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Adrian Pourviseh – Das Schimmern der See | Buchkritik


Es beginnt ganz friedlich. Das Meer liegt blau und still in der Sonne. Ein Rettungsboot umkreist einen Körper im Wasser. Jeder Handgriff sitzt, der Körper wird an Bord geholt. Hier wird die Seenotrettung geübt, der Körper ist eine Attrappe. Adrian Pourviseh dokumentiert die Übung – so wie er später die Rettungsaktionen begleiten wird: er fotografiert und führt Interviews. Zum Beispiel mit der norwegischen Seenotretterin Ingjerd, die nicht fassen kann, dass die staatlichen Seenotretter der Mittelmeerregionen nicht tätig werden, wenn Flüchtlingsboote in Not sind. Oder mit Patrick, der schon so lange dabei ist, dass die Erfahrungen auf dem Mittelmeer sein Herz so hart gemacht haben, dass er sich nicht mehr verlieben kann. Im Comic erzählt Adrian Pourviseh jeweils in zwei Bildern von den Helfenden – und macht so in einem ersten kleinen Schritt nachfühlbar, was im Mittelmeer passiert. Die Not von Rettern und Fliehenden respektvoll darstellen „Es ging mir dabei darum, dass wir das Minimum über die Personen wissen: wer sind siewas hat das mit ihnen gemacht. Und alles, was danach kommt im Buch, das erleben wir gemeinsam. Und vielleicht erleben wir eben mit die Schrecken und Schauer in den Gesichtern der Figuren, in den Reaktionen der Figuren.“ Das Schaudern kommt dann tatsächlich, als Flüchtende von einem kleinen Schiff gerettet werden, auf dem es gebrannt hat. Eine Ärztin an Bord schneidet einem Kind die Hautfetzen von den verbrannten Armen und Beinen. „Schau mir in die Augen“, sagt die Ärztin, „welche Augenfarbe habe ich?“ – um vom Schmerz abzulenken. Die Mutter, die selbst gerade gerettet wurde, hält dem Kind die Hand. Den Schmerz des Kindes zeichnet Adrian Pourviseh vor allem gespiegelt in den Gesichtern der Mutter und der Ärztin. „Das Schimmern der See“ ist eine Comicdokumentation, die Adrian Pourviseh aus den Interviews und seinen Fotografien von Bord nachgezeichnet hat. „Ich glaube, die Graphic Novel kann an dieser Stelle etwas, was Fotografie nur schwer kann: eigentlich sehr vieles zeigen und gleichzeitig anonymisiert zu sein. Und das ist etwas, was mir oft fehlt, wenn wir uns angucken, wie wird über das Leid von schwarzen Menschen berichtet. Und das, was wir sehen, auch diese Grausamkeit ist ein Versuch, das Leid auf eine andere Art und Weise zu dokumentieren, und vielleicht auf eine respektvollere Art und Weise, ohne die Grässlichkeit dessen zu verringern.“ Wo staatliche Dienste aktiv wegschauen, versuchen die Seenotretter zu helfen Denn die Seenotrettungsdienste der Mittelmeerstaaten schauen weg, wenn ein Flüchtlingsboot in Seenotgerät. Adrian Pourviseh zeichnet anhand der Seegrenzen nach, welche Staaten eigentlich Seenotretter schicken müssten, welche Schiffe weiterfahren, obwohl sie nach internationalem Seerecht helfen müssten. Und dann ist da noch Libyen, das Geld von der EU bekommt, damit möglichst wenige Menschen übers Mittelmeer kommen. Immer wieder bringen lybische Schiffe Flüchtlinge widerrechtlich aus internationalen Gewässern zurück an die afrikanische Küste. Sie drohen den Seenotrettern. Nur wenn sich eine Katastrophe anbahnt, drehen die lybischen Schiffe ab. Etwa als ein zweistöckiges Schiff mit rund 400 Menschen an Bord Leck geschlagen hat. Als die Seenotretter kommen, springen Flüchtlinge ins Wasser und schwimmen ihnen entgegen. Doch die Retter versorgen erst alle mit Schwimmwesten, so wie es das Rettungsprotokoll vorsieht. Eine nervenzerreißende Aufgabe. „Wenn wir da eine Person auf unser Rettungsboot aufnehmen, dann kann es sein, dass das andere motiviert, auch ins Wasser zu springen, weil sie in ihrer Panik die Hoffnung haben, als erstes gerettet zu werden. Oder überhaupt gerettet zu werden von diesem sinkenden Holzboot. Und die schwierige Entscheidung, die zu treffen war, dass weiterhin das Protokoll weiterverfolgt wird, und alle Menschen erst mal mit Rettungswesten versorgt werden, bevor andere Menschen aus dem Wasser gerettet werden. Um zu verhindern, dass das Boot ins Wanken gerät und kentern könnte.“ Adrian Pourviseh: Ich hatte gar keine Zeit zu realisieren, wie sehr das schief gehen kann Adrian Pourviseh will nicht schwarze Opfer und heldenhafte weiße Retter zeigen – das gelingt ihm gut, gerade weil er zeigt, wie mitgenommen und angespannt auch die Rettenden sind, wie sehr alle aufeinander angewiesen sind. „In solchen Momenten fühlt man nicht besonders viel, eigentlich muss man stahlharte Nerven bewahren, ich hatte überhaupt keine Zeit zu realisieren, wie sehr das schief gehen kann. Man ist einfach in einer extrem erhöhten Alarmbereitschaft.“ Für die Helfenden gibt es im Anschluss psychologische Betreuung von den Hilfsorganisationen. Für die Flüchtlinge ist so eine Hilfe in den Europäischen Sozialsystemen nicht vorgesehen. Auch darauf weist Adrian Pourviseh in seinem Comic hin. Und Für ihn ist das aktuell keine Flüchtlingskrise, sondern eine Krise der Solidarität mit Menschen, die Hilfe brauchen. Denn gerade Deutschland habe eine historische Verantwortung gegenüber Geflüchteten. Adrian Pourviseh zeichnet in seiner Comicdokumentation die Not auf dem Mittelmeer ganz unaufgeregt mit einfachen Bleistiftstrichen, die er farbig unterlegt. Auch deswegen ist „Das Schimmern der See“ so eindrücklich.


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 October 8, 2023  5m