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Das lyrische Ich - Gedichte zwischen Fiktion und Wahrheit


Wer spricht in oder durch ein Gedicht? Die Vermutung liegt nahe, dass sich Autor und Autorin hier persönlich ausdrücken. Doch die Stimme eines Gedichts, auch lyrisches Ich genannt, kann viele Rollen oder Haltungen einnehmen. Steht das Werk also immer für sich ? egal, wie krass sich die dichtende Person danebenbenimmt? Autorin: Justina Schreiber

Credits
Autorin dieser Folge:Justina Schreiber
Regie: Ron Schickler
Es sprachen: Katja Amberger, Susanne Schroeder
Technik: Susanne Herzig
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Prof. Dr. Matías Martínez, Literaturwissenschaftler und Leiter des Institutes für Erzählforschung an der Uni Wuppertal

Literaturtipps:

Roland Barthes, „Der Tod des Autors“: Kleiner Text, der den strukturalistischen Ansatz des berühmten französischen Philosophen verdeutlicht.

Matías Martínez, „Das lyrische Ich. Verteidigung eines umstrittenen Begriffs.“ In: Heinrich Detering (Hrsg.): „Autorschaft: Positionen und Revisionen. Stuttgart 2002, S. 376–389.


Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK Flicker of Flame 00:43min

ZITATORIN:

Ich ging im Walde so für mich hin.

SPRECHERIN:

Goethes Gedicht „Gefunden“ scheint ein individuelles Erlebnis zu veranschaulichen. Sieht man den lustwandelnden Dichter nicht förmlich vor sich, wie er am Wegrand dieses Blümchen entdeckt…? 

ZITATORIN:

Wie Äuglein schön, 

SPRECHERIN:

Und wie er es dann doch nicht pflückt…

ZITATORIN:

Ich wollt es brechen,

SPRECHERIN:

Aber das schöne Blümchen legt Protest ein. Es will nicht dahinwelken müssen. Na gut, dann wird es eben verpflanzt:

ZITATOR:

Ich grub’s mit allen

Den Würzlein aus.

Zum Garten trug ich’s

Am hübschen Haus.

SPRECHERIN:

Goethe schickte dieses Gedicht seiner Ehefrau Christiane Vulpius im August 1813 zum 25-jährigen Jubiläum ihrer Beziehung. Es bietet sich also förmlich an, das Blümchen mit seiner Lebensgefährtin gleichzusetzen. Schließlich war ihr der Dichter zwar nicht im Wald, aber doch im Weimarer Park an der Ilm erstmals begegnet. War er damals etwa aufdringlich geworden? Hatte sie sich zur Wehr setzen müssen? Man könnte durchaus annehmen, dass das Ich, das aus dem Gedicht spricht, mit dem Autor eng verwandt ist, sagt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez. 

O-TON 01: (Martinez)

„Die Gattung der Lyrik legt es besonders nahe, den Autor zu identifizieren mit dem Sprecher.“ 

MUSIK Flicker of Flame 00:40min

SPRECHERIN:

Hier spricht ein realer Mensch, eine private Person: Besonders Erlebnislyrik wie Goethes Gedicht oder auch Liebesgedichte mit Widmung laden zu dieser Deutung ein. „An Luise. 1816“ heißt ein Poem von Joseph von Eichendorff, dessen Frau den Vornamen Luise trug. Sie hatte 1816 das erste gemeinsame Kind zur Welt gebracht. Kein Wunder also, nicht wahr? dass der Gatte das häusliche Glück bedichtete:

ZITATORIN:

Sitz‘st du vor mir, das Kindlein auf dem Arme.

O-TON 02: (Martínez)

„Es gibt ein Bedürfnis, Gedichte mehr noch als Romane und Theaterstücke, aber auch die, vor allem Gedichte tatsächlich zu beziehen auf autobiografische Erfahrungen des Autors.“ 

SPRECHERIN:

Der Bezug zum Autor oder zur Verfasserin eines Gedichtes liegt besonders nahe, wenn in Gedichten – wie hier bei Goethe oder Eichendorff - „Ich“ gesagt, also die erste Person Singular des Personalpronomens verwendet wird. 

