Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0519: Hinduismus


Ich bin nicht mehr die echte Hippie-Generation. Aber in meiner Jugend ist man durchaus noch nach Indien gereist auf der Suche nach Erleuchtung. Weswegen jeder irgendwelche Vorurteile zum Hinduismus pflegt und sich keiner auskennt. Ich auch nicht. Hier also ein paar Dinge, die ich aber schon zu wissen denke. Und die sage ich nur, weil ich es versprochen habe. Leichtsinnigerweise…

Download der Episode hier.
Opener: „Hare Krishna Hare Rama“ von Ram Das
Closer: „Scrubs – JD dances with the Krishnas“ von razxorx
Musik: „Bhangra – Pammi Bai (2016)“ von Punjabi originals / CC BY-NC-SA 3.0

+Skript zur Sendung
Einst im Mai versprach ich, über den Hinduismus zu sprechen. Habe ich aber nicht getan. Aus Gründen. Leider kann ich mich jetzt nicht mehr drücken, ich befürchte, ich muss sonst bei meinem Inder höhere Preise zahlen. Die Gründe damals waren hauptsächlich: Das ist sooo kompliziert!

Ich habe schon öfter Ansätze gemacht, die drittgrößte Weltreligion irgendwie zu verstehen. Oder sagen wir besser: Den Ansatz eines Gefühls dafür zu kriegen. Aber das ist keine kleine Aufgabe. Von Indien aus betrachtet sind unsere ach-so-wichtigen Buchreligionen Judentum, Christentum und Islam sich so ähnlich, dass man dort wohl kaum Verständnis dafür aufbringen kann, wie man sich wegen solcher marginaler Unterschiede die Köpfe blutig hauen kann.

Denn für diese monotheistischen Monokulturen, die wir da hegen und pflegen, wäre im Hinduismus Platz genug. Und noch für viele Religionen links und rechts davon auch. Weil, das ist ja alles ganz anders, wie schon erwähnt. Und kompliziert, wie schon erwähnt.

Da kann ich nicht soviel falsch machen. Reden wir also erst einmal davon, was der Hinduismus NICHT ist. Und welche Vorurteile wir da haben, die nicht stimmen. Was danach übrig bleibt, nennen wir dann einfach Hinduismus. Ok???

Also, ganz vorne angefangen: Hinduismus gibt es gar nicht.
Der Musiktitel von heute heißt „Hindu Shmindu“ und ist von… Kleiner Scherz.
Aber wahr. Korrekter wäre: Indische Religionssysteme. Das Wort „Hindu“ haben sich zuerst Muslime ausgedacht. Die haben so im 8ten Jahrhundert weite Teile des Westens Indiens beherrscht. Und die Nicht-Muslime einfach „Inder“ genannt. Indien auf arabisch heißt „Al Hind“. Übrigens aus rein steuerrechtlichen Gründen. Hindus/Inder mussten nämlich mehr Steuern zahlen als Muslime.

Die Briten haben dann Inder und Hindus unterschieden. Weil es in Indien halt auch Sikhs, Buddhisten oder eben Muslime gab. Vielleicht. Und die anderen nannte man dann Hinduisten. Das es sich dabei aber um viele verschiedene Religionen handelte, entging den Besatzern, weil die völlig friedlich nebeneinander und miteinander lebten. Das war für die Europäer einfach nicht zu verstehen.

Wenn ihr also hört: Im Hinduismus gibt es jene Götter oder diese, dann ist das eigentlich falsch. Selbst, wenn ihr hört: Der Hinduismus ist polytheistisch, dann ist das eigentlich falsch. Er kann viele Götter haben – bis zu 320 Millionen – oder aber nur zwei oder durchaus auch nur einen. Das ist nicht einmal selten. Je nachdem, welche Tradition man pflegt oder wo man gerade weilt. Oder, wen man ärgern will.

Es gibt nicht den einen Gründer, nicht die eine religiöse Stätte, nicht die eine Institution, nicht eine Schrift, keine 10 Gebote und schon gar keinen Ober-Hindu. Auch die Vorstellungen über das Leben, den Tod und die Erlösung sind nicht gleich. Zu sagen: Der Hinduismus per se bedeutet den Glauben an die Reinkarnation ist auch nicht richtig. Das macht alles ein bisschen kompliziert. Hatte ich das schon einmal erwähnt?

