Bloodword - SciFi, Horror, Thrill and more

Der Podcast beeinhaltet Rohversionen der Endzeit-Reihe Nachwelt 2018 von Georg Bruckmann und hin und wieder auch mal Meinungen/Rezensionen zu Büchern, Filmen und Spielen. Offizielle Veröffentlichungen von Georg Bruckmann findet man auf Itunes, Amazon und Bandcamp. Mehr Infos unter www.nachwelt2018.de

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NACHWELT 2018 - Brenner S5Ep14



Für eine Sekunde war ich wie gelähmt. Ich warf einen schnellen Blick zu Jan hinüber. Er schlief noch immer, an der Wand zusammengesackt und das Kinn auf der Brust. Mit ihm war nichts anzufangen und ihn durch einen Ruf zu wecken - nun, das wäre auch keine so gute Idee. Damit wäre auch der Degenerierte gewarnt, der gerade vor dem Kellerfenster in die Knie ging, wohl um zu prüfen, ob einen Weg ins Haus gab. Hatte er unsere Spuren gesehen? Hatte er beobachtet, wie wir das Gebäude betreten hatten? Vielleicht. Aber wie so kam er uns dann alleine hinterher? War es einer von Benitos Männern, der den neuen Degenerierten irgendwie entkommen war? Ich wich seinem suchenden Blick aus, in dem ich mich nicht neben dem Fenster an die Außenwand presste, auch wenn ich nicht glaubte, dass er bei den gegebenen Lichtverhältnissen überhaupt erkennen konnte, was sich in dem Keller befand. Ich schielte zu dem kleinen Riegel, mit dem man das Fenster von innen verschließen konnte. Zum einen war er nicht sehr stark und würde einem beherzten Tritt mit Leichtigkeit nachgeben. Zum anderen war es ohnehin zu spät dafür. Ich verfluchte die Verbrennungen in meinen Händen. Gerade noch, vor ein paar Stunden, war ich sicher gewesen, den besoffen umhertorkelnden Degenerierten auf der Straße mit einem Schlag enthaupten zu können. Das war ich jetzt nicht mehr. Ich weiß nicht, ob es an der Müdigkeit lag, oder warum ich in diesem Moment nicht das nötige Vertrauen zu mir selbst hatte. Auf jeden Fall zückte ich nicht die Machete, um den Deg zu empfangen, falls er tatsächlich versuchen würde, herin zu kommen. Würde der verdammte Wichser tatsächlich in den Keller eindringen wollen, würde er es mit den Beinen voran tun. Und das wäre meine beste Chance, ihn möglichst gefahrlos unschädlich zu machen. Es waren irgendwie leise und irgendwie knirschende Geräusche zu hören, als der Deg an dem Fenster herumdrückte. Für einen Moment lang blieb mein Blick an den faszinierenden Rissen in der bröckelnden Fensterlackierung hängen, die im Dämmerlicht des Kellers irgendwie spinnennetzartig und doch ganz anders wirkten. Ich lauerte. In diesem Moment war ich die Spinne. Würde die Fliege sich in mein Netz verirren? Mir wäre es ehrlich gesagt deutlich lieber, wenn sie einfach weiter fliegen würde. Aber die Fliege flog nicht weiter. Eine verdreckte, von Abschürfungen verunzierte Hand drückte das kleine Fenster auf. Dann geschah einige Sekunden lang nichts. Dann erst ein Fuß. Dann der Zweite. Und dann schob sich der Degenerierte bäuchlings in den Keller. Als der Deg seine Beine weit genug hereingestreckt hatte, handelte ich. Ich schoss vor aus meiner Lauerstellung wie eine Muräne aus ihrer Höhle, umschlang die Beine mit den Armen, presste sie fest gegen meinen Körper und riss den Degenerierten unter Einsatz meines kompletten Gewichts in den Keller hinein. Ich hörte ein erschrockenes Keuchen, an dem irgendetwas nicht stimmte. Als die Schwerkraft den Menschenkörper nach unten zog, entglitten die Beine meiner Umklammerung. Das fehlende Gegengewicht ließ mich gegen die Kühltruhe prallen. Es tat weh, aber das war mir egal. Ich wusste, dass der Deg deutlich härter aufgeschlagen war. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Jan irgendetwas mitbekommen hatte. Seine trüben Augen öffneten sich langsam, und sein offenstehender Mund murmelte irgendetwas, aber ich konnte jetzt nicht weiter auf ihn achten. Ich holte mit dem Bein aus und ließ meinen Fuß so fest ich konnte in die Seite des Degenerierten krachen. Noch einmal, etwas höher diesmal, seitlich gegen den Brustkorb. Ein hohler, dumpfer Laut, von den vielen Schichten nicht zusammen passender Kleidung und Fellfetzen gedämpft. Noch mal. Noch mal. Jeder Treffer hatte den Scheißkerl erneut keuchen lassen, wobei jeder Schmerzenslaut leiser geworden war. Genau das war, von dem plötzlich aus meinem Unterbewusstsein hervorbrechenden Wunsch abgesehen, diesem Arschloch weh zu tun, meine Absicht gewesen. Ihm so schnell wie möglich die Luft aus der Lunge zu treten, damit er nicht schreien konnte. Mein plötzlicher und brutaler Angriff hatte mir mindestens eine Sekunde eingebracht, in der ich meinen Blick hierhin und dorthin schnellen ließ. Die Waffe. Wo war die Waffe des Degs? Nichts. Kein Messer, keine Keule und erst recht keinen Speer. Ich schaute hinunter zu der Gestalt zu meinen Füßen. Sie stöhnte leise, die Finger an den Händen der Arme, die sie jetzt schützend an ihren Oberkörper gepresst hatte, bewegten sich. Noch immer lag der Degenerierte auf dem Bauch und hatte den Kopf nicht gehoben. Im Moment keine Gefahr, soweit ich es sehen konnte. Ich machte die wenigen Schritte, die nötig waren, um mich an ihm vorbei zum Kellerfenster hinzubewegen. Ein schneller Blick nach draußen. Das Stöhnen des Degenerierten und die Tatsache, dass Jan etwas murmelte, machten es mir schwer zu lauschen. Ich kann nicht sagen, woher der Eindruck kam, aber ich hatte ihn. Es war Bewegung auf den verwüsteten Straßen von Viernheim. Spuren, schoss es mir durch den Kopf. Wie in einem albernen Comic sah ich für eine Sekunde tiefe Fußabdrücke genau auf unser Versteck zuführen. Dieses Bild verblieb nicht einmal für ein Tausendstel einer Sekunde in meinem Kopf, dann war es mir gelungen, es abzuschütteln. Falls das wirklich so sein sollte, dann konnte ich nichts dagegen tun, ohne nach draußen zu gehen. Und das war viel zu riskant. Alles was ich tun konnte, war es, das Kellerfenster wieder zu schließen. Ich presste es fest an den Rahmen und zum Glück blieb es an Ort und Stelle, obwohl der Riegel beschädigt war. Der Degenerierte regte sich jetzt, versuchte, sich nach oben zu hieven, um zu begreifen, was ihm widerfahren war, nahm ich an. Wichser. Ich fühlte den heißen Wunsch in mir wachsen, ihn herum zu reißen und meine Fäuste so lange gegen sein Gesicht zu schlagen, bis es nicht mehr da wäre, bis jeder einzelne Zahn ausgeschlagen sein würde. Aber meine Hände würden das nicht mitmachen. Erneut trat ich zu, gegen den Kopf diesmal und von oben nach unten. Eine primitive, stampfende Bewegung, die den Schädel des Degs mit dem Kellerboden kollidieren ließ. Jetzt war Ruhe. Ich