Minutes Before Sunrise

Zwei Menschen. Eine Stadt. Einhunderteins Minuten. Richard Linklaters berühmteste Liebesgeschichte, Minute pro Minute besprochen.

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episode 25: Wiedergeburt


In der 25. Minute will Celine wissen, was für Jesse ein Problem ist.

Gast: Rebecca Schuman, eine Autorin, die in den 90er Jahren versucht hat, Before Sunrise selbst zu erleben. Mit anderen Ergebnissen.

Show Notes

Links zu Rebecca Schuman:

    • Rebeccas Website
    • Rebecca auf Twitter: @pankisseskafka
    • Buch “Schadenfreude – A Love Story”
    • Rebeccas Artikel auf Longreads.com
    • Rebeccas Slate-Artikel “My Summer of Before Sunrise”
Übersetzung Interview mit Rebecca Schuman

Ich spreche mit Rebecca Schuman, herzlich willkommen!

Danke für die Einladung!

Würdest du dich kurz vorstellen – wer bist du, was tust du?

Ich bin eine amerikanische Schriftstellerin; ich habe einen Doktortitel in deutscher Literatur von der University of California Irvine, und ich bin Autorin einer Memoirensammlung namens “Schadenfreude – A Love Story“. Dieses handelt von meinen missglückten Abenteuern mit Deutschen und Deutschsprechenden. Ein Kapitel darin handelt von meiner eher zu passionierten Beziehung zum Film “Before Sunrise” und seinem übergrossen Einfluss auf die Erwartungen, die ich von romantischen Beziehungen in Europa hatte.

Wir haben dieses Gespräch spontan arrangiert, nachdem ich einen deiner Artikel in Slate gelesen hatte. Dieser handelte davon, wie du versucht hast, “Before Sunrise” selbst zu erleben, und diese Geschichte hat ihr eigenes Kapitel in deinem Buch. Was war denn dein “Summer of Before Sunrise”?

Ich hatte gerade den Film gesehen, ich war 18 Jahre alt, war zuvor noch nie in Europa, und ich stand auf Ethan Hawke – du musst verstehen für eine gewisse Art von intellektuellen Mädchen in den 90ern war Ethan Hawke einfach alles. “Dead Poets’ Society” hat Mädchen zum Heulen gebracht, oder “Reality Bites” –  wir hätten einfach alles mit ihm gesehen. Und als er dann diesen mit Lebensangst erfüllten, smarten, sarkastischen 20-Jährigen auf einem Zug spielte, das war einfach zu viel für mich. Als ich also nach Europa ging, dachte ich: “Dort hängen solche Typen in Zügen rum, und dort werde ich auch meinen Typen auf einem Zug treffen. ” Also habe ich mich in jedem Zug, in jeder Strassenbahn, in jedem Bus umgesehen, auf der Suche nach meinem Klaus-Kinsky-Biografie-lesenden, traurigen, inbrünstigen Seelenverwandten. Aber er war nicht zu finden.

Prag war mein Wien – heute liebe ich Wien mehr als Prag, aber damals war ich besessen von Kafka, und Prag war noch keine komplette Touristenfalle. Es war sehr romantisch und atmosphärisch, so überwältigend mit Gefühlen, und ich musste dort einfach ein romantisches Abenteuer erleben. Also habe ich einen albernen amerikanischen Touristen getroffen, ein Hippie, der nicht wirklich interessant war. Aber ich war überzeugt: Das ist mein “Before Sunrise”-Moment, ich werde das nicht vermasseln, das zieh ich durch. Ich war also sowas wie der Regisseur meiner romantischen Heldentat, die ich bis ins Detail plante: Unseren ersten Kuss würden wir bei Sonnenuntergang am Fluss haben, und es würde so romantisch sein. Er war ein miserabler Küsser, es war richtig eklig, doch ich beschloss, es trotzdem durchzuziehen. So landeten wir am Ende in einem richtig billigen Hotelzimmer in einer schrecklichen Ecke von Prag, wo niemand meine Sprache sprach – es war bis heute mit Abstand die schlechteste sexuelle Erfahrung in meinem Leben, und trotzdem habe ich es nie bereut. Ich hatte meinen “Before Sunrise”-Moment in Prag. Und der Typ hat sich noch in mich verliebt, er fand mich toll.

Gemäss deinem Buch hat er versucht, dir etwas vorzusingen.

