Spurensuche für Ohrenzeugen

Die „Spurensuche für Ohrenzeugen“ ist ein Podcast des Historikers und Autors Dieter Begemann. Die einzelnen Folgen erscheinen in unregelmäßigen Abständen. Sie erzählen Geschichten zu alltags- und sozialgeschichtlichen Themen. Geschichten, in denen es »menschelt«, auch wenn auf den ersten Blick Regionen, Stadteile, Unternehmen, Vereine usw. im Mittelpunkt stehen. Eine Spurensuche, die dazu einlädt, genauer hinzuhören und hinzusehen. So ist, wo auf den ersten Blick gar nichts Besonderes zu sein scheint, auch immer wieder das Große im Kleinen zu entdecken.

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Für Erhard Krull


Foto: Jürgen Escher

Am 15. November 2020 starb Erhard Krull. Viele Menschen kannten ihn, besonders in Herford. Hier, aber auch darüber hinaus, hat er Spuren hinterlassen. Die Erinnerung an ihn ist verknüpft mit immer neuen sozialen Projekten, mit der Verschönerung von Stromkästen im Stadtbild und vielen Dingen mehr.

Erhard Krull war mein Freund. Viele Dinge haben uns verbunden. Auch an meiner historischen Arbeit hat er intensiv Anteil genommen. Seine Spuren finden sich ebenso auf dieser Internetseite. Von ihm stammte unter anderem der Anstoß, nach der Geschichte seines Großonkels Fritz Bockhorst zu graben, der die Gestapoheft in Bielefeld nicht überlebte. Hinzu kamen verschiedene Beiträge und Gedanken e zu meinen Artikeln. Seinen letzten Kommentar auf dieser Seite schrieb er nur sechs Wochen vor seinem Tod. Er endet mit den Worten: „Dieter, mach weiter so! Das ist eine wunderbare Homepage.“

Trauerfeier am 4. Dezember 2020

Erhard wusste, wie ernst seine Erkrankung war. Schon vor etwa einem Jahr bat er mich darum, bei seiner Beisetzung die Traueransprache zu halten. Ich habe es ihm versprochen und dieses Versprechen am 4. Dezember 2020, auf dem Andachtsplatz, im Friedwald Kalletal eingelöst. Für das Gedenken hatte ich das Lied „So viele Sommer“ von Reinhard Mey ausgesucht. (Leider fand ich für die Veröffentlichung an dieser Stelle nur die Internetfassung einer Fernsehaufzeichung mit Applaus)

Ansprache

Liebe Freundinnen und Freunde von Erhard,

das Lied von Reinhard Mey will bewusst an Erhards Liebe zu den Sängern und Liedermachern anknüpfen. Zu solchen wie Hannes Wader, von dem er noch vor zwei Monaten, in seinem letzten Leserbrief an die beiden Herforder Tageszeitungen schrieb, dass er seine Lieder so sehr liebe. Zu solchen wie Bob Dylan, von dem er vor eineinhalb Jahren wochenlang sehr stolz war, noch eine Karte für dessen Konzert in Bielefeld bekommen zu haben.

Oder eben auch zu jenem Reinhard Mey, dessen Frage, wie viele Sommer noch bleiben, fast unweigerlich zu der Frage führt, wie oft Erhard wohl denen, die ihm nahe waren, vor etwa vier, fünf Monaten noch zugetrunken haben mag. In jener Zeit also, in der für ihn immer deutlicher wurde, dass dieser Sommer wohl sein allerletzter sein würde.

In einer Zeit, in der er zum Beispiel mit ungeheurer Willenskraft sogar noch zweimal nach Österreich aufgebrochen ist – in der aber bereits die Leichtigkeit und die Körperkraft fehlten, um in den besuchten Orten noch einmal, wie früher, herumzuwandern oder auch nur ein wenig zu –schlendern.

Jede Generation hat ihre eigenen Lieder und für diejenigen, die, wie Erhard in den 1960er/70er Jahren jeden noch so kleinen Traum von Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und Demokratie begierig eingesogen haben, weil sie beim Einschalten von Fernsehern und Radios verzweifelten an den täglichen Bildern und Berichten über Vietnam-Krieg, Rassenhass, Morde an politischen Hoffnungsträgern, Kalten Krieg, Rüstungswettlauf, ungesühnte Kriegs- und Nazi-Verbrechen – für diese Generation hatten und haben die Singer/Songwriter eine Bedeutung, die weit über die Musik hinausgeht.

Ein Beispiel für das, was den jungen Erhard Krull in diesen Jahren ausmachte und was ihn bewegte, zeigt eine Episode aus dem Sommer 1976: Seinerzeit machte der ehemalige Bundeskanzler Willy Brandt eine mehrtägige Wanderung durch den Teutoburger Wald. Was heute allenfalls als eine politische Werbetour beachtet würde, hatte damals noch eine andere Bedeutung.