bemerkte, dass ich zitterte. Mein Leben, und auch das von Jan, hatten in diesen wenigen Sekunden, davon abgefangen, dass alles leise und und schnell vonstattengehen würde, oder doch so leise und schnell wie möglich. Die Gefahr war fürs Erste gebannt und jetzt fiel die Anspannung von mir ab. Jan starrte in meine Richtung, aber seine Augen waren noch immer trübe, und ich wusste nicht, ob er viel von dem begriffen hatte, was hier gerade passiert war. Tatsächlich schloss er sie eine Sekunde später wieder und dämmerte zurück, in seinen hoffentlich tröstlichen Drogen-Schlummer. Ich sah mich schnell um. Es musste hier irgendetwas geben, mit dem ich den Deg fesseln könnte. Bei den Skiern war etwas. Ich ging hin. Aber die Klett-Bänder, mit denen man sie paarweise zusammengebunden hatte, waren zu kurz. Aber da war noch etwas. Aus einem offenstehenden Karton gingen ein paar Expander-Gurte heraus. Mit ihnen fesselte ich die Hände meines Opfers auf dem Rücken zusammen. Danach tat ich dasselbe mit den Fußknöcheln. Anschließend wälzte ich ihn grob auf den Rücken. Ich würde … verdammte Scheiße. Es war Sibylle. Benitos Schlampe. Ihre Haut, soweit ich das sehen konnte, eigentlich waren es nur Hände und Gesicht, war von Abschürfungen und Schnitten über und über bedeckt. Das konnte nicht alles ich ihr zugefügt haben. Manches davon waren auch alte Narben, aber die Mehrheit der kleinen Verletzungen war frisch. Bedeutete ihre Flucht, denn um nichts anderes konnte es sich bei ihrem Eindringen in diesem Keller verhandelt haben, dass Benito und seine Leute in dem Konflikt mit den anderen Degenerierten unterlegen waren? Vermutlich. Hatte ja auch ganz danach ausgesehen. Und was war mit Tommy? Wusste sie etwas über seinen Verbleib? Tatsächlich hingen bei genauerer Betrachtung zwei ihrer Zähne schief und nur noch ein paar Fetzen blutigen Zahnfleisches verhinderten in diesem Moment, dass sie sich lösten und nach unten fielen, in ihren Hals. Der Anblick dieser Zerstörung menschlichen Fleisches tröstete mich über die Tatsache hinweg, dass ich meine Fäuste nicht so hatte benutzen können, wie es mein Gewalt-Impuls mich hatte wünschen lassen. Gleichzeitig aber war ich erleichtert, dass sie noch am Leben war. Und das nicht nur, weil sie möglicherweise etwas über den Verbleib des Jungen wusste. Nein. Sie wusste mit Sicherheit auch, was es mit den neuen Degenerierten auf sich hatte. Das könnte noch wichtig werden. Sie schlug die Augen auf. Ich sah sie in ihren Höhlen umherirren, auf der Suche nach irgendetwas, das ihr helfen würde, sich zu orientieren. Es gelang ihr nicht. Sie war noch zu weit weg, von der realen Welt. Aber das würde nicht mehr allzu lange so bleiben. Ich suchte mir etwas, um sie zu knebeln. Im dritten Karton, den ich öffnete, fand ich Kinderkleidung, die niemand mehr benötigen würde. Ein paar Socken. Ein T-Shirt. Skoobidoo. Mariam in dem Haus im Hasenpfad in Frankfurt. Wanda. Ihr verdammter, beschissener Brief. Gustav. Verdammter Dreck. Ich durfte wirklich nicht mehr so viel Zeit verschwenden. Ich wollte wissen, was Sibylle wusste? Dann sollte ich sie wecken, oder? Ich wollte dann so schnell es ging weiter? Dann sollte ich ebenfalls zu sehen, dass Jan wieder auf die Füße kam oder ihn zur Not zurücklassen, obwohl mir das noch mehr Selbsthass einbringen