Oh ja! “Don’t Think Twice”, ein grossartiger Song von Bob Dyllan, war für ein Jahrzehnt für mich ruiniert. Später hat er mir vorgeworfen, sein Herz gebrochen und seine Zeit verschwendet zu haben.

Du bist also so etwas wie ein lebendes Beispiel für das Leben, das die Kunst imitiert. Warum glaubst du, dass dein Experiment nicht geklappt hat?

Der Kern von “Before Sunrise” und anderen Filmen von Richard Linklater ist, dass er eine unglaubliche Anstrengung aufwendet, um Geschehnisse anstrengungslos wirken zu lassen: Menschen laufen herum und schauen, was passiert. Seine Kunst ist, dass er menschliche Verbindungen magisch erscheinen lässt; sie entstehen einfach. Für mich hat es nicht geklappt, weil ich ich einen übereifrigen Wunsch hatte – “Lass es geschehen!” –  und darum konnte es nicht einfach entstehen.

Glaubst du, dass es möglich ist, eine solche Erfahrung zu machen, obwohl du das Gegenteil davon erlebt hast, oder ist das illusorisch?

Weisst du, nach zwei gescheiterten Ehen und vielen Reisen nach Europa, auf welchen nichts derartiges geschah, habe ich immer noch Hoffnung. Als ich vor zwei Jahren einen Sommer mit meiner Familie in Wien verbracht habe, habe ich trotzdem durch die Scheiben jeder Strassenbahn geschaut, um zu sehen, ob er da ist. In dem Sinne: Ja, ich glaube noch daran. +

“Before Sunrise” muss in den 90er Jahren einen ziemlichen Eindruck bei dir hinterlassen haben. Was war dieser Film für dich damals?

Für mich war es das Ideal romantischer Liebe. Es hätte für mich keine romantische Liebe sein können, wenn man sich nicht an einem romantische Ort mit wunderschöne Kulisse trifft, wo beide Fremde sind und dies zu einer geteilten Erfahrung werden kann. Der Film hat die Messlatte für romantische Liebe sehr hoch angesetzt, vielleicht sogar unmöglich hoch. Es war nicht mal spezifisch Ethan Hawke. In meiner Kafka-Besessenheit und Überintellektualisierung meiner Probleme fühlte ich mich sehr missverstanden, und so versuchte ich, einen anderen Neurotiker zu finden, der ebenfalls zu viel nachdenkt.

Der Film hatte auch einen grossen Einfluss auf Menschen der Generation X. Warum glaubst du ist das so?

Auf jeden Fall. Ich bin mitten in einer Scheidung, mit 43 im mittleren Alter, und ich fange wieder an, auf Dates zu gehen. Und immer wenn ich jemanden auf Tinder sehe, der “Before Sunrise” erwähnt, sage ich mir “Den muss ich sehen!”. Gerade neulich habe ich jemanden getroffen, der genauso auf die ganze Wien-Before Sunrise-Schiene abfuhr, es war ein grossartiges Date, doch leider hat es nicht geklappt und wir haben uns nicht mehr gesehen. Der Film ist also definitiv wichtig für Gen Xers und für Menschen, die Liebe auf eine seltsame, zynische Weise überidealisieren. In dem Sinne zieht es mich zu Leuten hin, zu denen ich mich vielleicht nicht hingezogen fühlen sollte. Wie Jesse.

Glaubst du, dass Amerikaner*innen den Film anders sehen als Menschen aus Europa?

Ja. Ich weiss nicht genau, wie, weil ich keine Europäerin bin. Aber ich würde vermuten, dass Menschen aus Europa Jesses blauäugigen Zynismus – diese Kombination aus Mann-Kind und affektloser Distanziertheit – sehr amerikanisch und mühsam empfinden würden. Andererseits ist Julie Delpy, diese wunderschöne Französin, für uns Amerikanerinnen der Höhepunkt von Kultiviertheit, Sinnlichkeit und Warmherzigkeit, ein Ideal von Perfektion, das keine Amerikanerin auch nur annähernd erreichen kann. Und das wäre sie auch, wenn sie ganz anders aussehen würde.

Du hast mir im Vorfeld erzählt, dass Amerikaner*innen den öffentlichen Verkehr in Europa romantisieren. Warum ist das so?

