Alles Geschichte - History von radioWissen

Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.

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HOLOCAUST-GEDENKTAG - Das Tagebuch der Anne Frank


Das Tagebuch der Anne Frank hat Millionen Menschen bewegt. Mit 13 Jahren beginnt das Mädchen unter dem Druck nationalsozialistischer Verfolgung seine Gedanken und Gefühle aufzuzeichnen. Trotz aller Ängste lässt sie sich ihre Neugier gegenüber dem Leben nicht rauben. Doch zwei Jahre später wird ihr Versteck entdeckt. Anne Frank stirbt mit 15 Jahren im Konzentrationslager Bergen-Belsen. Am 27. Januar ist der internationale Holocaust-Gedenktag. Autorin: Brigitte Kohn (BR 2022)

Credits
Autor/in dieser Folge: Brigitte Kohn
Regie: Axel Wostry
Es sprachen: Friedrich Schloffer, Rahel Comtesse, Adela Florow, Ilse Neubauer

Redaktion: Hildegard Hartmann

Linktipps:

Deutschlandfunk Kultur (2022): Die Deutschen waren erschüttert – aber ohne Schuldgefühle

Mitte der Fünfziger begann die Erfolgsgeschichte des Tagebuchs der Anne Frank. Eine populäre Theaterumsetzung sorgte dafür, dass sich die Deutschen mit dem Buch beschäftigten. Doch von echter Vergangenheitsbewältigung konnte noch keine Rede sein.
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BR2 (2023): Die Quellen sprechen

Schauspieler und Zeitzeugen lesen Dokumente – verfasst von Tätern, Opfern und Beobachtern der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945. Ergänzend zum Podcast, findet sich unter die-quellen-sprechen.de ein Archiv für die Dokumente, Zeitzeugengespräche und Hintergrundinformationen. Zusatzinformationen, wie Landkarten, Zeitstrahl oder Personenangaben helfen, das Gehörte oder Gelesene in einen Kontext einzuordnen und die vielfachen Perspektivwechsel zu rezipieren. Das Projekt entstand im BR in Zusammenarbeit mit dem Institut für Zeitgeschichte München-Berlin.
ZUM PODCAST

BR: Die Rückkehr der Namen

Mit dem Projekt "Die Rückkehr der Namen" will der Bayerische Rundfunk mit Unterstützung des Kulturreferats der Landeshauptstadt München an 1.000 Münchnerinnen und Münchner aus allen Opfergruppen erinnern, die während des NS-Regimes verfolgt, entmenschlicht und ermordet wurden. Zum Erinnerungsprojekt geht es HIER.


Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. 

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten Tagebuches
TC 05:24 – Das Leben im Verborgenen
TC 08:07 – Zwischen Todesangst und Depression
TC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und Hoffnung
TC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen?
TC 14:25 – Glaube ist stärker
TC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne Frank
TC 19:10 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

SPRECHER: 
Freitag, 4. August 1944. In der Amsterdamer Firma "Opekta" an der Prinsengracht 263 beginnt ein ganz normaler Arbeitstag. Gerade hat die Sekretärin Miep Gies ihr Büro betreten. Aber sie setzt sich nicht sofort an den Schreibtisch. Sie schiebt ein Regal beiseite und öffnet die Tür, die sich dahinter verbirgt. Hinter dieser Tür leben acht Menschen, von denen niemand wissen darf. Es sind Juden. Und Juden werden von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt, in Konzentrationslager getrieben, umgebracht.

SPRECHERIN: 
Die Jüngste der acht heißt Anne Frank. Sie ist fünfzehn Jahre alt. Ihr Vater Otto Frank war früher der Chef der Firma. Seine Mitarbeiter beschützen und versorgen die Versteckten, riskieren ihr Leben für sie. Miep Gies ist eine von den Helfern.

SPRECHER: 
An jenem Freitagmorgen wartet Anne schon ungeduldig auf sie. Besuch ist ihre einzige Abwechslung. Miep erinnert sich: 

 ZITATORIN Miep: 
„Anne hatte wie üblich unzählige Fragen auf Lager und drängte mich, ein bisschen mit ihr zu reden. Wenn ich am Nachmittag die Lebensmittel heraufbrächte, bliebe ich zu einem ausführlichen, gemütlichen Schwatz, versprach ich. Bis dahin müsse sie sich gedulden. Ich ging zurück ins Büro und fing an zu arbeiten."