O-TON 03: (Martinez)

„Lyrik ist traditionell die Gattung, in der ein Sprecher seine Meinung verkündet, seine Subjektivität zum Ausdruck bringt. Deshalb gab es auch immer die Tendenz, gerade bei Gedichten, diesen einzelnen Sprecher zu identifizieren mit dem realen Autor des Gedichtes.“

MUSIK Piano pecularity full 00:55min

SPRECHERIN:

Was aber, wenn das Ich eines Gedichtes nicht mit Blumen oder Frauen, sondern mit einem Mondkalb zu tun hat? Bei dem 1905 erstmals veröffentlichten Gedicht „Das ästhetische Wiesel“ des Dichters Christian Morgenstern handelt es sich offenkundig um ein reines Hirngespinst. Im Zentrum steht die Frage, warum ein Wiesel auf einem Kiesel inmitten Bachgeriesel saß. 

ZITATORIN:

Das Mondkalb verriet es mir im Stillen.

Es tat es um des Reimes willen.

SPRECHERIN:

Und das Mondkalb hatte sogar Recht. Gedichte folgen nämlich anderen Gesetzen als logischen oder biologischen. Sie können einem Reimschema folgen. Kiesel, Wiesel und so weiter. Lyrik hebt sich von der schlampigen automatisierten Alltagsrede ab, erklärt Matías Martínez:

O-TON 04: (Martínez)

„Traditionell ist die Lyrik ja immer definiert gewesen durch ihren Abstand zur Alltagsrede, zur Prosa, durch Reime, durch Metrik, durch rhetorische Figuren.“ 

SPRECHERIN:

„Das ästhetische Wiesel“ ist also ein Kunstwerk. Und was ist mit dem Ich, das vom Mondkalb belehrt wird? Der Dichter Christian Morgenstern hat sicher nicht persönlich diesem merkwürdigen Tier gelauscht! Das Ich des Gedichts, das noch dazu keine Ahnung vom Reimen hat, gehört ganz klar in den Bereich der Fiktion. Aber auch Texte, die von persönlichen Stimmungen und Erlebnissen geprägt zu sein scheinen, sind ja gemacht und gedrechselt worden. Allein schon, damit Versmaß und Metrum stimmen, muss sich Dichtung die Wahrheit ein wenig zurechtbiegen. Daneben gibt es noch: 

MUSIK Off the ledge 00:35min

ZITATORIN:

Weitere Gründe dafür, dass die Dichter lügen

SPRECHERIN:

So heißt ein Gedicht des 2022 verstorbenen Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger. 

ZITATOR:

(…) der,

von dem da die Rede ist,

schweigt.

SPRECHERIN:

Wer ist dann der oder die Andere, wenn nicht Autor oder Verfasserin im Gedicht ihre Gefühle und Weltsicht kundtun? Die deutsche Literaturwissenschaft behilft sich hier mit der Konstruktion eines lyrischen Ichs. 

O-TON 05: (Martínez)

„Dieser Begriff wurde zum ersten Mal 1910 von einer Literaturwissenschaftlerin namens Margarete Sussmann geprägt, die diesen Begriff benutzt hat, um das empirische Ich des Gedicht-Autors zu unterscheiden zwischen dem empirischen Autor-Ich und dem Text-Ich. Dieser Begriff ist dann sehr erfolgreich gewesen und wird bis heute gerne benutzt, allerdings in einer sehr uneinheitlichen Weise.“

SPRECHERIN:

Andere Sprachen kennen den Begriff des lyrischen Ichs nicht. Manche sprechen von einem „lyrischen Subjekt“. Die Philosophin Margarete Susman wollte mit dem Terminus den Blick auf die Text-Eigenschaften eines Gedichts lenken. Doch die Debatten, die sich im 20. Jahrhundert um das lyrische Ich rankten, zeigen, wie dehnbar der Begriff im Grunde ist. Handelt es sich tatsächlich um eine poetologische Kategorie oder nicht doch eher um eine fast religiöse Idee von einem überpersönlichen Ich, das durch ein Gedicht spricht? Wer oder was äußert sich dann hier? Schwer zu sagen. 

O-TON 06: (Martínez)

„Es gibt also keine Übereinstimmung darüber, was das lyrische Ich wirklich bedeuten soll.“

MUSIK Scenic Village 00:52min

SPRECHERIN:

Hinzu kommt: Jede Epoche hat ihren eigenen Zeitgeist und ihre eigenen Ausdrucksformen. Nehmen wir nur einmal das berühmte mittelalterliche Spruchgedicht:

ZITATORIN:

Ich saz ûf eime steine

SPRECHERIN:

Wer sitzt da wohl mit übereinander geschlagenen Beinen, den Kopf aufgestützt auf einem Stein und denkt über die politische Lage im Reich nach? Es kann eigentlich niemand anderes sein als der Verfasser des berühmten Gedichtes selbst, der Minnesänger Wolfram von Eschenbach. 