Obwohl er bereits wegen der Guillaume-Affäre zurückgetreten war, galt Brandt vielen, vor allem jungen Menschen, noch immer als entscheidende Symbolfigur für Frieden, für „mehr Demokratie“ und gesellschaftliche Veränderung. Es klingt deshalb nur konsequent, wenn Erhard sich als damaliger Gymnasiast in Oerlinghausen aus der Schule schlich, um heimlich an einer Veranstaltung mit Brandt teilzunehmen, als dieser durch die Stadt wanderte.

Dies ist aber nur der unbedeutende Teil dieser Geschichte. Wirklich besonders wird sie, wenn man weiß, dass die Oerlinghauser Junge Union eine Demonstration gegen Brandt organisiert hatte. Sie reihte sich damit ein in das Stimmungsbild der damaligen Bundesrepublik, in dem alte und neue Nazis, CDU-Mitglieder und andere Brandt über Jahrzehnte  als „Vaterlandsverräter“ verleumdeten, weil dieser als politisch Verfolgter während der NS-Zeit nach Norwegen geflüchtet war, weil er dort im Widerstand gegen Nazi-Deutschland arbeitete und weil er nach 1945 seinen Tarnnamen Willy Brandt beibehalten hatte.

Der damals 19-jährige Schüler Erhard Krull stellte sich also demonstrativ gegen solche schmutzigen Machenschaften. Ihm war es wichtig, auf der richtigen Seite dabei zu sein. Das erforderte Mut, denn dafür erhielt er wenige Wochen vor seiner Abiturprüfung einen schriftlichen Tadel von seiner Schulleitung. Ein Tadel, der eigentlich eine Ehrenerklärung war, für die ihn zuhause aber sehr viel Unangenehmeres erwartete, als nur Ärger in Worten.

Wer Erhard kannte, wird von solcher Konsequenz nicht wirklich überrascht sein. Auch nicht davon, dass er selbst so gut wie nie über diese Geschichte gesprochen hat.

Erhard wurde 1956 in Hörste geboren. Er ist in Währentrup aufgewachsen. Das klingt nicht nur nach lippischer Provinz. Im Schatten des Teutoburger Waldes ist Lippe ländlich. Dies ist keine Gegend für intellektuelle Höhenflüge. Hier wurden auch nie viele Worte gemacht und es konnte schon mal etwas grober zugehen, manchmal auch brutal. In der Schule und auch in manchem Elternhaus.

Bis in die 1970er Jahre gab es hier an etlichen Bauernhöfen noch großformatige Emailleschilder, die mit der Aufschrift „Dreigeteilt niemals“ auch ein Vierteljahrhundert nach dem verlorenen Weltkrieg noch immer den Anspruch auf das Deutschland in den Grenzen von 1937 erhoben.

Solche Dinge mussten einen wie Erhard herausfordern. Er war von Jugend an ein zutiefst politischer Mensch. Für ihn und seinen Bruder Jürgen war es ein Glück, dass es neben solchem konservativen, manchmal auch reaktionären Umfeld, auch einen sehr verständnis- und liebevollen Großvater gab. Einen Mann, der vor 1933 als Sozialdemokrat in Lippe noch gegen den Aufstieg der Nazis gekämpft hatte. Und außerdem gab es in der Familie noch die Geschichte des Großonkels Fritz Bockhorst, der als Nazi-Gegner unter ungeklärten Umständen in der Gestapohaft ums Leben kam.

Bei all dem verachtete Erhard nichts mehr als politische Kumpanei, Kungelei und Machtspiele. Politik war für ihn Mittel zum Zweck und der Zweck war, dass es allen Menschen gut gehen möge. Einfach zusehen, wenn Menschen litten, wenn Unrecht geschah, das hielt er nicht aus.

Wenn man sich mit Erhard unterhielt und dabei auf irgendeine Not oder ein Unrecht zu sprechen kam, dann gingen sofort immer alle Lampen an. Solche Gespräche waren nicht denkbar, ohne dass ihm sofort eine Möglichkeit einfiel, irgendwo noch einige hundert Euro zu organisieren, um spontan zu helfen.

Irgendwen kannte er immer, den er noch wegen Hilfe und Unterstützung ansprechen konnte. Und selbst dabei schaffte er es immer noch, zusätzlich um ein paar Ecken mehr zu denken, um auch noch Bürgerkriegsflüchtlinge oder jugendliche Strafgefangene in seine Hilfsprojekte einzubinden.