SPRECHERIN: 
Miep und Anne begegnen sich hier zum letzten Mal. Denn wenig später steht ein Gestapo-Beamter vor Mieps Schreibtisch – mit gezückter Pistole.

SPRECHER: 
Irgendjemand hat der Polizei das Versteck verraten. Und nun geht alles sehr schnell: Die Gestapo-Leute treiben die Menschen aus ihren Zimmern. Wenig später werden sie in einem Auto abtransportiert.

SPRECHERIN: 
Miep bleibt zurück. Fassungslos steht sie in den verwüsteten Räumen.

 ZITATORIN Miep:
"Sie hatten wie die Wandalen gehaust. [...] Auf dem Fußboden, inmitten von Papierbergen und Büchern, entdeckte ich einen rot-orange-grau karierten Leineneinband – Annes Tagebuch, das sie zu ihrem dreizehnten Geburtstag von ihrem Vater geschenkt bekommen hatte."

SPRECHERIN:
Miep weiß auch, was den Verhafteten bevorsteht. Trotzdem hofft sie, Anne einmal wiederzusehen. Sie legt das Tagebuch ungelesen in eine Schublade und schließt sie ab.

ZITATORIN Miep:  
"Ich werde alles sicher aufbewahren für Anne, bis sie zurückkommt."

SPRECHER:
Anne kam nie zurück. Von den acht Untergetauchten überlebte nur der Vater Otto Frank. Das Tagebuch seines toten Kindes überwältigte ihn. Er habe, so sagte er nach dem Krieg, keine Ahnung von der Tiefe ihrer Gedanken und Gefühle gehabt.

TC 02:51 – Liebe Kitty: Anfänge des weltbekannten Tagebuches

SPRECHERIN:  
Wie sollte er auch. Das Tagebuch war Annes eigene Welt. Erwachsene hatten hier keinen Zutritt. Anne redete in ihrem Tagebuch mit Kitty, einer Freundin, die nur in ihrer Fantasie existierte.

ZITATORIN Anne:
"Ich werde, hoffe ich, dir alles anvertrauen können, wie ich es noch bei
 niemandem gekonnt habe.“

SPRECHER:
So beginnt Annes Tagebuch am 12. Juni 1942, Annes dreizehntem Geburtstag. Anne ist ein ganz normales Mädchen: hübsch, gesellig, fröhlich. Sie liebt Schwatzen, Geheimnisse und Filmstars. Aber ihr Leben steht von Anfang an unter dem Schatten der Verfolgung. Anne erzählt:

ZITATORIN Anne:
"Mein Vater, der liebste Schatz von einem Vater, den ich je getroffen habe, heiratete erst mit 36 Jahren meine Mutter, die damals 25 war. Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren, in Deutschland. Am 12. Juni 1929 folgte ich. Bis zu meinem vierten Lebensjahr wohnte ich in Frankfurt. Da wir Juden sind, ging dann mein Vater 1933 in die Niederlande."

SPRECHER: 
Amsterdam, das bedeutet unbeschwerte Kinderjahre: bis die Nazis im Mai 1940 auch die Niederlande besetzen. Die Schlinge zieht sich zu für die Juden dort. Eine antisemitische Verordnung jagt die andere. Anne beobachtet die Situation genau:

ZITATORIN Anne: 
"Juden müssen ihre Fahrräder abgeben; Juden dürfen nicht mit der Straßenbahn fahren; Juden dürfen nicht mit einem Auto fahren, auch nicht mit einem privaten; Juden dürfen nur von 3-5 Uhr einkaufen; Juden dürfen nur zu einem jüdischen Frisör; Juden dürfen zwischen 8 Uhr abends und 6 Uhr morgens nicht auf die Straße; Juden dürfen sich nicht in Theatern, Kinos und an anderen dem Vergnügen dienenden Plätzen aufhalten; Juden dürfen nicht ins Schwimmbad, ebenso wenig auf Tennis-, Hockey- oder andere Sportplätze; Juden dürfen nicht rudern; Juden dürfen in der Öffentlichkeit keinerlei Sport treiben; Juden dürfen nach 8 Uhr abends weder in ihrem eigenen Garten noch bei Bekannten sitzen; Juden dürfen nicht zu Christen ins Haus kommen; Juden müssen auf jüdische Schulen gehen und dergleichen mehr. So ging unser Leben weiter, und wir durften dies nicht und das nicht."