ZITATORIN:

und dahte bein mit beine

da rûf satzt ich den ellenbogen

SPRECHERIN:

Wer sonst sollte hier seine Gedanken kundtun? Die Frage nach dem lyrischen Ich bringt keinen Erkenntnisgewinn. Ähnliches gilt auch für barocke Leichen- oder Hochzeitsgedichte, die erwartbare Äußerungen machen, also, den Konventionen gemäß, gratulieren oder kondolieren. Hier äußern sich repräsentative Stimmen, keine lyrisch bewegten Subjekte. Trotzdem etablieren Gedichte immer eine besondere Sprecher-Rolle. Manchmal macht ja schon der Titel klar, dass jetzt zum Beispiel ein Zauberlehrling das Wort erhebt. 

MUSIK Der Zauberlehrling 00:24min

SPRECHERIN:

In anderen Texten dagegen bleibt die Herkunft der Rede offen. Oder um aus Schillers Ballade „Der Gang nach dem Eisenhammer“ zu zitieren: 

ZITATORIN:

Herr, dunkel war der Rede Sinn!

SPRECHERIN:

Stammelt hier der fromme Fridolin.

O-TON 07: (Martínez)

„Das Verständnis von Lyrik hat immer ein bisschen geschwankt zwischen der Identifikation des Sprechers in diesem Gedicht oder der Sprecherin mit dem realen Autor oder der realen Autorin einerseits. Und andererseits gab es aber auch immer ein Bewusstsein darüber, dass, sobald jemand ein Gedicht schreibt, derjenige, der in diesem Gedicht spricht, herausgelöst ist aus einer normalen Kommunikationssituation.“ 

MUSIK First Steps Outsides 00:51min

SPRECHERIN:

Im antiken Griechenland trug man lyrische Texte noch zur Lyra oder Kithara vor. Der äußere Rahmen war festlich. Mit dem Buchdruck verbreiteten sich Gedichte dann auch in schriftlicher Form. Man kann die Textgattung nun am Drucksatz, an den kurzen Zeilen oder den Strophen erkennen. Ein privater Brief sieht anders aus. Doch:

O-TON 08: (Martínez)

„Wenn ich eine Liebes-Botschaft eben in diesen traditionellen lyrischen Formen vorbringe…“

SPRECHERIN:

Wenn in einer Mail vielleicht eingerückt und abgesetzt ein Text steht, in dem sich Herz auf Schmerz, Blick auf Glück und Gefühl auf Gewühl reimt.

O-TON 09: (Martínez)

„Dann bekommt das auch in einer privaten Kommunikation einen anderen Charakter, einen verallgemeinernden Charakter.“

SPRECHERIN:

Und man kann oder muss sich fragen: was will der lyrische Text mir eigentlich sagen? 

MUSIK Struggle With Reason 00:58min

ZITATORIN:

Einsamer Tag am Fenster (Amsterdam 1939) 

SPRECHERIN:

So nennt die aus Nazi-Deutschland emigrierte Schriftstellerin Irmgard Keun ihr melancholisches Poem.

ZITATORIN:

Und ich träum gen Himmel.

SPRECHERIN:

Sehnsucht und Heimweh, Liebe und Tod, das Ich und die Welt, Glück und Leid, Werden und Vergehen. Gedichte mögen autobiographische Anlässe haben, sie mögen private Themen verarbeiten. Aber sie bilden seit Goethezeit und Romantik auch den Versuch ab, anders nicht Sagbares, vielleicht sogar Unsagbares in Worte zu kleiden. Sprachbilder und metaphorische Übertragungen können Empfindungen, Beobachtungen und Gedanken zu universell gültigen Aussagen oder Parabeln ver“dichten“. Ein Meister der Verallgemeinerung, der den hohen Anspruch der Poesie zugleich karikierte, war Wilhelm Busch.

MUSIK Barmy Town 00:44min

ZITATORIN:

Das Zahnweh, subjektiv genommen,

ist ohne Zweifel unwillkommen:

doch hat’s die gute Eigenschaft,

dass sich dabei die Lebenskraft,

die man nach außen oft verschwendet,

auf einen Punkt nach innen wendet.

