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T.C. Boyle - América


Der Mensch hat eine Neigung dazu sich abgrenzen zu wollen. Vor allem gegen Dinge die ihm zuwider sind, weil sie beispielsweise seinen Besitz oder einfach seinen Komfortbereich bedrohen. Ein probates Mittel dafür scheint das Errichten einer Mauer zu sein. Dass gerade wir Deutschen uns mit diesem Thema auskennen muss nicht betont werden, dass wir dieses Jahr das 30jährige Jubiläum des Mauerfalls feiern können dagegen schon. Stellt sich nur noch die Frage was das alles mit T.C. Boyles 1995 erschienenen Roman América , oder im Original The Tortilla Curtain zu tun hat.

Schauplatz der Handlung ist das Los Angeles der 90er Jahre in denen Boyle zwei Familien agieren lässt, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf der einen Seite finden wir Delaney und Kyra Mossbacher mit Sohn Jordan, deren Leben sich in der schicken und den Wohlhabenden vorbehaltenen Wohngegend von Arroyo Blanco Estates abspielt, die auch namensgebend für das erste Kapitel des Buches ist. Das Familienleben gestaltet sich jedoch nicht nach den klassischen Rollenbildern, denn Kyra ist erfolgreiche Immobilienmaklerin und die Beste auf ihrem Gebiet, was lange Arbeitszeiten und hohen Aufwand inkludiert. Delaney hingegen, der ein großer Naturfreund ist, kann sich, auch aufgrund eines Erbes, den Luxus gönnen seinem Beruf als Journalist insofern nachzukommen, als dass er eine monatliche Kolumne in einer Naturzeitschrift veröffentlicht. Ansonsten kümmert er sich um den Haushalt und seinen Stiefsohn.

Auf der anderen Seite siedelt Boyle den Mexikaner Cándido Rincón und dessen Partnerin América an. Sie sind illegale, mexikanische Einwanderer die, wie so viele, versuchen in den USA Arbeit zu finden, um sich endlich ihren Traum von einem eigenen kleinen Häuschen und einem besseren Leben erfüllen zu können. Da ihr Geld momentan jedoch nicht einmal für eine kleine Wohnung reicht, kampieren sie in einem Canyon, der sich noch dazu unweit des Wohnviertels Arroyo Blanco befindet. Erschwerend hinzu kommt die Tatsache, dass América schwanger ist.

Das erste und entscheidende Aufeinandertreffen der Protagonisten, sofern man es denn so nennen kann, findet statt, als Cándido von Delaney auf einer viel befahrenen Straße angefahren und verletzt wird. Der ausschließlich spanisch sprechende Cándido gibt zu verstehen, dass er weder Krankenwagen noch andere Hilfe möchte und so lässt Delaney ihn, nachdem er ihm 20 Dollar gegeben hat, zurück. Der Unfall bildet den Ausgangspunkt für die Geschichte, die sich in drei Kapiteln entfaltet, wobei sich die Erzählperspektiven innerhalb der Kapitel abwechseln.

Einige zentrale Themen tauchen dabei immer wieder auf, haben aber, je nach Lebenssituation, völlig unterschiedliche Bedeutungen. Da wäre beispielsweise die Natur. Für die beiden Mexikaner Cándido und América, die sich täglich, so wie viele andere Mexikaner auch, bei einer Arbeitsvermittlung anstellen, um wenigstens für einen Tag Arbeit zu bekommen und sich etwas Geld zu verdienen, ist die Natur ihre Unterkunft. Ihre finanziellen Mittel reichen nicht aus, sich eine Wohnung zu mieten, weshalb ihnen nichts anderes übrig bleibt, als unter freiem Himmel zu kampieren. Es ist ihr Zufluchtsort, weil sie nirgendwo anders hin können. Für Delaney hingegen verkörpert die Natur Schönheit und Erholung. Er liebt seine Ausflüge und Beobachtungen, die ja auch Teil seines Jobs sind und verklärt die Natur regelrecht. Und es widert ihn an, dass Menschen wie Cándido und América in seinem geliebten Canyon hausen und ihren Unrat und Exkremente hinterlassen.