würde, als ich ohnehin schon mit mir herumtrug. Ich … Nein. Ich sollte vor allem endlich aufhören, zu viel zu denken und stattdessen beginnen, zu handeln. Ich sah auf die Kleidungsstücke herab, die ich vorsichtig, um mir nicht unnötig weh zu tun, in Händen hielt. Wer geknebelt ist, kann zwar nicht um Hilfe schreien, aber mir sagen, was sie wissen wollte, würde sie so auch nicht können. Ich warf die Sachen zurück in Richtung der Kiste. Ich traf nicht. Dann kniete ich mich neben Sibylle nieder. Sie würde ohnehin nicht um Hilfe schreien, wenn sie auf der Flucht war, begriff ich. Sie war genau so sehr daran interessiert, nicht von ihren Verfolgern entdeckt zu werden, wie es Jan und ich ebenfalls waren. Ich sollte sie aus ihrer Kopf-Welt holen, wie auch immer es darin aussehen mochte. Sicher nicht besonders schön. Ich riss ihr die beiden Zähne aus dem Mund, die ihr ohnehin schon so gut wie ausgeschlagen worden waren, als ich dafür gesorgt hatte, dass ihr Gesicht gegen den Kellerboden krachte. Die Nase hatte ich bestimmt auch erwischt. Ich warf die Zähne hinter mich. Sie prallten gegen die Kühltruhe und irgendwie klang es, als ob man an einem Spieleabend die Würfel rollte. Spieleabend. Ha! Lass uns spielen, Sibylle. Der Schmerz hatte sie nicht schreien lassen, aber ihre Augen waren jetzt weit aufgerissen. Es war nicht viel Blut, das jetzt an meinen Fingern klebte, aber es war da. Für einen Moment hatte ich Angst, dass sich das Blut dieser Degenerierten mit meinem vermischen würde, über die Verletzungen an meinen Händen. Ich fragte mich, ob ihre Krankheit ansteckend war. Aber ich kannte ja bereits die Antwort. Wäre sie das nicht, gäbe es nicht so verdammt viele von ihnen, nicht wahr? Für einen Moment war mir schwindelig. Vielleicht war es wirklich die Luft im Keller, vielleicht waren es auch die unheilvollen Bilder von denen, was ich mit Sibylle zu tun bereit war, um zu erfahren, was ich wissen wollte. Noch mehr Zähne. Augen. Finger. Alles, was man an einem Körper leicht kaputt machen konnte. Diese Gedanken waren unnötig. Die Degenerierte begann zu reden, sobald sie die neue Situation endgültig erfasst und mich erkannt hatte.«Du … Was? Okay. Okay. Okay. Was passiert ist, das war … so ist es eben … so will´s der Kardinal. Und Benito ...» Ich fand es erstaunlich, dass sie sich genötigt sah, sich zu rechtfertigen. Aus Angst vor mir, aus Angst vor meiner Rache, schon klar, aber ihr Gesicht war nicht ängstlich gewesen. Trotz allem, obwohl sie gefesselt und von mir zusammengetreten worden war, hatte sie keine Angst. Es war eher so, als würde auch das schlicht und einfach zum üblichen Lauf der Dinge gehören. Ich konnte wirklich nicht sagen, ob es Berechnung war, die aus ihr sprach, oder ob sie wirklich so dachte. Ich versuchte, abzuschätzen, wie alt sie war. Schwer. Unter dem Dreck, den Narben, den Kratzern und dem blutigen Mund war das ursprüngliche Gesicht kaum zu erkennen. Sie hätte zehn Jahre jünger sein können als ich, aber auch zehn Jahre älter. So oder so, war ich sicher, dass auch sie den Krieg erlebt hatte und auch die Zeit davor. Hatte sie überhaupt noch eine Erinnerung daran, wie man vor dem weltumfassenden Feuersturm und den jahrelangen anhaltenden Schwelbränden, die sich daran angeschlossen hatten, miteinander gelebt