Weil wir hier nichts haben, das an funktionierenden öffentlichen Verkehr herankommen würde.  Die Idee, dass man einfach sein Haus mit lediglich einem NPÖV-Ticket verlassen könnte, in ein Fahrzeug wie einen Bus einsteigt, der häufig und pünktlich kommt, und dich ohne Probleme genau dorthin bringt, wo du hin willst – das ist für uns eine Fantasie. Die New York City Subway ist das, was dem am nächsten kommt. Also diese Idee, irgendwohin mitgenommen zu werden, einfach dort zu sitzen, aus dem Fenster zu schauen und etwas spektakulär Schönes, Bedeutungsvolles zu sehen, das öffnet dein Herz. Und wenn dein Herz offen ist, dann benötigst du ein Besetzungsobjekt, wie Freud sagen würde, du möchtest es teilen und auf eine andere Person projizieren, welche die gleiche Öffnung in ihrem Herzen hat.

In deinem Buch geht es um viel mehr als bloss um dein “Before Sunrise”-Erlebnis. Könntest du etwas mehr davon erzählen?

Das Buch handelt davon, wie ich von Deutschheit fasziniert wurde – nicht bloss deutsche Deutschheit, sondern von der ganzen deutschsprechenden Welt – was mit einer High School-Beziehung begann und zu einer Liebe für Franz Kafka wurde und ich daraufhin Deutsch zu studieren begann. In dem Zusammenhang reiste ich nach Deutschland, eine faule, uninteressierte amerikanische Jüdin, die von Goethe und Schiller nichts wissen wollte. Ich landete schliesslich in Münster, der verkrampftesten Stadt in einem Land voll verkrampfter Leute, eine Art Crash-Kurs in echter deutscher Deutschheit. (lacht) Eine liebenswerte kleine Stadt, in der man nicht wirklich in Schwierigkeiten kommen kann, weil alles um 11 Uhr schliesst und darum ein Ort ist, an dem man gerne seine Kinder hin schickt. Das hat zu vielen kulturellen Missverständnissen zwischen meiner Gastfamilie und mir geführt.

Dann kam ich ein Jahr darauf für 7 Monate zurück, nach Berlin, was dann zu meiner vollständigen Transformation in Euro-Trash geführt hat. Es war eine grossartige Zeit: Ich war so privilegiert, 1996 als Idiotin in Berlin zu sein. Diese Zeit kommt nie mehr wieder.

Das Buch nimmt dann eine Wendung, als ich beschliesse, eine akademische Karriere in Deutscher Literatur zu verfolgen. Und in der Zeit, in der ich beschloss, meine interessante, komplexe Liebe zum Deutschen mit jungen Uni-Studenten zu teilen, das war die Zeit in der die geisteswissenschaftlichen Disziplinen an amerikanischen Unis aufhörten, Professoren anzustellen. So endet das Buch damit, dass ich es nicht schaffe, Professorin zu werden. Sehr passend zu meiner persönlichen Marke, also hat am Ende alles doch noch geklappt. Es ist lustig: Das Buch endet damit, dass ich heirate und ein Baby bekomme – und nun ist es 5 Jahre später, die Ehe ist vorbei, das Baby ist ein Kind, und heute kann ich die letzten zwei Kapitel meines Buches nicht mehr lesen.

Aber wärst du bereit, uns aus einem anderen Kapitel etwas vorzulesen?

(an dieser Stelle liest Rebecca ein Stück aus ihrem Kapitel “Schriftverkehr” vor)

Woran arbeitest du heute, und wo können Zuhörende mehr über dich erfahren?

Ich schreibe eine regelmässige Kolumne für das Online-Magazin Longreads. Mein jüngster Artikel handelt vom VW-Abgasskandal, den frühen Jahren des germanischen Reiches und der Geschichte königlicher Lügen in einem Land, in dem das Befolgen von Regeln sehr wichtig ist. Ich habe ausserdem eine Artikelserie über die 90er mit dem Titel “The 90s are Old“. Aktuell arbeite ich an einem Roman, aber es wird noch lange dauern, bis der fertig ist. Aber ich bin sicher, es wird besser sein als alles, was Ethan Hawkes Charakter in “Before Midnight” schreibt.

Wurde dein Buch auf deutsch übersetzt?

Nein, ist das nicht verrückt?! Sie haben die deutschen Rechte einfach nicht verkauft, keine Ahnung warum. Die englische Fassung hat sich in Deutschland recht gut verkauft. Wenn also irgendjemand an einer deutschen Fassung interessiert ist: Die Rechte sind noch erhältlich!

Das Buch heisst “Schadenfreude: A Love Story“. Ganz herzlichen Dank für das Gespräch, Rebecca!


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 November 22, 2019  29m