In der indischen Verfassung zum Beispiel steht im Artikel 25, in dem es um Religionsfreiheit geht, dass der Hinduimus auch den Sikhismus, den Jainismus und den Buddhismus umfasst. Alles Religionen, die in Indien ihre Wurzeln haben. Und weil das so ein offenes System ist, ist der Hinduismus auch die älteste Religion der Welt. Wie weit man dabei berechtigt in die Vergangenheit greifen darf, kann man diskutieren. Aber weiter als 1500 v.u.Z, als das Judentum sich entwickelte, reicht es leicht. Nehmen wir großzügig noch einmal 1000 Jahre dazu.

Alle Hindus sind Vegetarier. Hört man immer wieder. Und das, obwohl es mittlerweile an jeder zweiten Ecke indische Restaurants gibt. Nur ca. ein Drittel der Hindus lebt vegetarisch. Aber das macht dann halt auch 300 Millionen. Wenn man weiß, das es ca. 400 Millionen Vegetarier insgesamt auf der Erde gibt…

Ach, das Kastensystem wäre da noch! Das Kastensystem, das ist natürlich da. Aber es ist in seinem Ursprung nicht indisch und auch wieder so kompliziert und von Region zu Region verschieden, dass viele moderne Ethnologen den Begriff gar nicht mehr verwenden wollen. Allgemein sind die Kasten ein soziales Konstrukt, dass von der Religion gestützt wurde und nicht umgekehrt. Macht den Alltag für die Dalits, die Unberührbaren, auch nicht einfacher. Aber einige der Religionen, die wir mit Hinduismus summieren, lehnen das völlig ab. Noch existiert es, aber es wird sterben. Übrigens: Im Hinduismus muss man entgegen westlicher Vorteile nicht Brahmane sein, um Priester zu werden.

Die heilige Kuh. Auch ein schönes Vorurteil. Weil schon der Begriff „heilig“ etwas ist, dass ein Hindu so kaum verstehen würde. Kühe sind den Hindus nicht „heilig“ und schon gar nicht werden sie angebetet. Vielmehr sind Kühe in Indien ein lebendiges religiöses Symbol. Sie stehen für das mütterliche Prinzip und für das Altruistische. Denn sie geben so viel mehr, als sie nehmen. Aus Wasser und Gras schenken sie uns Milch, Käse, Butter, Joghurt, Ghee und Dünger für die Felder. Wäre ja blöd, die zu essen. Was aber die Inder bis in die Jungsteinzeit getan haben. Dann wurde einfach die Bevölkerungsdichte zu groß, um sich den Luxus Rindersteak zu leisten. Das ist sehr weise und würde uns im Westen als Erkenntnis nicht schlecht stehen, finde ich.

Wenn Frauen einen roten Punkt auf der Stirn tragen, dann sind sie verheiratet. Das stimmt so schon irgendwie, aber halt auch nicht mehr. Dieser Punkt heißt Bindi, das männliche Äquivalent heißt Tilak, das sind aber Streifen. Die gab es in verschiedenen Farben mit verschiedenen Bedeutungen und sie hatten tatsächlich einen hohen spirituellen Sinn. An dieser Stelle des Gesichts sitzt das Aijna Chakra, bei uns oft „Drittes Auge“ genannt. Das ist mit dem Ahamkara verbunden. Wir würden vielleicht Ego sagen. Aber was soll das Gelaber: Im heutigen Indien ist das völlig bedeutungslos und junge Frauen tragen Bindis in jeder Farbe die sie wollen. Oder auch keine.

