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Chet Baker und der Cool Jazz - Von der Westcoast in die Welt


Zu Beginn der 50-er Jahre hat der Trompeter Chet Baker in Kalifornien den Cool Jazz vorangetrieben, eine Spielweise, die Techniken der klassischen Musik nutzt. Trotz schwerer Karriereeinbrüche - Baker war heroinabhängig - blieb er stets der Kunst der Ballade und den leisen Tönen treu. Autor: Markus Mayer.

Credits
Autor dieser Folge: Markus Mayer
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Kathrin von Steinburg, Thomas Loibl
Technik: Tim Höfer
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Hans-Jürgen Schaal, Münchner Musikjournalist

Literaturtipps:

Als hätte ich Flügel. Verlorene Erinnerungen. Von Chet Baker. Mit einem Vorwort von Carol Baker. Aus dem Amerikanischen von Bernd Oehler. Hannibal. Wien. 1998. 

Chet Baker Blue Notes – Engel mit gebrochenen Flügeln. Eine Hommage. Von Lothar Lewien. Hannibal-Verlag Wien. 1991.

All That Jazz – Die Geschichte einer Musik. Von Michael Jacobs. Reclam Leipzig. 2. Auflage 2003.  Darin: Birth Of The Cool – Cool Jazz. S. 218- -247. 

Jazz-Klassiker, 2 Bde. Hg. V. Peter N Wilson. Reclam 2005. Darin: Band 1. Chet Baker. Von Hans-Jürgen Schaal. S. 482 – 488.  

Chet Baker – Jeroen de Valk. Oreos Jazz Collection. Schaftlach 1991. Aus dem Holländischen übertragen von Peter Niklas Wilson. 

Cool Jazz – Grundzüge seiner Entstehung und Entwicklung. Von Herbert Hellhund. Mainz 1985. Schott-Verlag. Veröffentlichung des Musikwissenschaftlichen Instituts der Justus-Liebig-Universität Gießen. 

That‘s Jazz – Der Sound des 20. Jahrhunderts. Eine Musik-, personen-, Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte des Jazz von den Anfängen bis zur Gegenwart. HG. V. Klaus Wolbert. Zweitausendeins. Frankfurt a. Main 1997. Ausstellungskatalog. 

Jazzgeschichten aus Europa – Von Ekkehard Jost. Wolke Verlag Hofheim. 2012. 

Das Lexikon der prominenten Selbstmörder. Von Gerald Grote, Michael Völkel und Karsten Weyershausen unter Mitarbeit von Klaus Rathje und Holger Reichard. Schwarzkopf Verlag Berlin 2000. Chet Baker S. 24 – 25.   

Filmographie:

Chet Baker: Let‘s Get Lost. Dokumentarfilm von Bruce Weber. 1 Stunde 49 Minuten. Auf DVD 2009.

Born To Be Blue. Spielfilm/ Bio-Picture. 1 Stunde & 33 Minuten. Auf DVD Oktober 2017.

Und noch eine besondere Podcast-Empfehlung der Redaktion:

COSMO Iran im Herzen | ARD Audiothek
Persönliche Geschichten zur #IranRevolution aus Deutschland. Weil die Themen Feminismus, Empowerment und Kampf um Demokratie dort, uns auch hier bewegen. 
ZUM PODCAST

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

MUSIK 1 (Z8047115404 Chet Baker: Summer Sketch 1‘31)

Sprecherin

Der Reisende, der an einem Donnerstag im Mai 1988 mit dem Zug in Amsterdam eintrifft, kennt die Stadt. Er hat hier schon viele Konzerte gegeben, er weiß, wie man hier an Drogen kommt, an harten Stoff wie Heroin und Kokain. Weil die Hotels, die er sonst nutzt, ausgebucht sind, versucht er es im Prins Hendrik, einer nicht ganz so eleganten Adresse. Der Mann hat Glück, im zweiten Stock ist noch ein Zimmer frei, er geht nach oben und macht es sich in Raum C-20 bequem. Er injiziert sich den Stoff, den er am Nachmittag gekauft hat.   

