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Die türkischen „Gastarbeiter“ - Das Anwerbe-Abkommen von 1961


Eigentlich sollten sie höchstens zwei Jahre dableiben, arbeiten und wieder gehen - "Gastarbeiter" eben. Dass sie "Türkentum und Nationalgefühl hochhalten" war das Erste, was im umfangreichen Verfahren getestet wurde, das die deutsche und die türkische Regierung im Jahr 1961 mit dem "Anwerbeabkommen" beschlossen hatten. Aber wie bemerkte der Schriftsteller Max Frisch einmal: "Wir riefen Arbeiter, und es kamen Menschen". Bettina Weiz erzählt die Geschichte von dieser "Menschwerdung". (BR 2011)

Credits
Autorin dieser Folge: Bettina Weiz
Regie: Bettina Weiz
Es sprachen: Ruth Geiersberger
Redaktion: Brigitte Reimer

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ATMO (Nähen) darauf

ERZÄHLERIN: 

Anzüge, Westen, Herrenhemden auf Maß: All das näht der Schneider Ethem Kocer bis in die 60er Jahre hinein in seinem Heimatdorf mitten in der Türkei.

Musik: C127867/007

ERZÄHLERIN: 

Sein Geschäft läuft auf Pump: Er borgt sich Stoffe und Nähseide von Großhändlern, gibt wiederum seinen Kunden Kredit.

1. Zsp. / Ethem Kocer

„Im Jahr zweimal zahlen die dann. Die Bauern, wann Getreide verkauft ist.“

Nochmal ATMO (Nähmaschine). Darauf

2. Zsp. / Ethem Kocer

„64 es hat nicht geregnet. Leider kein Getreide geworden. Wir haben dann Zuckerrübenernte gewartet. Hat auch nicht geworden: wenn es nicht regnet, dann wird der net. Dann hab ich pleite gemacht.“

ERZÄHLERIN: 

Da beschließt er, nach Deutschland zu reisen.

Musik aus

3. Zsp. / Ethem Kocer

„Ja ohne zu denken! Ohne zu denken. Einfach kommen und arbeiten, etwas Geld machen, wieder zurückgehen.“

Musik: CD54790/006

ERZÄHLERIN: 

400 Kilometer weiter östlich in der Türkei lebt zur gleichen Zeit Makbule Kurnaz in einem Bauernhaus mit Garten, zwei Kühen, Katzen, Hunden und Hühnern. Ihr Vater fährt jeden Morgen mit dem Motorrad in eine Zuckerfabrik und arbeitet dort als Aufseher.

Musik aus

4. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Eine Diktatore. Wie Pascha. Wie Harem Pascha..

ERZÄHLERIN: 

Er hat nacheinander drei Frauen und fünf Kinder, das älteste ist ein Sohn, der einzige Junge in der Familie.

5. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Deswegen meine Vater wollte, der ist nach Deutschland zum Studieren gehen. Er ist Jahre 70 nach Deutschland gekommen, hat dort gearbeitet. Hat gleich deutsche Frau gefunden, Auto gekauft, ganz elegant angezogen, „aha„, hab ich mir gedacht, „Deutschland ist gut wie hier“. Lacht.

ERZÄHLERIN: 

Als er so hübsche Fotos aus München schickt, ist Makbule 21 - und verliebt.

6. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Jemand wollte mit mir heiraten, Vater hat nicht erlaubt. Bei uns Anatolien solche Geschichte viele. Ich darf nicht in meine Herz wer ist, Vater hat entschieden, dass ich mit jemande unbedingt heiraten müssen. Ich wollte nicht, hat Vater gesagt, „ja, meine Tochter, du kannst auch gehen. Entweder heiraten oder Deutschland gehen“. Ich hab gesagt „dann gehe ich Deutschland. Bitte, bitte, bitte schick mich nach Deutschland“.

Musik: C127867/13

ERZÄHLERIN: 

Geldnot, der Wunsch nach Qualifikation, das Streben nach Freiheit von strikten Familienoberhäuptern, vielleicht Abenteuerlust: Die persönlichen Gründe, weshalb sich seit den 60er Jahren weit über eine Millionen Menschen aus der Türkei auf den Weg nach Deutschland gemacht haben, sind vielfältig. Alle hoffen auf ein besseres Leben. 