SPRECHERIN:

Auch hier spricht, wenn man so will, ein lyrisches Ich, obwohl Wilhelm Busch nicht „ich“, sondern unpersönlich „man“ sagt. Sein lyrisches Ich distanziert sich vom leidenden Subjekt und betrachtet es spöttisch von außen: Ja, so kommst du der Welt abhanden, weil du Zahnweh hast. Und nicht wie andere größere(?) Dichter Liebeskummer.

O-TON 10: (Martinez)

„Es gibt viele Gedichte, in denen schon mal grammatisch gar nicht die erste Person Singular benutzt wird und die auch überhaupt eine Ausdrucksform benutzen, die eher neutral ist. Man wird aber schon sagen können, dass auch in Gedichten, in denen wir kein explizites Ich vorfinden, doch auch so eine Subjektivität sich ausdrückt.“

MUSIK A stranger 01:12min

SPRECHERIN:

Subjektive Darstellungen wecken Emotionen. Sie laden zur Identifikation ein. Gedichte können Saiten zum Klingen bringen, die im Alltag unterdrückt werden. Sie artikulieren diffuse Gefühle und vermitteln Zusammenhänge, die nicht von Daten, Fakten oder Algorithmen bestimmt werden. Rhythmus, Wortwahl und Sprachmelodie verführen zum Nachempfinden und Mitsprechen. Vielleicht geht ein Gedicht sogar ins kulturelle Gedächtnis einer Sprachgemeinschaft ein und überdauert die Zeiten - wie Eduard Mörikes Frühlingspoem „Er ist’s“, das bis heute gern vertont und zitiert wird.

ZITATORIN:

Frühling, ja, du bists!

Dich hab ich vernommen!

SPRECHERIN:

Und siehe da! Wer ein Gedicht vorträgt oder zitiert, verschmilzt mit der Stimme, die aus dem Gedicht spricht. Insofern kann man sagen, so der Literaturwissenschaftler Matías Martínez: 

O-TON 11: (Martinez)

„Dass das lyrische Ich derjenige ist, der das Gedicht spricht. Und das kann auch der Leser sein, der es eben nachspricht.“

SPRECHERIN:

So erweitert sich das lyrische Ich zu einem lyrischen Wir, zu einem Chor von Sprecherinnen und Sprechern. Wer hat nicht schon beim Autofahren oder Tanzen Songtexte mitgesungen oder ein fremdes Liebesgedicht für eigene Zwecke eingesetzt? Stellvertretend für alle hat da jemand etwas in Worte gefasst und nimmt uns mit in eine andere Welt oder Stimmung:  

O-TON 12: (Martinez)

„Das kann natürlich auch sehr unangenehm sein, wenn man sich auf einmal hineintransportiert findet in Situationen und in Haltungen, in Wertungen, die man nicht teilt. Aber gerade darin besteht natürlich auch eine Chance, von Literatur, Erfahrungen auszuprobieren spielerisch, die man im realen Leben nicht macht und vielleicht auch gar nicht machen möchte.“

MUSIK (Ich steh' auf) Berlin 00:45

ZITATORIN:

Ich fühl mich gut

Ich steh auf Berlin

SPRECHERIN:

Die Neue-deutsche Welle-Band „Ideal“ brachte 1980 ein Loblied auf Berlin heraus. Der Songtext, in dem sich „Morgenrot“ auf „Hundekot“ reimt, schaffte es 2023 in die erweiterte Neuausgabe des „Ewigen Brunnen“, einer Sammlung deutscher Gedichte aus acht Jahrhunderten. Ein Werk der Sängerin Annette Humpe steht jetzt also zwischen zwei Buchdeckeln vereint mit Gedichten von Friedrich Hölderlin, Theodor Storm, Bert Brecht und Ingeborg Bachmann. 

ZITATORIN:

Ich ess die Pizza aus der Hand

SPRECHERIN:

Annette Humpes Verszeile ist keine banale Aussage mehr. Sie trägt einen exemplarischen Charakter wie auch Goethes Formulierung: 

ZITATORIN:

Ich ging im Walde so für mich hin.