Sprecher

Eigentlich hätte der Musiker in einem anderen Hotel absteigen sollen, so war es geplant. Ein Mitarbeiter seiner Konzertagentur sollte ihn abholen und zu einem Auftritt fahren, aber Chet Baker ist nicht aufgetaucht. Kein Mensch weiß, wo er steckt, was nicht ungewöhnlich ist für den Künstler. Irgendwann wird er sich schon melden, denkt der Leiter der Konzertagentur, nur diesmal kommt es anders.  

Sprecherin

Nachts, gegen drei Uhr im Prins Hendrik. Draußen ist es ungewöhnlich warm, Chet Baker will wohl noch ein wenig spielen, wie er es früher getan hat, am offenen Fenster, zwischen Innenraum und Außenwelt. Das Schiebefenster lässt sich allerdings schwer öffnen. Baker, berauscht vom Heroin, muss viel Kraft aufwenden, um das Fenster hoch zu drücken. Als es gelingt, verliert er das Gleichgewicht und fällt hinaus - mitsamt seiner Trompete. Er stürzt und schlägt mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf. 

Sprecher

Passanten, die ihn liegen sehen, halten ihn für einen Betrunkenen, bis jemand die Blutlache am Schädel bemerkt. Die Nachtglocke wird gedrückt, der Portier verständigt. Herbeigerufene Polizisten stufen die schmächtige Gestalt als die eines ungefähr 30-jährigen ein. Wahrscheinlich haben sie den Toten nicht richtig gesehen, es ist schließlich noch stockdunkel an diesem Freitag, den 13. Mai 1988.   

MUSIK 2 (Z9480073008 Chet Baker: Let’s Get Lost 1‘01)

Sprecherin

Wer war Chet Baker, der mit 58 Jahren in Amsterdam bei einem Unfall starb? Ein schöpferischer Mensch, der dunkle Mächte herausforderte, weil er selbstbestimmt leben wollte? 

Sprecher

Ein talentierter Künstler, der als James Dean des Jazz bezeichnet wird? Oder ein gefallener Engel, der uns mit unglaublich schöner Musik beschenkt hat? Nicht nur sein Tod erinnert an eine antike Sagengestalt.

ZSP Hans-Jürgen Schaal – Charakterisierung

Ich glaube, da war ein großer, positiver Kern in ihm, eine große Lebensbejahung in ihm, er ist ja mit 50 Jahren noch nach Europa gegangen und hat da praktisch ein neues Leben angefangen. Ich glaube nicht, dass er sterben wollte, als er dann aus dem aus dem Hotelzimmerfenster gefallen ist. 

Sprecherin

findet Hans-Jürgen Schaal, Produzent und Jazzpublizist aus München. 

MUSIK 3 (Z9340444011 Jack Guthrie: Oklahoma Hills 0‘41)

Sprecher

Chesney, genannt Chet, Henry Baker Jr. wird am 23. Dezember 1929 in Yale, Oklahoma geboren. In der postum erschienenen Autobiographie „Als hätte ich Flügel“ erfährt man wenig über seine Kindheit, die anfangs in einem ländlichen Idyll spielt. Chesney wird in eine Bauern-Familie geboren, auf einer Farm mit vielen Tieren. Der Vater habe seine Mutter kennen gelernt, erinnert sich Baker, weil er Gitarre spielte bei Tanzvergnügen am Samstagabend. Die Weltwirtschaftskrise am Ende der 20-er Jahre macht jedoch nicht Halt vor dem flachen Land, die Familie muss die Farm verlassen und zieht nach Oklahoma City, in die Stadt. Chesney wird zu Onkel Jim und Tante Agnes gegeben, während seine Eltern als Aufseher und in einer Eiscremefabrik schuften. Im Sommer darf er zu Opa auf die Farm. In der Schule ist der Junge gut, bis die Eltern 1940 umziehen - an die Westküste. 