Kreuzblende zu: 6108376

7. Zsp. / Ethem Kocer

„Vor uns von Italiener, Griechen, Spanier sind gekommen.“

ERZÄHLERIN: 

… um Berge abzuschürfen, Elektroschalter zu montieren oder Autos zusammenzuschrauben. Seit Mitte der 50er Jahre hatten deren Regierungen mit der Bundesrepublik sogenannte Anwerbeverträge geschlossen. Ein bewährtes Vorgehen, erklärt der Historiker Christoph Rass von der Universität Osnabrück.

Musik aus

8. Zsp. / Christoph Rass

„Die Anwerbeverträge sind als Institution entstanden schon nach dem I. Weltkrieg, mit einem Anwerbevertrag, den Frankreich und Polen im Jahr 1919 geschlossen haben, und seitdem entwickelt sich diese Institution auf der internationalen Bühne, wird vor allem in Westeuropa genutzt, auch Deutschland ist Ende der 30er Jahre schon über einen solchen Vertrag beispielsweise mit Italien verbunden.“

ERZÄHLERIN: 

Die Anwerbeverträge regeln, dass und wie das deutsche Arbeitsamt in einem fremden Staat Leute rekrutiert. Auch die türkische Regierung möchte einen solchen Vertrag abschließen.

9. Zsp. / Christoph Rass

„Die Türkei selbst hat im Rahmen ihrer Wirtschaftsentwicklungspläne begonnen, sehr stark auf den Export von Arbeitskraft zu setzen.“

Musik: CD54790/006

ERZÄHLERIN: 

Denn die Wirtschaft kriselt. Die Regierung ist schwach. 1960 putscht das Militär. Die anderen NATO-Staaten schauen besorgt auf das Mitglied am strategisch wichtigen Südost-Ende des „Eisernen Vorhangs“. Es herrscht Kalter Krieg. Seit 1959 stationieren die USA in der Türkei Mittelstreckenraketen. Atomwaffen.

MUSIK AUS

ERZÄHLERIN: 

Es trifft sich, dass viele bundesdeutsche Firmen Arbeitskräfte suchen - wegen der neu eingeführten Fünftagewoche, weil die Ausbildungen länger werden, weil die geburtenschwachen Kriegsjahrgänge ins Berufsleben einsteigen. Wegen der Mauer ist der Strom von Übersiedlern aus der DDR abgeebbt.

10. Zsp. / Christoph Rass 

„Zugleich hat aber Deutschland, als auf diplomatischem Wege angetragen wurde, ob die Anwerbung von Arbeitskräften in der Türkei in Frage käme, zunächst reserviert reagiert. Denn man hat einen internen Grundsatz verfolgt: keine Arbeitskräfte aus sogenannten „nichteuropäischen Staaten„ anzuwerben, und hier wertete man die Türkei als einen nicht-europäischen Staat. Man hat sich auf deutscher Seite immer überlegt, was man der deutschen Gesellschaft zumuten kann an fremdländischen ArbeitnehmerInnen. Und das zählte zu den Motiven, die Deutschland dazu bewogen hat, keinen Anwerbevertrag abzuschließen, sondern auf dem diplomatisch niedriger angesiedelten Wege des Notenwechsels eine Anwerbevereinbarung abzuschließen.“

ERZÄHLERIN: 

Viele Regelungen der Vereinbarung vom 30.  Oktober 1961 sind anders als in den Verträgen etwa mit Italien, Griechenland oder Spanien.