Die Bhagavad Gita ist das heilige Buch der Hindus. Oder gar die Bibel, habe ich auch schon gehört. Das mit dem „heilig“ lassen wir einmal, das hatten wir ja schon bei den Kühen. Tatsächlich ist die Gita aber sehr wichtig. Sie führt als riesiges Lied mehrere indische Glaubenssysteme zusammen. Weswegen sie auch so widersprüchlich ist, ähnlich wie unser Altes Testament. Ich halte es für eines der wichtigsten spirituellen Werke der Menschheit überhaupt – auch wenn sie mir völlig fremd bleibt. Aber sie ist keine Geschichte in dem Sinn, enthält keine Prophezeiungen und ist vor allem nicht die Basis der hinduistischen Religionen. Ghandi nannte die Gita einmal ein „spirituelles Nachschlagewerk“ – das trifft es ganz gut. Für Anfänger die Empfehlung: Kuckt doch einfach ‘mal den Film „Die Legende von Bagger Vance“ an. Und stellt euch vor, Will Smith wäre Krishna. Das wäre der Einstieg mit der geringsten Hemmschwelle, denke ich.

O.k. Gut so? Reicht das? Wie? Zu allgemein? Zu nverbindlich? Weil ich mich drücken will, etwas Konkretes zu sagen? Erwischt. Stimmt genau. Mir wäre es lieber, wir könnten den bunten Flickenteppich gemeinsam bewundern. Popcorn?
Aber basteln wir uns doch schnell etwas, um den sogenannten Hinduismus besser zu verstehen.

Das, was wir im Westen am ehesten als Parallele zu – meinetwegen dem Christentum – verstehen könnten, nennen wir ‘mal den „Brahmanischen Sanskrit-Hinduismus“. Da kämen dann die uns bekannten Götter Shiva, Vishnu, Devi, Rama, Krishna und Ganesha drin vor, die wir im Restaurant so gerne anglotzen, wenn die Papadams noch nicht da sind. Wobei deren Chef dann wieder Brahma wäre und der Hinduismus doch monotheistisch, aber lassen wir das. Ich habe viel Lebenszeit verbracht, Konfirmanden und auch Erwachsenen zu erklären, warum der christliche Gott dreifaltig ist und das Christentum trotzdem monotheistisch. Lassen wir das einfach weg. Das ist in beiden Fällen Quatsch.

Wichtige Strömungen im Brahmanismus betonen bestimmte Götter stärker. Wir könnten also von Shivaismus oder Vishnuismus sprechen. Und auch noch von Shaktismus, das ist Brahmanisch auf weiblich. Shakti ist die weibliche Urkraft im Universum und die Stimme Brahmans in der Welt.

Gut, das wäre es schon an Parallelen. Ein System in hauptsächlich drei Ausprägungen. Sozusagen wie im Christentum orthodox, katholisch und evangelisch.

Nächstes Problem: Die meisten Hindus haben zu diesen gemeinsamen Vorstellungen einfach noch mindestens eine Religion dazu. Die haben dann lokale Götter, eigene Priester, da gibt es auf einmal Geister oder etwas wie Dämonen, da ist Platz für Schamanismus oder Animismus oder gar Magie. Das stört aber keinen weiter, das integriert man einfach.

Und wenn man will, gehört man noch einer Sekte zusätzlich an. Weil das für den Hindu keine Spalter sind. Sekten sind einfach bestimmte Ausprägungen bestimmter Aspekte, die aber von einem einzelnen Menschen gestiftet wurden. Einem Brahmanen, einem Guru, einem Jogi oder einfach einem Menschen, der irgendwie einen schlauen Eindruck macht.

Und das alles kann man arrangieren, wie man will. Auf seine Art ist der Hinduismus nicht ein veraltetes, uraltes Konzept mit seltsamen, vielarmigen Göttern und Witwenverbrennung. Sondern vielleicht sogar moderner als wir buchstabengetreuen Buchreligionen. Er ist toleranter, vielfältiger und individueller. Man kann als Hinduist Mystiker, Forscher, Philosoph oder einfach Frommer sein. Monotheist, Polytheist oder Sektierer. Es ist viertausend Jahre Geschichte und ein ganzer Subkontinent dafür Platz. Es gibt eben nicht einen Hinduismus, sondern ungefähr eine Milliarde Hinduismen.

„Dann geh’ halt nach drüben, wenn Du das so toll findest!“
Ich? Nee. Sorry. Viel zu kompliziert!


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 September 6, 2016  17m