SPRECHER: 
Auch das Tragen eines gelben Sterns mit der Aufschrift "Jude" wird zur Pflicht. Immer häufiger treibt die SS große Gruppen von Menschen mit dem gelben Stern an der Kleidung durch Amsterdams Straßen. Es sind Kinder darunter, alte Menschen, schwangere Frauen. Ihr Weg führt zum Bahnhof, wo die Waggons der Deutschen Reichsbahn stehen: bereitgestellt, um Menschen in den Tod zu fahren.

TC 05:24 – Das Leben im Verborgenen

SPRECHERIN: 
Als auch Margot, Annes Schwester, den Befehl zum Abtransport in ein Konzentrationslager erhält, flieht die Familie in ihr Versteck, zusammen mit dem Ehepaar van Daan und deren sechzehnjährigen Sohn Peter. Später kommt noch der Zahnarzt Dr. Albert Dussel dazu. Anne hat die Namen erfunden. Die van Daans heißen eigentlich van Pels. Und Dussel heißt in Wirklichkeit Fritz Pfeffer.

SPRECHER: 
Doktor Dussel und Anne müssen sich ein Zimmer teilen. Das Pseudonym spricht Bände: Die quirlige Dreizehnjährige hat für den strengen, einsamen älteren Herrn wenig übrig.

ZITATORIN Anne: 
"Ich glaube, bei Herrn Albert Dussel zu Hause ist alles, was er sagt, Gesetz. Aber Anne Frank passt solches ganz und gar nicht!"

SPRECHERIN:
Sie vermisst ihre Freundinnen und ihre Flirts mit Jungen. Sie darf nie nach draußen und muss tagsüber, solange der Bürobetrieb im Vorderhaus läuft, ganz leise sein. Aber Anne ist abenteuerlustig, und am Anfang nimmt sie die neue Lebenslage nicht allzu schwer.

ZITATORIN Anne: 
"Ich fühle mich wie in einer sehr eigenartigen Pension, in der ich Ferien mache. Eine ziemlich verrückte Auffassung vom Untertauchen, aber es ist nun mal nicht anders. Das Hinterhaus ist ein ideales Versteck. Obwohl es feucht und ein bisschen schief ist, wird man wohl in ganz Amsterdam, ja in ganz Holland, kein so bequem eingerichtetes Versteck finden."

SPRECHER: 
Anne hat Recht. Rund 27.000 der 140.000 in den Niederlanden lebenden Juden sind untergetaucht. Viele hausen in winzigen Dachkammern, in feuchten Kellern. Das Risiko, entdeckt zu werden, ist sehr groß. Rund ein Drittel aller untergetauchten Juden werden von ihren Landsleuten verraten. Die Deutschen zahlen für jeden entdeckten Juden eine Belohnung.

SPRECHERIN: 
Aber auch im Hinterhaus ist es bedrückend eng. Ständig gibt es Streit. Für die aufmüpfige Jüngste hagelt es Standpauken von allen Seiten. Anne will sich abgrenzen, besonders von der Mutter. Auf Edith Frank lasten die quälenden Sorgen am meisten, während Anne vorlaut und selbstbewusst einer strahlenden Zukunft entgegen träumt

ZITATORIN Anne:
„Ich bin keinesfalls auf ein solche beschränktes Leben aus wie Mutter und Margot sich das wünschen. Ich will was sehen und was erleben von der Welt“

SPRECHER:
Doch Anne macht das Leben im Hinterhaus auch leichter – mit ihrem Humor.

ZITATORIN Anne: 
"Peter kann ab und zu recht witzig sein. Eine Vorliebe, die alle zum Lachen bringt, hat er jedenfalls mit mir gemeinsam, und zwar Verkleiden. Er in einem sehr engen Kleid seiner Mutter, ich in seinem Anzug, so erschienen wir, mit Hut und Mütze geschmückt. Die Erwachsenen bogen sich vor Lachen, und wir hatten nicht weniger Spaß."