11. Zsp. / Christoph Rass

„Während es also in der Regel bei Anwerbeverträgen so war, dass die Arbeitsverträge im Prinzip immer wieder verlängert werden konnten, war es so, dass bei der 1. Fassung des deutsch-türkischen Abkommens eine Höchstverweildauer von 2 Jahren eingeplant war. Dass kein Familiennachzug vorgesehen war.“

ERZÄHLERIN: 

Das Folge-Abkommen von 1964 hebt diese Einschränkungen teilweise auf. Aber das Ziel bleibt:

12. Zsp. / Christoph Rass

„Man wollte auf jeden Fall sicherstellen, dass es nicht zu einer Niederlassung türkischer ArbeitnehmerInnen in Deutschland kommt.“

ATMO (Nähen). Darauf

ERZÄHLERIN: 

Anfang der 60er Jahre sitzt der türkische Schneider Ethem Kocer im Zug, erst nach Istanbul, dann quer durch Bulgarien, Jugoslawien und Österreich bis München. Im Sechserabteil, zwei Nächte und drei Tage lang.

13. Zsp. / Ethem Kocer

„Natürlich! Sitzend schlafen. Der Zug ist angekommen. Gleis 11. 

15. Zsp. / Ethem Kocer

„Mich dann mein Freund abgeholt. Er war schon Deutschland, hier Jura studiert, und die wollten dann Export aufmachen.“

ERZÄHLERIN: 

Statt als Gastarbeiter nach der Anwerbevereinbarung ist Ethem Kocer mit eigenen Kontakten eingereist. 

16. Zsp. / Ethem Kocer

„Ich war so eilig, ich wollte da unbedingt hingehen! Als Tourist bin ich gekommen, als Tourist hab ich dann normal Pass bekommen. Mit 800 Mark durfte man ausreisen. Hab ich dann von Bank 800 Mark Devisen gekauft in der Türkei, als Tourist darfst du dann 3 Monate bleiben mit das Geld damals.“

ERZÄHLERIN: 

Aus dem Export-Geschäft des Freundes wird nichts. Einen Arbeitsvertrag darf er als Tourist auch nicht unterschreiben. (Da meldet er sich - das geht - als landwirtschaftlicher Helfer in Niederbayern. 

17. Zsp. / Ethem Kocer

„Ich hab mein Chancen versucht, irgendwie hier. Und dann von Ergolding, also 3 Monat später wollte Anmeldung machen in München. Haben sie mir dann net erlaubt, also mein Pass haben sie dann zurück stempelt,) ich musste wieder nach Türkei.“

MUSIK: C54790/006

ERZÄHLERIN: 

Wäre er nicht auf eigene Faust gekommen, sondern mit Hilfe der Anwerbevereinbarung, hätte er mehr Sicherheit gehabt. Christoph Rass.

18. Zsp. / Christoph Rass

„Anwerbeverträge minimieren die Risiken und die Kosten der Migration für alle Beteiligten. Die beteiligten Staaten erhalten Zugriff auf Migrationsströme und können versuchen, diese in gewissen Grenzen in ihrem Sinne zu beeinflussen. Und die MigrantInnen selbst erhalten vielfältige Hilfestellungen und vor allen Dingen verbriefte Bedingungen in den Arbeitsverträgen, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeiter, die im Rahmen einer solchen Anwerbung auf den Arbeitsmarkt kommen, gleich behandelt werden wie inländische Arbeitnehmer.“

Musik aus

ERZÄHLERIN: 

Makbule Kurnaz geht 1971 den offiziellen Weg. Sie bewirbt sich erst in der Hauptstadt ihrer Provinz, bekommt dann einen Termin im fernen Istanbul. Ihre erste große Reise. Der Vater und sie logieren bei Bekannten und im Hotel und besuchen immer wieder die Außenstelle des deutschen Arbeitsamtes.

19. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Eine Woche lang Untersuchung gemacht, von Kopf bis Fuß, alles, alles. Blut, Urin, alles. Viele Menschen, allererste mal war ich alleine, Vater war draußen, ich war drin, kontrollieren, eines immer hat mich gestört, dass ich ganz nackig müssen.“

20. Zsp. / Christoph Rass

„Grade diese Gesundheitsuntersuchungen, die auch sehr intime Bereiche berührt haben, die sind als ganz massive Eingriffe in die Intimsphäre der ArbeiterInnen empfunden worden vielfach, und das hat die Wahrnehmung und die Geschichte dieser Anwerbung sehr geprägt.“

ERZÄHLERIN: 

Augen, Gebiss, Geschlechtsorgane: Makbule Kurnaz wird durch und durch getestet - und für zu leicht befunden.

21. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Hat gesagt, „gesundheitlich haben Sie Probleme„. - „Was denn?„ - „Blutarm. Wenig Blut im Körper, und Sie sind schlank wie 50„. Ich muss unbedingt 50 sein, ich war 48, ganz dünn, junge Mädchen.“

ERZÄHLERIN: 

Sie reisen wieder zurück in ihre Provinz - und der Vater sucht zwischen Istanbul, Ankara und dem Schwarzen Meer nach frischem Blut.

22. Zsp. / Makbule Kurnaz

„In Samsun Blutspende gefunden, von eine Militär habe ich eine Blut bekommen. Mehr wie Pfund, Kilo hat gesagt, Vater hat das gezahlt, Blut gegeben, hat mit der Ernährung bisschen besser: Honig, Butter, Milchprodukte, Joghurt und so.“

ERZÄHLERIN: 

Ein Jahr vergeht. Makbule Kurnaz, die keinen Schulabschluss hat, macht einen Schneiderkurs: 

23. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Nochmal nach Istanbul gefahren, „Oh, hat gesagt, ok, gesundheitlich ok, die Zeugnis hilft was, aber wir haben eine Angebot, dass Sie vielleicht mal, wenn Sie gescheit sind, nach eine elektrische Firma, egal, Grundig, Saba, irgendwo, Siemens braucht dringend mehr Leute, junge Frauen unter 25.„ Da hab ich Glück. Da hab ich gesagt „Vati, ich kann das machen“. In eine Zimmer, 20 Mädchen, wie Universität Prüfung, haben wir Prüfung gemacht. Irgendwelche Farbe, Linie, mit die Figuren, jetzt wie Kinder, Puzzle und so was, habe ich alles perfekt gemacht, null Fehler und geschafft. Ok, hab ich gleich von der Siemens die Einladung bekommen, in 2 Tage, hat er uns noch 10 Wörter gegeben: „ja, nein, ok, falsch, richtig“ - so was, die muss mer auswendig wissen, dann hat alles geklappt, hat gesagt „ok, Sie sind die Erste für Siemens, Mitarbeitervertrag wird 1 Jahre.“

MUSIK: Z9382937/010

ERZÄHLERIN:

Wie viele angeworbene Türkinnen in den 70er Jahren kommt Makbule Kurnaz mit dem Flugzeug nach Deutschland. Eine freundliche Dolmetscherin und ein Bus stehen schon bereit, und im Bunker unter dem Münchner Hauptbahnhof, dem Ersten, was frisch Angeworbene nach ihrer Ankunft zu sehen bekommen, gibt es Brote, Wurst und Käse.

24. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Mit Vertrag ich bin garantiert, holte mich jemand, gibt immer mit Programm, geführt. Ok. Angekommen, dort abgeholt, mit Liste, so wie Tourist-Organisation.“

Musik aus

ERZÄHLERIN: 

Sie kommt in ein Wohnheim direkt gegenüber vom Werkstor, teilt das Zimmer mit den Stockbetten und die Küche mit drei anderen Frauen. „Mädchen“, sagt sie.

25. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Mädchenwohnheim. Unter Kontrolle gekommen. Haben wir Vertrag, auch Heim-Vertrag, durften wir nicht irgendwann von Wohnheim weggehen, 4 Jahre alleine dort gewohnt. Bis 10 Uhr muss man zurückkommen. Pförtner sitzt da.“

ERZÄHLERIN: 

Mit der Arbeit kommt sie klar. Ihre Vorarbeiterin ist selbst Türkin. 

Der Bruder, der auch in München lebt, nimmt sie in die Disco mit und Weihnachten mit zum Urlaub ins Heimatdorf. Seine Verlobte – eine Deutsche - ist auch dabei. Das gefällt dem Vater nicht. Er verstößt seinen Sohn.