Wenn er von irgendwoher um Hilfe gebeten wurde und es an Geld fehlte, dann hielt er eben irgendwo einen oder mehrere Vorträge über seine Reisen oder seine Projekte. Bei solchen Gelegenheiten stellte er dann ein Sparschwein auf, um für eine spezielle medizinische Behandlung in Tansania, für ein Waisenhaus in der Nähe von Kaliningrad, oder auch „nur“ für seinen Verein Rad & Tat e.V. zu sammeln.

Ein Mensch, der in so vielen Töpfen rührt, über den wird geredet. Und seien wir ehrlich: Leider nicht immer nur gut. Erhard war sich dessen bewusst. Er hat es hingenommen, wenn einzelne Kollegen oder andere ihn und seine Aktivitäten als etwas schräg, vielleicht sogar als etwas spinnert belächelten.

Wirklich getroffen hat es ihn, wenn es einzelne Missgünstige gab, die ihm unterstellten, er wolle sich nur wichtig machen und seinen Namen in der Presse sehen. Solche Gemeinheiten konnten ihm sehr lange nachgehen, denn Erhard mag vieles gewesen sein: Eitel war er eher zu wenig und ein Selbstdarsteller war er ganz sicher nie!

Für Erhard gehörte immer alles zusammen. Er liebte Menschen, besonders jene, die der Hilfe bedurften. Er konnte gar nicht anders. Erhard brachte Menschen zusammen, um zu helfen und um mit ihnen zusammen zu sein. Wo er war, da menschelte es. Immer. Da war es immer auch ein wenig bunt und warm. Er brauchte keine pathetischen Reden.

Aber es würde ihm nicht gerecht, ihn nur als den unermüdlichen Kämpfer mit dem großen Herzen zu sehen. Wenn er etwas anzettelte, dann tat er das immer auch, weil er eine tiefe Sehnsucht danach hatte, Teil eines Ganzen zu sein.

Er war „einzeln und frei“, wie es der von ihm verehrte Hannes Wader in einem Lied sang. Aber er wollte immer auch dazu gehören – und geliebt werden. Bei ihm gab es immer „diesen Hunger, diese Gier, nach Schönheit, Liebe, nach dem Leben“, wie es in einem anderen Wader-Lied heißt.

Wir wissen nicht, was ihm durch den Kopf gegangen sein mag, wenn er bei seinen Spendensammeltouren wochenlang allein auf seinem Fahrrad tausende Kilometer durch Europa fuhr. Solche Extremsport-Projekte haben ja immer ihre eigenen Hintergründe. Aber wir können wohl sicher sein, Erhard empfand sich durch seine jeweiligen sozialen Projekte immer mit sehr vielen Menschen sehr konkret verbunden.

Selbst so allein im Irgendwo an einem Straßenrand vor Istambul,  St. Peterburg oder Gibraltar brauchte er für sich wohl immer auch das Gefühl, zu etwas Größerem zu gehören. Dafür leistete er seinen ganz persönlichen Beitrag. Nie wäre es ihm dabei in den Sinn gekommen, die teilweise erheblichen Aufwendungen für seine Ausrüstung, Verpflegung, Übernachtungen usw. auch nur irgendwie mit den gesammelten Spenden zu „verrechnen“. Und weil das so war, steckte in jeder seiner Aktionen zusätzlich zu allem persönlichen Herzblut, seinem jeweiligen Jahresurlaub und aller Arbeit immer auch noch ein erheblicher materieller Anteil, der eigentlich nie wirklich gesehen und auch nie gewürdigt wurde.

Spätestens an dieser Stelle stellt sich die Frage, wie wird eigentlich so einer, der in kein Schema passt, der eigen ist und alles andere, als stromlinienförmig – wie wird so einer über vier Jahrzehnte zu einem Beamten des Finanzamtes für Steuerstrafsachen und Steuerfahndung? Einen wie Erhard stellt man sich vor mit wehenden Haaren, in lässiger Cordhose und mit kariertem Hemd als Lehrer, sagen wir, für Deutsch und Geschichte. Einer, den seine Schüler lieben, weil er ihnen den Kaspar Hauser erklärt und die Leiden des jungen Werther lebendig macht.

Und genau das hätte Erhard wohl eigentlich werden wollen. Dass er es nicht wurde, ist wohl nur aus seiner ganz persönlichen Geschichte zu erklären. Nach dem Abitur hatte er sich an der Uni Münster für ein Lehramtsstudium beworben. Allerdings war es wegen des damaligen Numerus Clausus unsicher, ob er angenommen worden wäre. Also bewarb er sich zusätzlich bei der Finanzverwaltung. Dieser Weg hatte für ihn zwei Vorteile. In den 1970er Jahren war – nicht nur in Lippe – noch die aus der Nazi-Zeit übernommene Erziehungs-Rhetorik verbreitet, Kinder sollten ihren Eltern nicht „auf der Tasche“ liegen. Von ihnen wurde erwartet,  möglichst bald „eigenes Geld zu verdienen“.