ATMO Meeresrauschen, Brandungswellen 

Sprecherin

In der Schule von Glendale, Kalifornien läuft es anfangs noch gut für Chet, als sich seine Eltern zu einem weiteren Umzug entscheiden, verliert er jedoch das Interesse am Unterricht. Die neue Adresse liegt am Redondo Beach, einem der attraktiven Strände von Los Angeles. Seine Tage verbringt der Junge jetzt oft am Meer und zwar an dem Strand, der später der kalifornischen TV-Serie Baywatch als Kulisse dient.  

Sprecher

Der Teenager schwänzt die Schule, bleibt aber einer Leidenschaft treu. Sein Vater hat ihm, als er 13 war, eine Posaune geschenkt, aber er war zu klein, um das Instrument richtig bedienen zu können, deshalb schwenkte er auf Trompete um. Die passte besser. Chet hat sich das Spielen selbst beigebracht, Notenlesen fällt ihm schwer, Melodien spielt er nach Gehör. Journalist Hans-Jürgen Schaal, der sich intensiv mit Bakers Musik beschäftigt hat, erklärt:   

ZSP Hans-Jürgen Schaal - Baker als Jazzkünstler I + Autodidakt

Chet Baker war nun einer, der nicht komponiert hat, der keine Noten geschrieben hat. Aber man kann sagen, er hat in seinem Improvisieren komponiert, hat immer sehr fantasievoll und sehr melodisch und sehr stimmig improvisiert. 

MUSIK 4 (C1081240007 Stan Kenton & His Orchestra: Artistry In Rhythm 0‘52)

Sprecherin

Mit 16 geht Baker zum Militär. Er wird dem Musikkorps zugeteilt und 1946 nach West-Berlin versetzt. In der fast vollständig zerstörten Metropole hat sich ein florierender Schwarzmarkt etabliert, Luxusgüter wie Zigaretten, Kaffee, Seife und Schokolade dienen als Währungen. In den Unteroffiziersclubs, in denen der Trompeter spielt, läuft, wie er sagt, moderne Musik: Bebop von Dizzy Gillespie, progressiver Swing von Stan Kenton. Gierig nimmt der junge Mann die neuen Klänge in sich auf.   

Sprecher

Der Kalifornier ist kein Hochgeschwindigkeitsvirtuose, kein Stratosphärentrompeter. Was Bakers Spiel von Anfang an kennzeichnet, ist, dass es leise, langsam und sanft klingt. Für Hans-Jürgen Schaal hat dieser Stil, der Chet-Baker-Sound, mit einem Verlust zu tun. 

ZSP Hans-Jürgen Schaal - Chet Baker Sound auf der Trompete

 … Er hat als Jugendlicher einen oberen Schneidezahn verloren, der ist eben ausgeschlagen worden. Jetzt braucht man natürlich die Schneidezähne, um einen starken Ansatz zu haben auf der Trompete. Den hatte er nicht. Seine ersten Aufnahmen wurden oft bemängelt, weil eben wegen des fehlenden starken Ansatzes, er konnte keine virtuosen Höhenflüge auf der Trompete machen, er musste sanft, leise und tief spielen auf der Trompete. Und auch später, als er dann virtuoser spielen konnte, lauter spielen konnte, hat er das einfach beibehalten als sein Markenzeichen. Das war seine Art, die Trompete zu spielen und sie entsprach wohl auch mehr seinem Temperament.

MUSIK 5 (CD538660002 Chet Baker: Un poco loco 0‘45)

Sprecherin

Nach dem Militär kehrt Baker nach Kalifornien zurück. Er spielt, wo immer sich eine Gelegenheit bietet. Man wird aufmerksam auf ihn. Als der New Yorker Bebop-Saxophonist Charlie Parker nach L. A. kommt, sucht er für seine Begleit-Band einen Trompeter und verpflichtet den gerade mal 22-jährigen Nobody.   