hatte? Wie lange sie Benito wohl schon kannte? Egal. Ich fragte sie nach Tommy. Es ginge ihm gut, sagte sie. Dass Christiano ihn hätte. Ich fragte sie, was «hätte» bedeuten sollte. Sie verstand die Frage nicht. Ich fragte sie nach Christiano. Ja, er wäre hier. Sie wüsste nicht warum. Irgendetwas musste in Frankfurt passiert sein. Ich fragte sie, ob Christiano Rache an den Deserteuren üben wollte. Ja. Das wollte er. Aber er wollte auch seine Männer und Frauen zurückhaben. Ich fragte sie, ob er also nur die Anführer hinrichten würde. Sie sagte ja. Ich fragte sie, ob sie deshalb geflohen wäre. Sie sagte ja. Ich fragte sie, ob sie Benito im Stich gelassen hätte. Sie sagte nichts. Ich fragte sie, wie viele hinter ihr her waren. Sie wüsste es nicht, sagte sie. Ich fragte sie, ob sie einen Plan hatte und wo sie hin wollte. Sie wisse es nicht, sagte sie. Ich fragte sie, ob sie einen sicheren Weg aus der Stadt heraus kennen würde. Nein, sagte sie. Für eine Weile überlegte ich, ob ich sie irgendwie gegen Tommy würde eintauschen können. Dann kam mir wieder der Zeitfaktor in den Sinn und dann kam ich zu dem Schluss, dass es so oder so mein Ende bedeuten würde, wenn ich in eine Situation kommen würde, in der das überhaupt zur Debatte stünde. Sie wusste nichts und sie war zu nichts nütze. Ich stand auf und meine Knie knackten. Ich stand jetzt seitlich neben ihrem Kopf. Meinen rechten Fuß setzte ich auf ihren Hals. Dann verlagerte ich mein Gewicht nach vorn. Ihre Augen quollen hervor. Sie hatte nicht damit gerechnet. Sie röchelte und wand sich und es gelang ihr, unter meinem Stiefel wegzukommen. Sie japste nach Luft, wollte etwas sagen, konnte es aber nicht. Sah mich aus großen Augen an. Ich machte einen Schritt vor. Sie schob sich weiter weg. Noch ein Schritt. Sie wollte sich noch weiter zurückschieben, aber da war die Wand. Sackgasse, Miststück. Ich trat ihr gegen den Oberkörper. Jetzt hielt sie still, als ich meinen Fuß erneut auf ihren Hals setzte.«Hör auf, Mann, spinnst Du?» Jans nuschelnde Stimme. Widerwille stieg in mir auf. Musste er unbedingt jetzt wieder zu sich kommen?«Hörst Du nicht? Du sollst aufhören.» Lauter diesmal. Das Rascheln von Kleidung verriet mir, dass er versuchte, aufzustehen.«Sie hat Leute lebendig verbrannt, Jan. Sie hat gelacht, als sie starben. Sie hat gelacht, als Menschen gepfählt wurden. Sie hat ihr Fleisch ihre Kannibalen verfüttert und die Reste an Straßenlaternen gehängt und auf Zäune gespießt. Deine Leute, Jan. Und meine.» Ich verstärkte den Druck, während ich das sagte.«Das weißt Du doch gar nicht. Hör auf, Mann.» Ich musste mir Mühe geben, um nicht aus dem Tonfall meines hervorgepressten Flüsterns in wirkliches Brüllen auszubrechen.«Doch, das weiß ich.» Noch zuckte Sibylles Körper.«Bist Du sicher? Ist es wirklich so einfach? Jemanden zu ermorden ist etwas anderes, als ihn im Kampf zu töten. Du willst nicht, was das mit Dir macht.»«Sag Du mir nicht, was ich will. Ich mach sie fertig. Ich ...» Ich nahm den Fuß von ihrem Hals. Etwas in meinem Kopf rastete wieder ein. Einige Sekunden Stille, die nur von Sibylles Geröchel gestört wurde. Hörte sich an, als wäre etwas in ihrem Hals kaputtgegangen. Ich drehte mich zu Jan. Er hat es inzwischen geschafft aufzustehen, musste sich aber noch immer an der Wand anlehnen, um nicht zu stürzen. Ich sah ihn an. Dan fragte ich:«Dein Bruder?» Er nickte.