TC 08:07 – Zwischen Todesangst und Depression

SPRECHERIN: 
Aber die Todesangst ist allgegenwärtig. Wenn nachts die Bomber über Amsterdam fliegen, kriecht Anne außer sich vor Panik in Vaters Bett. Otto Frank nimmt sie dann in den Arm, erzählt ihr Geschichten. Mehr kann er nicht tun. Miep Gies erinnert sich:

ZITATORIN Miep: 
"Sie konnten nirgends hin, es gab für sie kein Entkommen. Die ohrenbetäubenden Detonationen erschienen viel näher, als sie es tatsächlich waren. Das steigerte den Horror derart, dass sie sich tagelang nicht davon erholen konnten.“

SPRECHER:
Außerdem ist ganz Amsterdam gelähmt vom Lärm der nächtlichen Razzien. Nachts werden die Juden aus den Wohnungen geholt. Miep hat es miterlebt.

ZITATORIN Miep: 
"Durch die ganze Gegend hallten die durchdringenden Trillerpfeifen, und dann dröhnten schwere Stiefelschritte die Treppen hinauf, Gewehrkolben hämmerten an die Türen, schrilles, endloses Klingeln, die raue, Furcht einflößende deutsche Stimme, die befahl: 'Aufmachen! Beeilung! Beeilung!' "

SPRECHER: 
Anne weiß, was in den Lagern geschieht.

ZITATORIN Anne: 
"Wir nehmen an, dass die meisten Menschen ermordet werden. Der englische Sender spricht von Vergasungen, vielleicht ist das noch die schnellste Methode zu sterben."

SPRECHER: 
Der erste Winter im Hinterhaus ist eine Zeit schwerer Depression. Anne schluckt Baldriantabletten zur Beruhigung, aber sie helfen nicht viel.

ZITATORIN Anne 
"Ich irre von einem Zimmer zum anderen, die Treppe hinunter und wieder hinauf, und habe ein Gefühl wie ein Singvogel, dem die Flügel mit harter Hand ausgerissen worden sind und der in vollkommener Dunkelheit gegen die Stäbe eines engen Käfigs fliegt. 'Nach draußen, Luft und Lachen!' schreit es in mir. Ich antworte nicht mal mehr, lege mich auf die Couch und schlafe, um die Zeit, die Stille und auch die schreckliche Angst abzukürzen, denn abzutöten sind sie nicht."

TC 09:57 – Ein Mädchen voller Inspiration, Träume und Hoffnung

SPRECHER: 
Aber Anne will leben. Sie gibt nicht auf. Wenn sie an ihrem Tagebuch schreibt, spürt sie ihre schöpferische Begabung. Unermüdlich feilt sie an ihren Formulierungen, verbessert ihren Stil. Nach dem Krieg will sie ein Buch über das Hinterhaus herausgeben. Ihr Tagebuch soll die Grundlage sein. Im Fluss des Schreibens hält sie die Hoffnung auf Zukunft lebendig.

ZITATORIN Anne 
"Ich will fortleben nach meinem Tod. Und darum bin ich Gott so dankbar, dass er mir bei meiner Geburt schon eine Möglichkeit mitgegeben hat, mich zu entwickeln und zu schreiben, also alles auszudrücken, was in mir ist."

SPRECHER:
Anne will später als Schriftstellerin arbeiten. Oder als Journalistin. Sie freut sich darauf, eine Frau zu werden. Die Nazis wollen ihren Tod, aber ihr Körper ist jung und lebendig.

ZITATORIN Anne 
"Ich finde es so sonderbar, was da mit mir passiert, und nicht nur das, was äußerlich an meinem Körper zu sehen ist, sondern das, was sich innen vollzieht. [...] Immer, wenn ich meine Periode habe, (...), habe ich das Gefühl, dass ich trotz der Schmerzen, des Unangenehmen und des Ekligen ein süßes Geheimnis in mir trage. Deshalb, auch wenn es mir immer nur Schwierigkeiten macht, freue ich mich in gewisser Hinsicht immer wieder auf diese Zeit, in der ich es wieder fühle."

SPRECHERIN: 
Miep spürt, wie schwer es für Anne ist, mit all diesen Gefühlen allein zu sein.

SPRECHER:
Die Helfer besuchen das Versteck täglich. Das gibt den Eingeschlossenen Sicherheit. Auch ein geregelter Tagesplan ist wichtig. Für Anne, Margot und Peter stehen alle Schulfächer auf dem Programm. Anne lernt gern – es vertreibt die Zeit.