ZSP Hans-Jürgen Schaal - Charlie Parker Session

… Charlie Parker war ja auch immer auf der Suche nach Spielern, die nicht unbedingt mit ihm konkurrierten, sondern einen Gegensatz bildeten, einen Kontrast. … Charlie Parker war sich gleich sicher, er möchte mit Chet Baker spielen, hat die anderen Trompeter, die da zum Vorspielen angetanzt waren, dann nach Hause geschickt. 

MUSIK 6 (C1457180102 Chet Baker: Irresistible You 0‘49)

Sprecher

Charlie Parker ist die zentrale Figur des Bebop, ein Stil, der den populären Swing-Jazz der 30- und frühen 40-er Jahre ablöst. Hohe Geschwindigkeit und ungewöhnliche Tonschritte zeichnen ihn aus, genüsslich werden Melodien und Konventionen zerpflückt. Gespielt wird das hochvirtuose Idiom vor allem von kleinen Ensembles, von Bands und Combos. Entstanden ist die artistische Spielweise in den Clubs von New York, dem kulturellen Zentrum an der Ostküste der USA. Die 20-Millionen-Metropole gibt vor, was läuft in Mode, Musik, Kunst und Literatur. Wer etwas werden will als Jazzkünstler, muss sich in New York beweisen, lautet ein ungeschriebenes Gesetz.  

Sprecherin

Die Westküste der USA mit Los Angeles als ausuferndem, urbanem Zentrum steht dagegen für die Sonnenseite des Lebens,

weniger für Härte oder Leistungsdruck. In Kalifornien stießen die Siedler, die nach Westen zogen, auf den Pazifik - der Ozean als natürliche Barriere. Hier musste es sein, das Gelobte Land, das in der Bibel verheißen worden war, denn weiter ging es nicht. Kein Wunder, dass Hollywood in Kalifornien entstanden ist, die Traumfabrik mit unzähligen Stars und Sternchen. An der Westküste mit ihren weiten Küsten lebt es sich angenehm und entspannt, das Klima ist wesentlich milder, südlicher als das von New York, dessen bitterkalte Winter gefürchtet sind. In Kalifornien sind Körperkult, Fitness und Strandaktivitäten wie Wellenreiten angesagt.  

MUSIK 7 (CD999880003 Miles Davis –Moon Dreams 0‘36)

Sprecher

Der Gegensatz zwischen der Ostküste mit seiner scharfen Rationalität und der sonnenverwöhnten, lässigen Westküste spiegelt sich, meinen Kenner, auch in vielen Musikstilen. Der Bebop aus New York, der innovative Jazz der Ostküste, gilt als virtuos, kühn und herausfordernd. 

Sprecherin

Wird der geographische Hinweis West Coast auf Musik angewandt, bedeutet das, dass sie modern und urban, aber auch sinnlich und locker klingt, voller angenehmer Vibrationen ist. Das Gütesiegel West Coast wird höchst unterschiedlichen Stilen verliehen – vom Surf Rock der Beach Boys und den epischen Folk-Balladen von Crosby, Stills, Nash & Young über den Countryrock der Eagles bis hin zu Warren G., einem  Hiphopkünstler der Westküste. Für viele spiegelt die Musik dieser Künstler und Bands die Weite der Landschaften der Westküste wider. 

MUSIK 8 (Z8039636113 Mulligan Quartet - Love me or leave 0‘25)

Sprecher

Der Cool Jazz, den der junge Chet Baker wesentlich mitgestaltet, wird ebenfalls oft unter West Coast subsumiert - offene, leichte Musik, die sich nicht anbiedert. Ganz so simpel, findet Hans-Jürgen Schaal, ist es allerdings nicht. 