«Wegen der Frau?» Er nickte wieder. Natürlich wegen der Frau. Schweigen. Ich konnte hören, dass draußen Degenerierte an uns vorbei rannten. Ich zuckte mit den Schultern. Ein paar Stunden später war es dunkel geworden. Ich hatte die vage Hoffnung gehabt, dass sie aufhören würden nach mir oder nach Sybille zu suchen, wenn es dunkel war, deshalb hatten wir zähneknirschend gewartet. Besser gesagt, ich hatte mit den Zähnen geknirscht und war ungeduldig auf und ab gelaufen. Die anderen beiden waren schlauer. Jan döste wieder weg und ob Sybille schlief, oder nur so tat, weiß ich nicht. Wir verließen den Keller nicht durch das Fenster. Wir gingen hoch, durchs Treppenhaus, wo wir eine Wohnung im Erdgeschoss aufbrachen. Wir durchquerten und verließen sie, ohne uns weiter mit einer Durchsuchung aufzuhalten, durch ein Fenster. Jan war schwach. Sibylles Hände waren jetzt vorne gefesselt und ich hatte sie nun doch geknebelt und ich konnte meine eigenen Hände nicht richtig benutzen. Was für ein elendes Trio wir abgaben. Jedem von uns bescherte der Ausstieg aus dem Fenster mindestens einen zusätzlichen blauen Fleck. In der kalten Luft ging es mir besser als in dem Mief, der im Keller geherrscht hat. Auch in Jan schienen die Lebensgeister erneut zu erwachen. Die Ruhephase schien ihm gutgetan zu haben, auch wenn ich noch immer damit rechnete, dass er jeden Moment endgültig zusammenbrechen würde. Aber vielleicht hatte er doch keine inneren Verletzungen. Wenn er es bis Heidelberg schaffen könnte, würde Gustav nach ihm sehen. Wir gingen leise schweigend und vorsichtig. Zunächst war ich erstaunt, dass Sibylle keinen Fluchtversuch unternahm, aber dann erinnerte ich mich daran, dass sie ja nirgendwohin konnte. Stattdessen stellte ich fest, dass sie offenbar entschlossen war, ihren Teil beizutragen. Sie hatte sich weder gewehrt, als ich sie geknebelt hatte, noch hatte sie nach mir getreten oder geschlagen, als ich ihre Fesseln gelöst und ihre Hände vorn zusammengebunden hatte. Jetzt ging Jan voran und Sibylle neben mir. Alle paar Sekunden drehte sie nach hinten um, um zu sehen, ob sich etwas tat. Immer mal wieder war ein entfernter Schrei zu hören. Sie taten ihre Degenerierten-Dinge in der Kirche. Je weiter wir uns durch die Stadt bewegten, desto leiser wurde das Geschrei, das Flehen und Gejammer derer, die in Ungnade gefallen waren. Mit jedem Schritt, den wir taten, wurde ich zuversichtlicher, und als wir endlich den Rand der Stadt und kurz darauf die Autobahn erreicht hatten, die mich hierher gebracht hatte, war es als würde eine zentnerschwere Last von mir abfallen. Verdammtes Viernheim. Nichts, aber auch gar nichts Gutes war hier geschehen. Aber an welchem Ort wäre das heutzutage anderes gewesen? Eine Weile folgten wir der Autobahn in Richtung Weinheim, bis Jan sagte, dass es ein Umweg wäre und dass man querfeldein vermutlich schneller ans Ziel käme. Vielleicht hätte er damit recht, wenn wir nicht völlig am Ende wären. Vielleicht hätte er damit recht, wenn die Felder, die einst neben der Autobahn gelegen waren, nicht völlig verwildert wären. Vielleicht hätte er damit recht, wenn nicht Tauwetter eingesetzt hätte, das den Boden aufweichte und jeden Schritt auf nasser