SPRECHERIN:

Die Bedeutung des Kontextes darf auf keinen Fall unterschätzt werden, wiederholt der Literaturwissenschaftler Matías Martínez:

O-TON 13: (Martinez)

„Dadurch wird auch der Sprecher dieses Gedichtes verändert, wenn ein Text als Gedicht zirkuliert und nicht einfach nur eine Äußerung ist in normaler alltäglicher Kommunikation. Denn auch der Sprecher wird dadurch selber zum Gegenstand der Betrachtung.“ 

SPRECHERIN:

Während der eine im Wald ein Blümchen ausgräbt, ist die andere als Schwarzfahrerin mit der Berliner U-Bahn unterwegs. Aber es sind eben nur ein paar Indizien, aus denen Zuhörerinnen und Leser Schlüsse auf das Subjekt des lyrischen Textes ziehen. Die imaginierte Sprecher-Instanz, der Sprecher, der aus dem Gedicht spricht, wandelt sich je nach Perspektive und Deutung.

O-TON 14: (Martínez)

„Schon dadurch kann er nicht mehr automatisch identifiziert werden mit dem realen Autor als einem Alltagssubjekt.“ 

SPRECHERIN:

Jeder Text führt ein Eigenleben, sobald er veröffentlicht ist. Der französische Philosoph Roland Barthes war der Meinung, dass moderne Gesellschaften der Person von Autoren und Autorinnen grundsätzlich zu viel Bedeutung beimessen. Stichwort: Starkult. Roland Barthes verkündete 1967 provokativ den „Tod des Autors“. 

O-TON 15: (Martinez)

„Roland Barthes hat stattdessen die Geburt des Lesers propagiert, dass ein Text sich vollständig ablöst aus der Entstehungssituation und dass er sozusagen frei zirkuliert und die Bedeutung annimmt, die der Leser ihm gibt.“

SPRECHERIN:

Was für das lyrische Ich bedeutet: es wäre nicht mehr bei den Autoren zu verankern, sondern bei den Lesern und Leserinnen, die mit einem Gedicht machen können, was sie wollen - sofern keine Urheberrechte verletzt werden. Verszeilen lassen sich abwandeln, verfälschen, weiterspinnen oder wie eine Blume eigenmächtig verpflanzen. Kunst hilft weiter, wenn die eigenen Worte fehlen. Doch was hätte Rainer Maria Rilke wohl zum inflationären Gebrauch seiner Verse in heutigen Todesanzeigen gesagt?

ZITATORIN:

Der Tod ist groß.

Wir sind die Seinen

lachenden Munds.

Wenn wir uns mitten im Leben meinen,

wagt er zu weinen

mitten in uns.

MUSIK Snow Again 01:23min

SPRECHERIN:

Manche Gedichte wirken einfach nur genial. Wie kommen Dichter und Dichterinnen eigentlich auf ihre Ideen? Woher bekommen sie ihre Eingebungen? Guten Gedichten merkt man die Arbeit am Text nicht an. Die Verse hüpfen leichtfüßig daher. Reime, Metrum, Rhythmus, alles fügt sich scheinbar selbstverständlich. Während der Autor vielleicht schwer um jedes Wort ringen musste, wirkt das fertige Werk dann wie eine Offenbarung. Das lyrische Ich kann sich meilenweit von der realen Person am Schreibtisch entfernen. Was im Umkehrschluss bedeutet: Dichter und Dichterinnen müssen sich für ihr lyrisches Ich nicht unbedingt verantwortlich fühlen. Wenn es sich zum Beispiel danebenbenimmt oder Unsinn verzapft, ließe sich argumentieren: Sie, die Verfasser, seien hier ja nicht persönlich tätig oder gar tätlich geworden. „Es“, eine Stimmung, eine Stimme, ein Gedanke, ein Funke, was auch immer, habe sie ergriffen und ihnen die Feder geführt. Kunst ist eben Kunst. Da ist einerseits etwas dran, sagt Matías Martínez.