ZSP Hans-Jürgen Schaal - - West Coast Jazz vs. Cool Jazz

Also der Cool Jazz ist durchaus auch eine Erfindung der afroamerikanischen Musiker. Aber er kam natürlich den weißen Musikern sehr entgegen, weil man nicht diese enorme Virtuosität gebraucht hat, … weil das mehr in Richtung europäische Klanglichkeit ging. … und man sprach dann später von West Coast Jazz, weil dieser Cool-Jazz an der Westküste natürlich eigene Schwerpunkte gesetzt hat. Er gilt ja manchen so als besonders entspannend und besonders sonnig. Ich höre ihn eigentlich mehr als sehr verkopft. Der Westcoast Jazz hat gerne mit besonderen Kompositionstechniken gearbeitet, also viel mit Kontrapunktik, mit Kanon, Fuge, auch mit Zwölftontechnik, mit Polytonalität, Quarten, Harmonik und all das. 

MUSIK 9 (Z8047118109 Miles Davis – Rocker 0‘53)

Sprecherin

Entstanden ist der Cool Jazz aber tatsächlich in New York, also an der Ostküste. Der Trompeter Miles Davis, ein Künstler, der für extrem reduziertes Spiel steht und sich so von der Expressionswut der Bebop-Künstler abgrenzt, gründet Ende der 1940-er Jahre für Aufnahmen die Capitalband, mit Flügelhorn und Baritonsaxophon ungewöhnlich besetzt. Die Bläser müssen umsichtig intonieren, damit alle zu hören sind. Der Rhythmus spielt bei den Aufnahmen, die später auf der Langspielplatte „Birth Of The Cool“ erscheinen, eine untergeordnete Rolle. Im Vordergrund steht der Misch-Klang der verschiedenen Blasinstrumente.   

Sprecher

Davis‘ Cooljazz-Versuche werden zwar von der Kritik gefeiert, richtig populär aber sind sie nicht. Das ist anders bei der Musik, die Gerry Mulligan, der Miles Davis in der Capitolband in New York unterstützt hat, schreibt und arrangiert, nachdem er 1952 nach Kalifornien gezogen ist. Der Baritonsaxofonist gründet mit Chet Baker ein Quartett - ohne Klavier oder Gitarre, ohne schmeichelnde Harmonien. Kontrabass und Schlagzeug strukturieren die Zeit, über die Mulligan und Baker sanft Melodielinien weben.  

MUSIK 10 (Z8039636106 Gerry Mulligan Quartet – Walkin‘ Shoes 0‘45)

Sprecherin

Cool Jazz nennen Kritiker und Fans den neuen Stil, um ihn abzugrenzen vom Bebop. Das Tempo im Cool Jazz ist ruhig und zurückgenommen, die Anmutung eher lyrisch und leise als schreiend-laut. Bebop ist hot Jazz, aggressive, feurige Musik. Cool Jazz, wie ihn Mulligan und Baker betreiben, wirkt dagegen taghell, überlegt und weltabgewandt: als würden die Musiker der Hektik bewusst den Rücken kehren und sich ganz und gar versenken in ein Artefakt aus Klängen und Tönen.    

Sprecher

Als Mulligan wegen eines Drogendelikts ins Gefängnis kommt, gründet Chet Baker ein eigenes Quartett. Der Pianist Russ Freeman übernimmt jetzt Mulligans Rolle, er schreibt und arrangiert die Stücke, kümmert sich um Engagements, verwaltet die Finanzen. Chet Baker vergnügt sich derweil anderweitig.

ZSP Hans-Jürgen Schaal – über den Fall des Engels

 … Baker hat eigentlich nie gelernt, für sich oder für die Band Verantwortung zu übernehmen. Er hat eigentlich nur Party gefeiert, schnelle Autos, schöne Frauen, Drogen, das war das Ding. Und es gab eben immer genug junge Leute um ihn herum, die ihn darin bestärkt haben. Das erklärt wahrscheinlich auch, warum er dann in den 50-er-Jahren diesen großen Absturz erlebt hat - nach diesem sehr schnellen Aufstieg.