MUSIKAKZENT: C54780/006

ERZÄHLERIN: 

Makbule Kurnaz fasst den Entschluss ihres Lebens: sie bleibt in Deutschland.

26. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Ich wollte nur ein Jahr, aber doch: Mein Bruder da, mir alles gefallen, ich bleibe. Dann hab ich Vertragverlängerung unbefristet bekommen. Von Siemens. Natürlich von der Kreisverwaltung wird auch verlängert, alles hab ich, längere Jahre bekommen. Dann bin ich geblieben. Voll zufrieden.“

Musik aus

27. Zsp. / Christoph Rass

„Tatsächlich zeigen alle Beispiele, die wir kennen, dass Anwerbeprozesse nie rein temporär bleiben. Der größte Teil der ArbeitnehmerInnen, die während der Anwerbephase, also zwischen 1955 und 73, nach Deutschland gekommen sind, haben Deutschland wieder verlassen. Aber es sind eben auch etwa 4 Millionen ArbeitnehmerInnen und ihre Familien in Deutschland zurückgeblieben und haben sich für einen längerfristigen Verbleib, gar für die Niederlassung, für eine Einwanderung, entschlossen.“

ATMO (Nähen). Darauf

ERZÄHLERIN: 

Auch Ethem Kocer, der türkische Schneider, kommt wieder - und bleibt. Er hat in Deutschland sofort seine Liebe gefunden.

28. Zsp. / Ethem Kocer

„Sonntag bin ich gekommen, Montag hab ich dann mein deutsche Frau kennengelernt. Deutsche. Wir haben da Kaffee gemacht, Kaffee und Kuchen, dort habe ich sie kennengelernt.“

ERZÄHLERIN: 

Vier Monate nach seiner Rückkehr in die Türkei findet sein Münchner Freund eine Arbeit für ihn als Trambahnschienenputzer. Ethem Kocer erhält eine Aufenthaltsgenehmigung und setzt sich ein zweites Mal in den Zug nach Deutschland.

29. Zsp. / Ethem Kocer

„So weitergegangen, also Freundschaft, und dann - 71 geheiratet wir sind dann.“

ERZÄHLERIN: 

Sie bauen sich ein Haus im Vorort Gröbenzell. Er gründet sein eigenes Schneider-Unternehmen.

MUSIK: Z9382937/010

ERZÄHLERIN: 

Viele Arbeitskräfte aus der Türkei kommen und gehen. Manche arbeiten ein Jahr in Deutschland, um das Geld für ein Moped zusammenzubekommen und gehen dann zurück, kehren später aber wieder, etwa um auf ein neues Hausdach hinzuarbeiten, retour in die Türkei und so fort. Im Herbst 1973 ist es damit aus. Die Ölkrise macht den Westeuropäern Angst. Und rechtfertigt die Anwerbestopps, die die Regierungen der klassischen Zielländer für ausländische Arbeitskräfte erlassen: Frankreich, Schweiz, Großbritannien, Schweden, auch die Bundesrepublik. Die Folgen der Stopps sind unerwartet: Es kommen mehr Menschen.

Musik aus

30. Zsp. / Christoph Rass

„Als die Anwerbung ausgesetzt wird, da entscheiden sich ganz viele MigrantInnen, zunächst mal in Deutschland zu bleiben. Denn sie wissen: wenn sie jetzt das Land verlassen, ihre Arbeitsstellen aufgeben, dann können sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr zurückkehren. Und dann beginnen sie, sehr massiv ihre Familie nachzuholen, und das ist dieser Peak in den Statistiken, der sich nach dem Anwerbestopp zeigt, das ist das Nachwandern der Familienangehörigen, der Kinder, nach Deutschland.“

MUSIK: CD54790/006

ERZÄHLERIN: 

Vier Jahre lebt Makbule Kurnaz im Mädchenwohnheim ihrer Firma. 1976 zieht sie in ihre eigene Wohnung. Sie könnte frei und unabhängig leben – doch …

31. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Hat die Familie Angst bekommen, dass ich mit einem deutschen Mann heirate. Weil Bruder mit deutscher Frau, ich bin in Türkei gegangen, natürlich mit der Familie Entscheidung, jemanden kennengelernt, ich wollte nicht. Ja, nein. In diese Urlaub bin ich weggegangen. Nächste Urlaub wieder: derselbe Mann. Hab ich entschiede, dass ich doch mit ihm heirate. Alleine geht nicht.“

ERZÄHLERIN:

Im folgenden Urlaub heiratet sie ihn und lädt ihn nach Deutschland ein: Familienzusammenführung. Zweieinhalb Jahre lang darf er nicht arbeiten. Weil gleich ein Kind kommt, kümmert er sich, und sie verdient das Geld.