TC 11:44 – Wie wird man in einem Versteck erwachsen?

SPRECHERIN: 
Auch der Schlaf gibt neue Kraft, und helle Träume spenden Trost. Anne träumt von ihrer Kinderliebe, einem Jungen namens Peter Schiff. Der Traum fasst ihre Sehnsucht nach Nähe in zarte, erotische Bilder.

ZITATORIN Anne 
"Und dann fühlte ich seine weiche, o so kühle und wohl tuende Wange an meiner, und alles war so gut, so gut ...."

SPRECHERIN: 
Anne wünscht sich die Nähe eines Jungen, der ihr nah sein, der sie berühren will. Das macht ihr der Traum bewusst. Aber Peter Schiff ist
nicht da.

SPRECHER: 
Peter van Daan aber schon. Er ist ein stiller Junge, und eigentlich findet Anne ihn langweilig. Ermutigt durch ihren Traum, beginnt sie, genauer hinzusehen. Sie wirbt um sein Vertrauen. Ein Abenteuer beginnt.

ZITATORIN Anne 
"Mir wurde ganz seltsam zumute, als ich in seine dunkelblauen Augen schaute und sah, wie verlegen er bei dem ungewohnten Besuch war. Ich konnte an allem sein Inneres ablesen, ich sah in seinem Gesicht noch die Hilflosigkeit und die Unsicherheit, wie er sich verhalten sollte, und gleichzeitig einen Hauch vom Bewusstsein seiner Männlichkeit. Ich sah seine Verlegenheit und wurde ganz weich von innen."

SPRECHERIN:
Die beiden beginnen sich zu mögen. Erst wie Freunde, dann wird mehr daraus. Sie sprechen über Sexualität, über ihre Sehnsüchte, über ihre Zukunftshoffnungen. Sie liegen einander in den Armen.

ZITATORIN Anne:
"Er ruhte nicht eher, bis mein Kopf auf seiner Schulter lag und der seine darauf. Als ich mich nach ungefähr fünf Minuten etwas aufrichtete, nahm er meinen Kopf in seine Hände und zog ihn wieder an sich. Oh, es war so herrlich! Ich konnte nicht sprechen, der Genuss war zu groß. ... Das Gefühl, das mich dabei durchströmte, kann ich dir nicht beschreiben, Kitty. Ich war überglücklich, und ich glaube, er auch."

SPRECHERIN: 
Annes zarter, magerer Körper, geschwächt durch Bewegungsmangel, schlechte Ernährung und ständige Angst, in den Armen eines liebevollen Jungen: Das war eine überwältigende Erfahrung für sie. Aber das Glück flaut bald ab. Mit dem, was Anne alles auf dem Herzen hat, ist Peter einfach überfordert. Nur schmusen, das reicht ihr nicht. Langsam und vorsichtig löst sie sich von Peter. Aber sie gibt ihm keine Schuld und versucht nicht, ihn zu verändern. Die beiden bleiben Freunde.

TC 14:25 – Glaube ist stärker

SPRECHERIN:
Anne weiß, dass sie ihr Schicksal allein bestehen muss. Sie entdeckt Kraftquellen, die ihr Unabhängigkeit geben: die Natur zum Beispiel, die draußen grünt und blüht, ohne sich um Krieg und Vernichtung zu kümmern. Einmal, die Nacht ist sehr dunkel, riskieren es die Eingeschlossenen, ein Fenster zu öffnen, und Anne schaut bezaubert ins Freie:

ZITATORIN Anne:
"Der dunkle, regnerische Abend, der Sturm, die jagenden Wolken hielten mich gefangen. Nach anderthalb Jahren hatte ich zum ersten Mal wieder die Nacht von Angesicht zu Angesicht gesehen."

SPRECHER: 
Wenn sie in den Himmel sieht, spürt sie, dass Gott auf ihrer Seite steht. Annes Gott stiftet Beziehung und Leben, er ist eine Quelle des Glücks.