MUSIK 11 (Z8011783114 Chet Baker – Not For Me 0‘47)

Sprecherin

Noch ist der junge Mr. Baker unverkennbar auf dem Weg nach oben. Seine Popularität steigt, als er den Rat eines Labelbetreibers befolgt und singt. Bis dahin hatte er nur aus Verlegenheit gesungen, doch Gesangs-Aufnahmen sprechen nicht nur Jazzfans an, sie werden zudem von populären Radiosendern gespielt. Die Platte Chet Sings! wird 1956 ein Erfolg. Die Ballade My Funny Valentine avanciert zu Bakers signature song, seinem Erkennungslied. 

MUSIK 12 (Z8047120307 Chet Baker – My Funny Valentine (Live) 0‘44)

ZSP Hans-Jürgen Schaal – Über Sänger Chet B. 

Also für meine Ohren singt er genauso wie er Trompete spielt: sanft, leise und in diesem Trompetenregister, das wirkt natürlich irgendwie androgyn. Ja, also, das kam gut an in den 1950er-Jahren, speziell beim weiblichen Publikum. Da wirkt er einfach jünglingshaft, ein bisschen unschuldig auch.  … Wer jetzt heute diese Stimme zum ersten Mal hört, der denkt vielleicht, der klingt ja wie eine Frau.  … Also er hatte sicherlich keine wirkliche Singstimme, aber er hatte natürlich eine sichere Intonation. … Und er hat natürlich auch immer nur Lieder gesungen, die zu dieser weichen, sanften Stimme gepasst haben. (Er hat also keine Macho-Songs gesungen, sondern) er hat nur sensible Balladen gesungen.

MUSIK 13 (Z8047114202 Chet Baker – I Get Along Without You Very Well 1‘11)

Sprecher

Ein weiterer Faktor der Ikonografie sind die Portraits, die Fotokünstler William Claxton anfertigt. Obwohl Baker auf den stilvollen Schwarz-Weiss-Fotos nie lächelt, ist er ungeheuer fotogen. Ein hübscher junger Mann, in sich gekehrt, verletzlich, etwas verloren. Der ehemalige Modefotograf Claxton weiß, wie man den Jungstar inszenieren muss, damit er Starqualitäten, oder anders gesagt, das nötige Charisma entfalten kann. 

Chet Baker hat also in mehrfacher Hinsicht Glück. Er verkörpert den Zeitgeist, das weibliche Publikum findet ihn attraktiv - und der Jazz in den USA, wo im Süden die sogenannte Rassentrennung immer noch gesetzlich festgeschrieben ist, braucht saubere, weiße, junge Stars wie ihn. Für Baker-Fans ist es jedenfalls ein Schock, als der Künstler 1959, kurz vor Drehbeginn eines Spielfilms, wegen Drogen verhaftet wird. Die Dreharbeiten mit Natalie Wood und Robert Wagner als Ersatz für Baker finden trotzdem statt. Titel des Films: All The Fine Young Cannibals. 

MUSIK 14 (Z8047119205 Chet Baker – (Somewhere) Over The Rainbow 0‘46)

Sprecher

Nach der Entlassung aus dem Strafvollzug geht Baker nach Italien. Auch hier muss er wegen Drogen-Konsums für anderthalb Jahre ins Gefängnis. 1962 nimmt er dann in Italien das Album Chet Is Back auf, es gilt als eines seiner besten. 

Sprecherin

Was folgt, ist eine regelrechte Hetzjagd durch Europa. Baker, der im Sportwagen zu Auftritten braust, wird an nahezu jeder Grenze festgenommen, in Gefängnisse oder Psychiatrien gesteckt, von Boulevardblättern zum Monstrum erklärt. Die Öffentlichkeit interessiert sich anscheinend nicht dafür, dass er sich als Künstler weiterentwickelt hat, seinen Ansatz verfeinert hat. Der Musiker ist zur Negativfigur geworden. 