Umgekehrt bot die Anstellung als Inspektorenanwärter beim Finanzamt für Erhard die Möglichkeit, sich von zuhause unabhängig zu machen. Es ging ihm also nie darum, einzutauchen, in die Welt der Ärmelschoner- und Schlipsträger. Er suchte eine Möglichkeit, „auf eigenen Beinen zu stehen.“ Bei dieser Entscheidung blieb er auch, als er kurze Zeit später doch noch die Zulassung für Münster bekam.

Es braucht nicht viel Phantasie, sich vorzustellen, dass einer wie Erhard auch kritische Blicke auf sich zog – sowohl in seiner Behörde als auch im gediegenen Ambiente wirtschaftlicher Unternehmen. Umgekehrt ist es durchaus nachvollziehbar, dass der Steuerfahnder Krull nicht wirklich zu beeindrucken war, wenn beispielsweise ein ostwestfälischer Fleischbaron seine Haushälterin mit dem Fahrrad zur Grundstückseinfahrt schickte, um den dort wartenden Finanzbeamten abzuholen, damit dieser vorab eine Vorstellung der Größe von Besitz, Macht und Einfluss bekam, die bei der bevorstehenden Steuerprüfung berücksichtigt werden sollten.

Wenn Erhard privat andeutungsweise solche Dinge mal durchblicken ließ, war immer zu erkennen, dass er für soziale und Steuergerechtigkeit immer einen klaren Kompass hatte. Manchmal einen klareren als sein Dienstherr, der Steuergesetzgeber.

Dabei zeigte er bis zuletzt immer auch ein großes Verantwortungsbewusstsein. Noch im September dieses Jahres wollte er, während seiner Krebstherapie und nach einer großen Hüft-OP und Reha, noch einmal für vier Stunden täglich zurück an seinen Arbeitsplatz, um den Kollegen keinen unbearbeiteten Fall zu hinterlassen.

Vor allem in den letzten beiden Jahren, als er wusste, es wird ernst, wirkte es, als wollte er dem Krebs davonlaufen. Und zwischendurch sah es für kurze Zeit auch tatsächlich immer wieder mal so aus, als könnte er diesem miesen Verräter tatsächlich ein Schnippchen schlagen.

Wie ein Schwamm muss er in diesen zwei Jahren versucht haben, schöne Bilder, besondere Orte, außergewöhnliche Erlebnisse und die Treffen mit Menschen aufzusaugen. Jeweils zwischen seinen teilweise sehr belastenden Krebsbehandlungen reihten sich da Reisen nach Tansania, Marokko, Tschernobyl, Italien, Mallorca, Irland, die deutsche Ostseeküste, dazu zweimal Österreich, mehrfach Polen und der Besuch verschiedener europäischer Weihnachtsmärkte aneinander. Auch jetzt, während wir uns hier von ihm verabschieden, wollte er eigentlich den Weihnachtsmarkt in Stettin besuchen.

Nicht zu vergessen, in all dieser Zeit war er immer wieder und auch sehr intensiv für uns da, für seine Familie und seine Freundinnen und Freunde.

(…)

Wohl Anfang Oktober schrieb er auf seiner Internetseite mit dem schönen Namen Regenbogenjimmy seinen letzten Eintrag. Er lautet: „Aus gesundheitlichen Gründen wird es wohl keine Reise mehr geben. An Texel über den Jahreswechsel  kann ich nicht mehr glauben. Viele Urlaubswünsche bleiben unerfüllt. Ich hatte allerdings ein erfülltes Leben.“

Ja, Du Guter, das hattest Du wohl. Du hast etwas daraus gemacht.

Jetzt ist – um in Deinem Bild zu bleiben – der Jimmy über den Regenbogen gegangen. Wie wir Dich kennen, bist Du aber vermutlich wohl darüber geradelt. Ganz sicher hast Du viele Dinge bewegt. Viel mehr, als manche Menschen überhaupt für möglich halten. Vor allem hast Du dabei Herzen erreicht und Spuren hinterlassen. Auch, aber nicht nur im Herforder Stadtbild.

Für sehr viele Menschen gibt es unglaublich viele Orte, an denen sie immer wieder an Dich erinnert werden. Weil sie dort mit Dir gesessen, geredet und geträumt haben – manchmal sogar die Welt ein klein wenig angenehmer und wärmer machen durften.

Danke, Erhard, mögest Du lächeln und Deine Ruhe finden. Du hast es verdient.

Danke, dass es Dich für uns gab.

 

Der Beitrag Für Erhard Krull erschien zuerst auf Dieter Begemann.


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 December 8, 2020  n/a