Erde schwer machen würde. Abgesehen davon hatte ich noch immer die Hoffnung, dass eines der Fahrzeuge, die hier vereinzelt liegen geblieben waren, noch fahrtüchtig wäre. Ein Auto würde so vieles vereinfachen. Aber ich hatte Jan vertraut, seiner Ortskenntnis zumindest, als er uns auf kürzestem Wege aus der Stadt heraus geführt hatte, und ich hatte nicht darauf bestanden, zu dem Wagen zurückzugehen, der mich und die unglücklichen des Hohen Volkes hierher gebracht hatte. Wir blieben also auf der Autobahn. Einmal raschelte etwas und verstummte dann wieder, und ich erinnerte mich an die Wildschweine, die auf unserem Weg hierher die Straße überquert hatten. Da hatte Sonja noch gelebt. Die anderen auch, inklusive des elenden Herrn Paul. Wichser. Bald hatten wir die Stelle erreicht, an der es über eine langgezogene, nach rechts geschwungene und leicht ansteigende Kurve auf die A5 ging. Etwa zehn Meter von uns entfernt waren einige Fahrzeuge in einander gekracht. Als wir die Stelle erreichten, verstand ich warum. Ein Krater von etwa drei Metern Durchmesser. Keines der Fahrzeuge sah noch brauchbar aus, aber eines davon war ein Polizeiauto. Durch die Scheibe hindurch konnte ich nicht erkennen, was sich darin befand. Vorsichtig öffnete ich die Tür, achtete dabei umständlich darauf, mir keine Schmerzen an meinen verbrannten Händen zuzufügen. Das Auto war leer. Keine Waffen. Wäre ja auch zu schön gewesen. Die Polizisten mussten nach dem Unfall das Auto verlassen haben, vermutlich um zu helfen. Was danach aus ihnen geworden war - keine Ahnung. Ich öffnete auch die hintere Tür auf meiner Seite des Wagens, um zu sehen, ob sich auf der Rückbank etwas Nützliches befand, aber auch diese Hoffnung wurde enttäuscht. Ich sah hinüber zu Jan, der das erste Fahrzeug direkt vor dem Krater ebenfalls einer Untersuchung unterzog. Als er bemerkte, dass ich in seine Richtung sah, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schüttelte er langsam den Kopf. Mist. Wir untersuchten auch die anderen Autos. Nur in einem fanden wir eine Leiche. Der Kleidung nach zu schließen ein Mann, hinter dem Lenkrad. War nicht mehr viel übrig von ihm. Wir gingen weiter, und obwohl die Steigung der Abfahrt, die uns von dieser Autobahn auf die A5 bringen sollte, nicht sehr groß war, waren wir doch alle drei schweißgebadet, als wir sie hinter uns gebracht hatten. Noch immer ging Jan voraus und ich bildete mit Sibylle den Abschluss. Ich weiß nicht mehr genau, wie lange wir gelaufen waren, aber nach relativ kurzer Zeit ging es rechts auf einen Autobahnparkplatz. Ich überlegte. Würden wir die Straße so weit wie möglich weiterverfolgen, würden wir vielleicht vier oder fünf Stunden brauchen, bis wir die Poliklinik erreicht hätten. So gesehen, fiele es nicht sehr ins Gewicht, wenn wir uns zehn Minuten nehmen würden, um ihn kurz zu inspizieren. Ich mache es kurz. Wir fanden kein brauchbares Fahrzeug, aber in einem Lkw, der fein säuberlich auf einem dafür vorgesehenen Seitenstreifen geparkt war, fanden wir ein paar eingeschweißte Lebensmittel auf der breiten Fahrerbank. An einem anderen Wagen, waren zwei Fahrräder auf einem Gestell montiert, aber wir bekamen das Bügelschloss nicht auf. Irgendwann meinte Jan, dass man sich hier nicht länger verrausgaben, sondern weitergehen