Phantastikon

Literatur und Popkultur. Krimi und Thriller. Fantasy und Jugendbuch.

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Eric Basso – Der Pestarzt, Kapitel 1







Anmerkung des Übersetzung: Diese bahnbrechende und legendäre Geschichte  begann ich zu übersetzen, bevor Eric Basso überraschend am 10. Juni 2019 verstarb. Bisher konnte das Lizenzrecht nicht geklärt werden, so dass ich mein Vorhaben aufgeben musste. Tatsächlich gehe ich auch nicht davon aus, dass dafür in Deutschland einen Markt gegeben hätte, aber eine kleine Auflage für Kenner der Weird Fiction hätte mir eine gewisse Genugtuung verschafft. Ich erlaube mir dennoch, das erste Kapitel hier zu präsentieren. Ich verstehe das als einen Kulturauftrag. Wer die Novelle im Original lesen will, kann diese in Jeff & Ann VanderMeers The Weird finden.



Jetzt werde ich versuchen, wach zu bleiben. Der Nebel. Sie müssen mich bereits vor dem Morgengrauen gesucht haben. Leere Straßen. Durch einen schwach beleuchteten Raum.



Sie lag im Schatten. Die Stufen. Eine nach der anderen. Nicht, dass ich alt wäre. Es war die Maske. Der Gips bröckelte von den Wänden. Sie lag schlafend auf einer Couch. Ein Netzwerk von Rissen und verzweigten Adern wie die Oberfläche eines antiken Gemäldes. Chiaroscuro. Figuren halb geformt. Und sie war nackt. Kleine Wasserflecken in der Farbe von Rost. Von den Geländern ging ein Geruch nach Desinfektionsmittel aus. Mottenkugeln. Mit dem Geruch an meinen Händen kehrte ich dorthin zurück. Am unteren Ende der wackeligen Treppe konnte ich das fieberhafte Leuchten einer Glühbirne erkennen, die in die zerfressene Decke auf dem Treppenabsatz geschraubt war. Trittschatten schwangen sich über die Schuhspitzen, als ich mich dem oberen Ende näherte.







Keine Ecken. Ich musste meinen Kopf von einer Seite zur anderen drehen, um zu sehen, was um mich herum lag. Die Augenhöhlen waren eine Spur zu schmal geraten. Meine eigene Schuld. Beim Schneiden hatte ich mich nicht genau an das Muster gehalten. Sie bilden eine dunkle Vignette. Die Schutzbrille beschlägt. Dunkelheit um eine Dunkelheit herum, als ich in den Raum kam. Ich war am Ersticken.



Die Frau wich zurück. Zuerst schienen sie ein wenig erschrocken zu sein und murmelten vor sich hin.



Etwas zu leise, um es verstehen zu können. Ich sagte ihnen, sie müssten lauter sprechen. Eine Lampe brannte an der Kaminsimsuhr. Ein ovaler Streuteppich in der Mitte des Fußbodens, gerade außerhalb der Reichweite eines verblassten Lichtfeldes. Jetzt erinnere ich mich. In der Stille konnte man ein Ticken hören. Ich bildete mir nur ein, dass die Frau gesprochen hatte. Es könnte ein Rumpeln auf dem Boden darüber gewesen sein, verbunden mit den zufälligen Bewegungen ihrer Lippen. Der Vater nahm mich bei der Hand. Er war alt. Die Haut seiner Handflächen war trocken, seine Finger weich und leblos. Er wollte nicht sprechen. Hinter mir schloss sich eine Tür. Wir beide blieben mit der Unbekannten allein.



Ich musste ihm vermutlich helfen, durch den Raum zu kommen, er war so schwach. Seine Augen waren schlecht. Unterwegs blieb er einige Male stehen, um sich zu orientieren, und kratzte sich an den Augenbrauen, als versuche er sich zu erinnern, dass selbst in diesem gedämpften Licht ihre Flanke sichtbar war, und sich blass gegen den schwarzen Rumpf der Couch abhob. Ihr Gesicht war abgewandt oder unter einer Masse von langen dunklen Haaren oder in einem Schatten verborgen. Niemand hatte daran gedacht, sie mit einer Decke zu verhüllen. Wir lauschten ihrem Atmen zwischen den Ticks der kleinen Porzellanuhr; ein Miniaturpendel schwang in seinem länglichen Fenster, ein tiefes Klicken ließ von innen das Surren eines Mahlwerks ertönen – die Stunde erklang langsam am unteren Ende des Spiegels.



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 June 9, 2021  15m