Musik aus

32. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Wir haben 2 Kind bekommen, natürlich... Aber war NICHT wie ich mir vorstellen, solche Familie. Leider.“

ERZÄHLERIN: 

Hauptgrund für das Scheitern der Ehe: das Leben im fremden Land. Ihr gefällt es, ihm nicht.

33. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Wollte nicht, vom 1. Tag hat gesagt „ich will Deutschland nicht, ich bleibe nicht, ich mage nicht“, habe ich gekämpft, mit Arbeit, mit Kinder, mit Mann, mit Leben, mit Haushalt.... Er ist wieder zurückgegangen.“

34. Zsp. / Makbule Kurnaz)

„Ich bleibe hier! Vom 1. Jahr habe ich entschieden, dass ich bis Lebenende da bleibe.“

ERZÄHLERIN: 

Die Klarheit und Eindeutigkeit dieser Entscheidung hat ihr geholfen, sich zu integrieren.

35. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Hab ich mir gedacht, „ah, muss ich hier mich konzentrieren, muss ich alles machen, für mich Zukunft, mehr gute Sachen machen“. Ich konnte nicht viel Deutsch in 1 Jahre, ja, 73, dann Kurs hab ich gemacht 3 Monate, Sprachkurs.“

Atmo (Nähen) Darauf

ERZÄHLERIN: 

Auch der Schneider Ethem Kocer bemüht sich um gesellschaftliche Anerkennung, sobald er sicher ist, dass er in Deutschland bleiben wird. 

r macht einen Schneiderkurs, denn wie bei vielen Zuwanderern wird sein türkisches Diplom nicht anerkannt. Er legt die Meisterprüfung ab. Er nimmt die deutsche Staatsbürgerschaft an. 

MUSIK: M0021386/003

ERZÄHLERIN: 

Ethem Kocer und Makbule Kurnaz kämpfen am Lebensabend, mit Spätfolgen ihrer Einwanderung. Die Erwerbsbiographie des Schneiders passt schlecht ins Schema der deutschen Sozialversicherung: Er kam erst mit über 30 nach Deutschland und war 17 Jahre lang selbständig, zahlte nur 10 Jahre als Angestellter in die Rentenkasse ein. 

36. Zsp. / Ethem Kocer

„Mein eigenen Rente 660 Euro. Kann man net leben. Witwengeld bekomme ich. Mit dem kann ich dann leben.“

ERZÄHLERIN: 

Der Einschnitt in Makbule Kurnaz’ Erwerbsbiographie ist, dass sie ihren Job kündigt, als ihr Mann in die Türkei geht.

Musik aus

37. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Den Fehler hab ich gemacht, aber hab ich neue Beruf gelernt, in eine Geschäft Kasse gemacht, erstemal Schlecker, dann verbessert bissle bei Plus, dann Kaufhof eingestellt.“

ERZÄHLERIN: 

Viel verdient sie nicht und bringt davon auch noch ihre Kinder durch. Wegen des Stress’ an der Kasse geht sie in Frührente. Auch Ethem Kocer hat sich mit 63 die Hände beim Nähen verschlissen. Zugewanderte Türken bekommen mehr als doppelt so häufig wie alteingesessene Deutsche Erwerbsunfähigkeitsrente – 

sie haben meist die anstrengenden Jobs übernommen, die die anderen nicht wollten. Nun verbreitet sich Altersarmut. 