ZSP Hans-Jürgen Schaal – Baker & die Drogen II

Das war im Grunde die Tragik seines Lebens, dass viele Leute eben nur noch über den Junkie geredet haben und nicht über den Musiker. Gerade in dieser ersten Zeit in Europa war es ja so, dass die Medien gerade die die Boulevardpresse sich darauf gestürzt hat  … Dass er eine Gefahr wäre für die Allgemeinheit. Dabei hat er ja niemandem geschadet außer sich selber. … Inwieweit das jetzt in seine Musik eingegangen ist? Wenn man seine frühen Aufnahmen hört, würde ich sagen, er hat schon immer so gespielt. Er ist nur besser geworden.

MUSIK 15 (C1576500205 Elvis Costello – Shipbuilding 0‘24)

Sprecher

Als der Trompeter Ende der 60er Jahre in die USA zurückkehrt, will man  nichts mehr von ihm wissen. Er ist nicht mehr der strahlende junge Held, durch die Sucht sieht er abgezehrt aus, um Jahrzehnte gealtert. In den Staaten gilt er deswegen als abgehalftert, seine Musik als überholt, stigmatisiert als Junkie, als Drogenabhängiger. 

Sprecherin

Hinzu kommt: Jazz wird nun verstärkt und verfremdet, junge Jazzmusiker setzen jetzt gerne E-Pianos und E-Gitarren ein, sie verbinden lauten Rock mit Jazzimprovisationen. Fusion nennt sich das - nichts für einen Leisetreter wie Chet Baker. Als man ihm weitere Zähne ausschlägt, weil er seine Drogenrechnungen nicht begleichen kann, ist der absolute Karriere-Tiefpunkt erreicht. 

Sprecher

Aber Baker kämpft sich zurück. Er bekommt ein künstliches Gebiss und arbeitet mehrere Jahre daran, damit einen guten Ansatz für sein Instrument hinzubekommen. 1972 wagt er in New York ein Comeback. Im Publikum bekunden Dizzy Gillespie und Miles Davis ihre Sympathie für den Kollegen. 

Sprecherin

Ende der 70-er Jahre ist er zurück in Europa. Er gastiert vor allem in Metropolen wie Paris, London, Brüssel, Berlin und Stockholm. Jahrelang verzichtet er in seinen Bands auf ein Schlagzeug. Tausend Dollar verlangt er für ein Live-Konzert, 5000 für eine Albumproduktion - auszuzahlen in bar nach der Veranstaltung, dann ab ins Hotel oder ins Auto und weiter durch die Nacht.     

Sprecher

Dass ein derartiger Freigeist kein verantwortungsvoller Vater ist und auch kein zuverlässiger Liebhaber, dürfte klar sein. Gegen Ende seines Lebens hat Baker nicht einmal ein Bankkonto, er übernachtet in Hotels und fährt mit Zug oder Auto von Auftritt zu Auftritt. Luxusnomade nennen ihn seine Kinder, die er mit mehreren Frauen hat, aber nur selten sieht. Nicht alle seine Konzerte sind großartig, aber doch viele. 

Sprecherin

Von Cool Jazz spricht nun kaum noch jemand, wird ein Konzert von ihm angekündigt. Modern, contemporary oder kammermusikalischer Jazz passt ja auch besser. Sein Name bürgt jedenfalls für kunstvoll vorgetragene, lyrische Balladen. 

MUSIK 16 (Z8047121212 Chet Baker – Moon Love 1‘11) 

Sprecher

Was wird bleiben von Chet Baker, dem Künstler, der 1988 im Alter von nur 58 Jahren wie ein gefallener Engel in Amsterdam aus dem Hotelfenster gestürzt ist? Hans-Jürgen Schaal fasst zusammen. 

ZSP Hans-Jürgen Schaal - 

Einmal ein Feeling, eine Emotion, die eigentlich in vielen Lebenslagen passt. Eine Emotion, die etwas melancholisch ist, aber nicht traurig, die etwas positiv ist, aber nicht verklärend. Und es bleibt einfach eine große musikalische Fantasie, ein wunderschöner Trompetenton, eine unglaubliche Intonationssicherheit, Ja, es wird einfach schöne Musik. 


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 February 5, 2024  24m