ZITATORIN Anne:
"Abends, wenn ich im Bett liege und mein Gebet mit den Worten beende: Ich danke dir für all das Gute und Liebe und Schöne, dann jubelt es in mir. Dann denke ich an das Gute: das Verstecken, meine Gesundheit, mein ganzes Selbst.“

SPRECHER: 
Annes Gott ist nicht weit weg. Er ist in das Seiende eingesenkt, in die Natur und in die menschliche Seele. Anne findet ihn in sich selbst, im Zentrum ihrer eigenen Kraft. Mit ihrer Gottesbeziehung wächst auch ihr Stolz auf ihr jüdisches Erbe, ihr Vertrauen in die Stärke ihres Volkes und in seine historische Mission.

ZITATORIN Anne
 
"Wer hat uns das auferlegt? Wer hat uns Juden zu einer Ausnahme unter allen Völkern gemacht? Wer hat uns bis jetzt so leiden lassen? Es ist Gott, der uns so gemacht hat, und es wird auch Gott sein, der uns aufrichtet. [...]“

TC 16:08 – Das Vermächtnis von Anne Frank

SPRECHERIN:
Bis zuletzt empfindet Anne das Untertauchen als Abenteuer und als Herausforderung, die Metamorphose zum Guten an sich selbst zu vollziehen. Eine schwere Aufgabe für ein so junges Mädchen. Aber Anne gewinnt ihre inneren Kämpfe.

ZITATORIN Anne: 
"Ich weiß, was ich will, habe ein Ziel, habe eine eigene Meinung, habe einen Glauben und eine Liebe. [..] Ich weiß, dass ich eine Frau bin, eine Frau mit innerer Stärke und viel Mut!"

SPRECHER: 
Doch in den Lagern Westerbork, Auschwitz und Bergen-Belsen hat sie keine Chance mehr. Wir wissen nicht, ob ihr der Himmel über Auschwitz noch Trost spenden konnte. Ob sie, die rauchenden Schlote der Krematorien vor Augen, Gott noch gesucht hat. Es gibt nur bruchstückhafte Erinnerungen Überlebender, die Anne flüchtig begegnet sind: Bruchstücke, die sich zusammenfügen zu einem Bild, das schwärzer ist als der schwärzeste Traum.

SPRECHERIN: 
Annes letzter Blick zum Vater, der auf der Rampe von Auschwitz von seiner Familie getrennt wird. Anne, die sieht, wie Kinder vor der Gaskammer auf ihr Ende warten. Anne und Margot im Oktober 1943 auf dem Transport nach Bergen-Belsen: drei Tage im überfüllten Viehwaggon, fast ohne Wasser und Essen, ohne ihre Eltern. Edith Frank stirbt einige Wochen nach der Trennung von ihren Töchtern in Auschwitz.

SPRECHER: 
Gaskammern gibt es in Bergen Belsen nicht. Aber die Zustände in dem überfüllten Lager sind mörderisch genug. Hunger, Kälte und Regen begünstigen den Ausbruch von Seuchen unter den geschwächten Gefangenen. Auch Margot und Anne erkranken an Typhus. Margot stirbt zuerst, kurz danach Anne.

SPRECHERIN: 
Es ist April 1945, kurz vor Kriegsende. Als man die Leichen der Mädchen in einem Massengrab verscharrt, ist Otto Frank in Auschwitz bereits befreit worden. Anne wusste nicht, dass ihr Vater noch lebte und nach ihr suchte. Und sie ahnte auch nicht, dass ihr Tagebuch sicher in Mieps Schublade lag und ihr den schriftstellerischen Ruhm sichern würde, den sie sich immer gewünscht hat.

SPRECHER:
Nach dem Krieg sorgte Otto Frank für die Veröffentlichung. Anne Franks Stimme eroberte die Welt. Ihr Buch hat sich bis heute ungefähr sechzehn Millionen Mal verkauft. Fast eine halbe Million Menschen besuchen jährlich das Hinterhaus in Amsterdam, das heute von einer Stiftung unterhalten wird.

SPRECHER: 
Miep Gies ist heute eine alte Frau. Sie beschließt ihre Erinnerungen an Anne mit folgenden Worten:

ZITATORIN Miep: 
"Doch immer, an jedem Tag meines Lebens, habe ich mir gewünscht, dass es anders gekommen wäre. Dass Anne und die anderen wie durch ein Wunder gerettet worden wären, auch wenn dann Annes Tagebuch der Welt verloren gegangen wäre. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht um sie trauere."

TC 19:10 - Outro


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 January 27, 2024  20m