O-TON 16: (Martínez)

„Die Freiheit der Kunst ist ja ein Grundrecht, das im Grundgesetz garantiert ist. Und wir haben ja auch eine Vorstellung davon, dass Kunst ein autonomer Bereich ist, in dem auch Haltungen und Meinungen präsentiert werden können, die Normen und Tabus durchbrechen. Vielleicht ist es ja sogar auch eine wichtige soziale Funktion von Kunst, eben auch bestimmte Grenzen zu überschreiten und zu provozieren. Andererseits muss sich die Kunst natürlich auch gefallen lassen, moralisch beurteilt zu werden. Sie agiert ja nicht in einem luftleeren Raum, sondern ist ja Teil einer gesellschaftlichen Diskussion.“

MUSIK Entitiy 00:51min 

SPRECHERIN:

Etwa wenn es um sexuelle Gewalt geht. Als 2023 ein Dutzend Frauen Vorwürfe gegen den Rammstein-Sänger Till Lindemann erhob, geriet auch sein Lyrikband „In stillen Nächten“ in Verruf, den er zehn Jahre vorher veröffentlicht hatte. Der Verlag beendete die Zusammenarbeit mit dem Autor, nachdem er sich in einem Musikvideo, das Buch schwenkend, in extremen Sexszenen inszeniert hatte. Die öffentliche Empörung veränderte den Blick auf das lyrische Ich seiner Texte. Moralische Urteile können der künstlerischen Freiheit Grenzen setzen. 

Wenn Till Lindemann in dem Gedicht „Wenn du schläfst“ die Vergewaltigung einer mit Rohypnol betäubten Frau beschreibt: 

O-TON 17: (Martínez)

„Und zwar positiv markiert, dann kann man schon daran Anstoß nehmen. Also, da gibt es einen Ermessensspielraum, ob man diesen Text eher als ein Gedicht liest, das durch die Freiheit der Kunst gedeckt ist, oder als Äußerung eines empirischen Autors, der das zwar in Gedichtform tut, der aber doch da bestimmte Vorlieben erkennen lässt, die verwerflich sind. Wenn man da eben sagt, da wird ein sexualisierter Gewaltakt beschrieben, dann ist das ja schon ein sehr schwerwiegender Vorwurf.“

MUSIK Heidenröslein 00:50min

SPRECHERIN:

Ein gutes Gedicht zeichnet sich auch durch Mehrdeutigkeit aus. Stilistische Mittel wie Ironie, Parodie oder Rollensprache verhindern den Kurzschluss zwischen Autor und lyrischem Ich. Auch Goethe thematisiert ja in seinem Gedicht „Heidenröslein“ eine Vergewaltigung. Anders als Till Lindemann schildert er das Geschehen jedoch nicht nur aus der Sicht des vermutlich männlichen Sprechers. Er lässt das Opfer selbst, das Heidenröslein zu Wort kommen.

ZITATORIN:

Röslein wehrte sich und stach,

Half ihm doch kein Weh und Ach,

Mußt’ es eben leiden.

Röslein, Röslein, Röslein roth,

Röslein auf der Heiden.

O-TON 18: (Martinez)

„Bei Goethe wird zwar ein Unrecht beschrieben, aber es wird ja auch sehr stark der Leidcharakter dieses Unrechts hervorgehoben. Und insofern kann man sagen, dass in der Beschreibung dieses Unrechts oder dieses Übergriffs, dieser Gewalttat gleichzeitig auch so ein mahnender Charakter enthalten ist.“

MUSIK CHAMBER 01:27min

SPRECHERIN:

Die literaturwissenschaftliche Kategorie des lyrischen Ichs ist schillernd, verführerisch und trügerisch wie die Kunst selbst. Die Bandbreite poetischer Äußerungen lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Ob dichterische Inspirationsquellen vielleicht doch göttlich-überirdischer Natur sind oder eher mit Sex, Alkohol, Kaffee, Musik und Disziplin zusammenhängen: es gibt auf jeden Fall viele Faktoren, innere wie äußere, die ein lyrisches Werk beeinflussen, zum Beispiel auch Lärm, Geldnot, Selbstzweifel oder früher Ruhm.

O-TON 19: (Martinez) 

„So ein kreativer Prozess hat natürlich immer auch immer mit dem individuellen Autor zu tun. Nicht jeder Autor bringt beliebige Texte hervor, sondern es gibt natürlich ein enges Verhältnis zwischen der Individualität eines Autors, also seiner Person und der Kunst oder den Texten, die er hervorbringt, das ist ein schwieriges, und ich würde sagen, offenes Gebiet.“

SPRECHERIN:

Umso besser passen hier jetzt also die Worte, mit denen der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki Debatten abzuschließen pflegte, in Abwandlung des Bert-Brecht-Zitats: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen“…

ZITATORIN:

Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen.


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 January 16, 2024  23m