agent als Ross Ulbricht erkannte, das Café betrat, blieb er nicht lange – möglicherweise auch deswegen, weil die Stromdosen allesamt belegt waren (was auch Der-Yeghiayan an seinem bedenklich abfallenden Akku feststellen konnte). Wenig später jedenfalls verließ er das Café und ging in die Glen Park Library auf der anderen Straßenseite: einen hellen, zweistöckigen Bau. Mit einem Email informierte der Leiter des Einsatzes, Tarbell, über die Änderung des ursprünglichen Plans. Das Hauptelement der Planung jedoch blieb unverändert: ein Paar sollte mit einer lautstarken Beziehungsauseinandersetzung Ulbrichts Aufmerksamkeit auf sich ziehen – und dieser Augenblick der temporären Ablenkung sollte von einer dritten Person genutzt werden, ihm den Computer unter der Hand wegzuziehen. Hier lag der Kerngedanke der ganzen Operation, den ihr Leiter, der FBI Agent Tarbell folgendermaßen formuliert hatte: »Schnappt euch den Laptop. Deswegen sind wir hier. Schnappt euch den Laptop und haltet ihn am Leben.« Dieser Akt allerdings setzte nicht nur voraus, dass Ulbricht seinen Computer eingeschaltet, sondern als Mastermind in der Silk Road eingeloggt sein sollte – und genau darin bestand die Aufgabe Der-Yeghiayans, denn er sollte Dread Pirate Roberts in ein Gespräch verwickeln. Als Ulbricht die Bibliothek betrat, waren bereits zwei Agenten anwesend, Thomas Kiernan, der Dinosaurier der New Yorker Abteilung (ein schon etwas betagter Herr) und ein zweiter Agent. Sie sahen, wie Ulbricht in den zweiten Stock der Bibliothek hinaufstieg und sich in der Science Fiction Abteilung niederließ, in einer Ecke, mit dem Rücken zur Wand und Blick auf dem Fenster. Währenddessen konnte Der-Yeghiayan, mit Blick auf seinen schwindenden Akku, beobachten, wie sich Ulbricht als Dread Pirate Roberts einloggte, dann zum Marktplatz navigierte, ins Forum schaute und dann das Elite Chat-Fenster öffnet, wo Cirrus darauf wartete, ihn endlich begrüßen zu können:

10:08:57 PM cirrus: HiFehlermeldung: Du hast eine verschlüsselte Nachricht gesandt, aber dread war nicht auf die Verschlüsselung vorbereitet. 10:09:58 PM cirrus: Bist du das?10:10:26 PM dread: Hej10:10:29 PM cirrus: Wie geht’s?10:10:38 PM dread: Mir geht’s gut, und du?10:10:54 PM cirrus: Gut, tust du mir den Gefallen und schaust du dir eine der markierten Nachrichten an? 10:12:12 PM dread: Klar 10:12:15 PM dread: Ich muss mich nur schnell einloggen

Damit aber das Ziel erreicht, hatte sich Ross Ulbricht im zweiten Stock der Bibliothek in das Konto des Dread Pirate Robert eingeloggt. Um den Beamten nochmals die Prioritäten der Operation klarzumachen, schickte Tarbell eine neuerliche Anweisung herum: »Lasst den Kerl laufen, wenn ihr denn müsst, aber lasst nicht zu, dass der Computer zugeklappt wird.« Zwar kannte er seine New Yorker Kollegen, aber wusste selbst nicht, wie die Zivilfahnder aussahen – die gesamte Kommunikation zwischen ihnen lief über Email. Als ein verwahrlost ausschauendes Paar die Bibliothek betrat, erkundigte Ulbricht sich als Dread Pirate Roberts nach den Aktivitäten, denen Cirrus vor seiner Adminstratorentätigkeit nachgegangen war:

10:12:53 PM dread: Du hast mit Bitcoins gehandelt, bevor du begonnen hast, für mich zu arbeiten, stimmt's?10:13:07 PM cirrus: Ja, aber nur für eine Weile.10:13:19 PM dread: Also machst du's nicht mehr?10:13:32 PM cirrus: Nein, ich habe aufgehört, schon wegen der Nachweispflichten.10:14:11 PM dread: Verdammte Regulatoren, nicht?