Ein weiteres zentrales Motiv im Roman ist der Kojote. Wegen des Angriffs eines Kojoten lassen sich die Mossbachers einen Zaun um ihr Grundstück errichten und Delaney versucht seine Nachbarn zu warnen, dass sie die Kojoten nicht füttern sollen, um sie nicht anzulocken. Auch in seinen Artikeln für seine Fachzeitschrift befasst er sich mit dem Kojoten als eingeschleppte Art, in dem er ihn als gerissen, aber auch als angepasst darstellt. Er hat seinen Lebensraum erweitert und Delaney sieht das Problem vor allem bei den Menschen, die den Kojoten mit Küchenabfällen und anderen kleinen Leckerbissen am Rande ihres Rasens füttern und ihn somit anlocken, weshalb es nicht verwunderlich ist, dass er immer wieder in dieses Revier zurückkehrt und sich auch geliebte Haustiere reißt. Das Motiv Kojote ist aber auch deshalb so wichtig und zieht sich durch den gesamten Roman, weil er eine Metapher für die Mexikaner ist. Auch sie durchstreifen beispielsweise die Gärten auf der Suche nach Essbarem und auch sie verlassen ihr Land, auf der Suche nach einem besseren Leben und versuchen sich entsprechend anzupassen, um hier nur einige Beispiele zu nennen.

Auffällig ist, dass sich die Protagonisten fast ausschließlich in einem Umfeld bewegen, dass den Mexikanern gegenüber negativ eingestellt ist. So wollen die Bewohner von Arroyo Blanco eine Mauer um ihr Viertel bauen, damit sie sich sicherer fühlen können undzwar nicht nur wegen der Kojoten. Sie sind sich aber keineswegs zu schade, die günstige Arbeitskraft der Mexikaner zu nutzen, um sich von ihnen diese Mauer errichten zu lassen. Aber auch die Mexikaner untereinander sind sich feindselig gegenüber eingestellt. Sie gönnen sich nichts, sondern berauben und verprügeln sich gegenseitig, um ihr jeweils eigenes Überleben zu sichern. Und das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Einzig Delaney scheint, zumindest was ihn und die Menschen aus seinem Wohnviertel angeht, einen inneren Konflikt zu führen und versucht auch, zumindest bis zu einem gewissen Punkt, für die Mexikaner Partei zu ergreifen. Letztlich schreibt er aber einen Artikel über den Kojoten, der die ganze Problematik sehr gut zusammenfasst und mit folgenden Worten endet:

„Die Coyoten jedenfalls sind auf dem Vormarsch, sie vermehren sich, um die Nischen zu füllen, siedeln sich dort an, wo das Leben am leichtesten ist. Sie sind gerissen, scharfsinnig, hungrig und nicht aufzuhalten.“

Nichtsdestotrotz sind aber die Wünsche und Vorstellungen der beiden Protagonistenpaare doch sehr ähnlich und es ist regelrecht tragisch zu sehen, wie Cándido und América immer wieder scheitern und Rückschläge erleiden müssen.

Boyles Werk ist geprägt von Themen wie Armut und Natur bzw. Umweltzerstörung, aber auch Ausländerfeindlichkeit, Ausgrenzung und damit verbundene Ängste, weshalb sich auch beim Lesen viele ambivalente Gefühle einstellen. Dennoch konnte ich mich auch in die teilweise sehr unterschiedlichen Gefühlswelten der Protagonisten eindenken. Womit Boyle einmal mehr verdeutlicht, dass es viele Themen gibt, die eben nicht nur schwarz oder weiß gesehen werden können.

Der Tortilla Vorhang, wie der Titel des Romans eins zu eins übersetzt heißen würde, meint umgangssprachlich eine durchlässige Grenze zwischen Amerika und Mexiko. Und wie war das noch gleich mit der Mauer, die da im Roman errichtet wird? An dieser Stelle möchte ich noch einmal darauf hinweisen, dass Boyles Werk bereits 1995 veröffentlicht wurde. Was wohl zeigt, dass manche Themen immer wert sind diskutiert zu werden und América auch heute an Aktualität nicht verloren hat, weshalb es meine unbedingte Leseempfehlung erhält.



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 June 26, 2022  7m