Dass arme Alte zurückkehren, widerspricht den ursprünglichen Hoffnungen, die Länder wie die Türkei in die Anwerbeverträge gesetzt hatten, nämlich Devisen, Qualifikation und Entlastung des Arbeitsmarktes. 

Wobei sich die Hoffnungen in gewissen Grenzen schon immer auch erfüllen, erklärt der Historiker Christoph Rass.

39. Zsp. / Christoph Rass

„Gerade der Rückfluss von Devisen aus Lohnersparnissen ist für viele Länder ein wichtiger Aspekt in ihrer Handels- und vor allem Leistungsbilanz gewesen, die Qualifikation hat sich in geringerem Maß erfüllt, denn es zeigt bei den Rückwanderern, dass gerade die besonders gut Qualifizierten vielfach im Ausland verbleiben. Und natürlich die Entlastung des Arbeitsmarktes: das leidet unter einem Interessenkonflikt, denn die Abwanderungsländer wollen in der Regel die am schlechtesten Qualifizierten, die tendenziell arbeitslos sind, ins Ausland entsenden, während die Anwerbestaaten die am besten Qualifizierten für ihre Arbeitsmärkte haben wollen.“

ERZÄHLERIN: 

Anwerbeverträge gibt es bis heute, besonders außerhalb Europas. Aber auch in Deutschland sind sie wieder salonfähig, seit Ingenieure und Facharbeiter fehlen.

40. Zsp. / Christoph Rass

„Die Verführung eines Anwerbevertrages ist immer, dass die Möglichkeit gegeben zu sein scheint, Arbeitskräfte temporär und bedarfsgerecht auf einen Arbeitsmarkt zu holen. Als Konjunkturpuffer. „Ich nehm’ mir jetzt aus dem Ausland Arbeitskräfte herein, und wenn wir sie nicht mehr brauchen, dann werden sie alle wieder verschwinden“, für einen großen Teil wird das immer so verlaufen, aber für einen kleineren Teil wird immer aus der temporären Präsenz immer der Wunsch nach Einwanderung, nach Niederlassung, und auch der Integration resultieren. Das muss man von Anfang an berücksichtigen. Und genau das hat die Bundesrepublik - wie manch anderes europäische Land im übrigen auch - nicht getan.“

MUSIK: M0021386/003

ERZÄHLERIN: 

Kleine Rente und kaputte Gesundheit hin, zerrüttete Familien und Witwerschaft her: Makbule Kurnaz und Ethem Kocer machen das Beste aus ihrem Leben. In einem städtischen Alten- und Service-Zentrum treffen sie Gleichgesinnte zum Deutschlernen, Malen und Tanzen, fahren mit der Nostalgiebahn nach Bayerischzell.

41. Zsp. / Ethem Kocer

„So geht das Leben.“ lacht nett, aber kurz.

Musik aus

ATMO (Nähmaschine). Darauf

ERZÄHLERIN: 

Seine Nähmaschine - Industrie-Nähmaschine! - hütet Ethem Kocer gut.

42. Zsp. / Ethem Kocer

„Zuletzt hab ich geschneidert - ja, meine Bekannten Kleid gemacht z.B..... er geht im Flur ...die Kleider sind glaub ich hier.“... Rascheln: 

ERZÄHLERIN: 

Seide knistert, Pailletten funkeln.

43. Zsp. /Ethem Kocer

„Ihre Sohn heiraten, deswegen haben wir dann da vorbereitet.“

ERZÄHLERIN: 

Das Kleid ist für Makbule Kurnaz. Im Alter haben die beiden zueinandergefunden. Die Fotos ihrer Kinder stehen auch auf seiner Kommode.

45. Zsp. / Makbule Kurnaz

„Hier geboren, hier aufgewachsen, gut studiert, älterer Sohn Computer-Fachmann, seine Frau Sekretärin, junge Sohn beim Amt Sicherheit, alles ok. Ihre Leben auch gut, jetzt junge Sohn will mit Deutsche - halbe deutsche, halbe türkische - Mädchen heiraten, wir sind voll glücklich. Hammer deutsche Kultur mehr wie türkische Kultur.“

MUSIK: M0021386/003


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 February 7, 2024  21m