sollte, und das taten wir. Ich hatte mich dagegen entschieden, auch Sibylle von dem Essen abzugeben. Sie schien das auch nicht im Geringsten erwartet zu haben. Vielmehr wirkte sie ziemlich abwesend, wenn man außer Acht lassen wollte, dass sie sich noch immer alle paar Sekunden nach hinten umdrehte. Wir brachten noch ein paar Kilometer hinter uns und erreichten eine weitere Abfahrt. Als sie in Sichtweite kam, meinte Jan, dass er ab hier Straßen kennen würde, die direkter zur Poliklinik führen würden. Es wäre nicht nötig, sich querfeldein über irgendwelche Felder zu schlagen. Ich betrachtete das Schild, das die Abfahrt ankündigte. Großsachsen. Heddesheim, konnte ich mit etwas Mühe lesen. Ich muss wohl die Stirn gerunzelt haben, denn Jan murmelte nach einigen Sekunden, in denen ich nicht gleich geantwortet hatte, etwas, das klang wie: dann eben nicht. Und in der Tat, war ich von der Idee … Na ja, sie beunruhigte mich irgendwie. Hier auf der A5 konnten wir trotz der relativen Dunkelheit des abends früh erkennen, was vor uns lag und auch, was hinter uns geschah. Davon abgesehen kannte ich die Strecke bereits und wollte mich auf keine Experimente einlassen. So gingen wir einfach weiter, ohne die Autobahn zu verlassen. Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken. Was sollten wir eigentlich mit Sibylle anstellen, wenn wir die Klinik erreicht hätten? Am Einfachsten und Sichersten für alle wäre es wohl, sie doch noch hinzurichten. Aber trotz allem, was ich der Frau heute angetan hatte, war diese Option für mich erst mal vom Tisch. Vielleicht sollten wir das Hohe Volk über sie richten lassen. Wir könnten sie auf dem Weg in die Klinik bei Ihnen abliefern. Auf der anderen Seite würde ich ihnen dann erzählen müssen, was ihren Leuten in Viernheim widerfahren war. Dazu war ich nicht in der Lage. Nicht heute. Vielleicht aber würden sie uns auf dem Weg in die Poliklinik ohnehin abfangen. Konnte natürlich passieren. Aber auch dann, würde ich darauf bestehen, zuerst die Klinik aufzusuchen und Gustav die Formel zu bringen. Würde vermutlich nicht leicht werden, aber inzwischen war ich für sie kein Unbekannter mehr und sehr wahrscheinlich würden sie genug Vertrauen zu mir haben, um mich ziehen zu lassen. Wir liefen noch eine Weile, und in mir kam der Gedanke auf, dass es schon seltsam war, dass es so aussah, als ob wir tatsächlich wieder so etwas wie ein Gefängnis benötigen würden. Worte wie Rechtssystem, Wärter und Ethik tanzten in meinen Gedanken auf und ab. Auf den nächsten paar Kilometern sah ich zweimal Sterne vor den Augen und die Vorstellung, mich auf die Kühlerhaube irgendeines liegengebliebenen und verlassenen Fahrzeuges zu setzen und schlicht und einfach nie wieder aufzustehen, kam mir immer verführerischer vor. Plötzlich machte Sibylle aufgeregte Geräusche mit ihrem geknebelten Mund. Ich drehte mich zu ihr um. Angespannt und von einem Fuß auf den anderen tretend, schaute sie in die Richtung, aus der wir gekommen waren. Wieder versuchte sie, etwas zu sagen, aber ich konnte es nicht verstehen. Was hingegen unmissverständlich war, war die Tatsache, dass sie Angst hatte. Und dann, zwei oder drei Sekunden später, verstand ich nur zu gut, was sie so beunruhigte.


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 July 22, 2018  29m