Tatsächlich ahnte er in diesem Augenblick nicht, dass die Regulatoren, in der Verkleidung eines heruntergekommenen, obdachlos anmutenden Paars sich ganz in seiner Nähe befanden. »Fuck you!«, schrie eine Frau, just in dem Augenblick, als sie hinter ihm stand. Als ob gleich ein Handgemenge ausbrechen würde, griff der Mann der Frau an den Kragen und erhob seine Faust. Als Ross Ulbricht sich für einen Moment umdrehte, schob der Mann seinen Laptop über den Tisch, wo ihn die Frau, die ihm gegenüber gesessen hatte, an sich nahm: eine kleine, unauffällige Asiatin, die sich damit als FBI-Agentin entpuppte. Bevor Ulbricht ihr den Laptop wieder entreißen konnte, hatte sie ihn an den bulligen Thomas Kiernan übergeben. Das Ganze hatte kaum zehn Sekunden gedauert. Und mit diesem Augenblick war der Repräsentant festgesetzt.

Wenn die Geschichte der Silk Road eine Stimme besitzt, so gehört sie nicht dem Angeklagten, der während seines Prozesses das Schweigen vorzog, sondern dem Repräsentanten, der, aufgeschlagen, den Ermittlern die ganze Geschichte verriet. Nicht bloß, dass Ulbrichts Computer ein Tagebuch enthielt, das seinen Gang in die Halbwelt dokumentierte, darüber fanden die Ermittler die Logs der Gespräche, die Dread Pirate Roberts mit seinen Mitarbeitern geführt hatte. Neben Spreadsheets mit den Einkünften und den Ausgaben der Plattform, war auch der Mordauftrag an einem ungetreuen Mitarbeiter hier registriert, ebenso wie die Reaktion, mit der der Dread Pirate Roberts den Erhalt eines Fotos quittierte, das den (vermeintlichen) Leichnam seines Mitarbeiters zeigte: »Ich bin so angepisst, dass ich ihn habe töten müssen …. aber was getan ist, ist getan!« Und es ist diese Stimme, die sich nicht mit dem Bild in Übereinstimmung bringen lässt, welches der junge Mann bei denen, die ihm familiär oder emotional nahestanden, hinterlassen hat. Tatsächlich tut sich zwischen diesen beiden Stimmen eine Kluft auf, die nicht zu überbrücken ist, ja, gegen die selbst der große Chor seiner Unterstützer nichts hat ausrichten können. So sind die 97 Briefe, die die Richterin, Katherine Forrest, als Beweis für Ross Ulbrichts tadellosen Charakter empfangen hat, ins Leere gelaufen – haben sie nichts am Bild jenes Erzschurken ändern können, auf den sich die Richterin in ihrem Urteil festgelegt hat. Anstatt jedoch, vor eine falsche Alternative gestellt, die Geschichte eines Helden oder eines Schurken zu erzählen, will diese Erzählung keine Partei ergreifen. Ihr geht es darum, jene innere Logik erfassen, die einen ebenso liebenswürdigen wie friedlichen jungen Mann in jenes moralische Zwielicht zog, in dem Sätze wie der obige nicht nur fallen, sondern eine gewisse Schlüssigkeit für sich beanspruchen konnten. In diesem Zwielicht ist Ulbricht jedoch nicht allein, sondern treten allerlei Figuren auf, deren Verhalten genauso rätselhaft scheint, wie die Agenten Bridges und Force. Liest man die Geschichte der Silk Road nicht als Lehrstück einer individuellen moralischen Verfehlung, sondern als Studie darüber, was es bedeutet, wenn der Repräsentant in der Welt der Computer untergeht, so kommt man zu ganz anderen Deutungen. Denn hier – und nur hier – kommt die politische Dimension des Geschehens in den Blick, wird sichtbar, was der Fall des Ross Ulbricht mit uns selbst zu tun haben könnte.

(Fortsetzung folgt)

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1

Hier findet sich eine Reportage seiner Aussage.


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