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Neugier - Antriebskraft des Lebens


Ohne Neugier gibt es keine Entwicklung. Neugier beflügelt die Wissenschaft, Neugier auf das Zeitgeschehen macht den Menschen zum Subjekt der Geschichte. Von Brigitte Kohn (BR 2014)

Credits
Autorin dieser Folge: Brigitte Kohn
Redaktion: Susanne Poelchau

Im Interview:
Professor Andreas Speer; Köln

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

Wie wir ticken - Euer Psychologie Podcast
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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ZUSPIELUNG OBAMA-REDE:

Our challenges may be new. The instruments with which we meet them may be new. But those values upon which our success depends - hard work and honesty, courage and fair play, tolerance and curiosity, loyalty and patriotism - these things are old. These things are true.

DARÜBER:

„Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, mögen neu sein. Unsere Mittel und Möglichkeiten, darauf zu reagieren, mögen neu sein. Aber die Werte, auf denen unser Erfolg beruht – harte Arbeit und Ehrenhaftigkeit, Mut und Fairness, Toleranz und Neugier, Treue und Vaterlandsliebe – diese Dinge sind alt. Diese Dinge sind wahr.“ 

ERZÄHLERIN:

In seiner ersten Rede als 44. Präsident der Vereinigten Staaten erwähnt Barack Obama ausdrücklich die Neugier als zentralen Motor der amerikanischen Erfolgsgeschichte. Und er verbindet sie mit bestimmten Wertvorstellungen. Neugier hat eine individuelle und kulturelle Dynamik. Der Mensch muss seiner Neugier eine Richtung geben – und die ist nicht vorgegeben, für die muss er sich entscheiden. Ausschalten lässt sich die Neugier nicht. Sie gehört zur menschlichen Natur, sagt Andreas Speer, Professor für Philosophie an der Universität Köln.

1 O-TON PROF. ANDREAS SPEER:

Ich denke, eines der wichtigsten Dinge ist, dass der Mensch, wie ja die Anthropologen sagen, ein ziemlich instinktentsichertes Lebewesen ist. Dass er nicht fest in einen Umweltzusammenhang eingebunden ist, sondern sich seine Welt selbst schaffen muss. Man muss explorieren, man muss sich orientieren, man muss die Eindrücke ordnen, und man muss gewissermaßen sein Leben selbst gestalten. 

ERZÄHLERIN:

[Neugier findet man auch im Tierreich. Auch höher organisierte Tiere müssen ihre Umgebung untersuchen und erkunden, um zu lernen, wie sie beschaffen ist und wie man in ihr überlebt.]

Aber die Menschen sind nicht nur neugierig auf die sichtbare Welt. Sie fragen nach Gott, nach der Wahrheit, nach Gut und Böse, nach Werten, Normen und Moral. Sie müssen ihrer Neugier eine Richtung geben; ihrem Wissen Sinn und Bedeutung. 

Menschen müssen ständig Neues aufnehmen und verarbeiten. [Ihr Gehirn entwickelt sich im Zusammenspiel mit der Umwelt, ohne Reize würde es verkümmern.] Sich zu entwickeln, ist eine Lust. Menschen sind von Natur aus neugierig auf die Welt, die sich ihnen zunächst durch die sinnliche Wahrnehmung erschließt.

ZITATOR:

„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen. Ein deutliches Zeichen dafür ist die Liebe zu den Sinneswahrnehmungen. Denn abgesehen vom Nutzen werden diese um ihrer selbst willen geliebt, und von allen besonders die Sinneswahrnehmung, die durch die Augen zustande kommt.“

ERZÄHLERIN:

… schreibt  der Philosoph Aristoteles im antiken Griechenland. Augenlust spielt auch bei Kindern eine Rolle, aber die anderen Sinne auch. Schon Neugeborene betasten ihren Körper, besonders Gesicht und Mund, bald schon verfolgen sie Gegenstände mit den Augen. Babys und Kleinkinder ergreifen Objekte und nehmen sie in den Mund, sie beginnen die Dinge zu zerlegen und mit ihnen zu experimentieren, sie spielen und sind kreativ. Neugierig probieren sie Grenzen aus und stoßen auf Verbote, missachten sie, werden zurechtgewiesen, versuchen es bei nächster Gelegenheit wieder.  Alles, was verboten ist, scheint die Neugier ganz besonders zu reizen. Das ist ein so zentrales Merkmal der menschlichen Natur, dass sich sogar der Schöpfungsmythos der Bibel damit befasst. 

Gott hat Adam und Eva bekanntlich verboten, vom Baum der Erkenntnis zu essen – aber ohne Erfolg. 

ZITATOR:

„Da sprach die Schlange zum Weibe: Ihr werdet keineswegs des Todes sterben; sondern Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. 

Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre, weil er klug machte; und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch, und er aß.“

[2 O-TON PROFESSOR SPEER:

Sein wollen wie Gott, das heißt: die Versuchung, der wir ja auch heute unterliegen, alles wissen zu wollen und auch die Normen von Gut und Böse setzen zu wollen. Zu wissen, was gut und was böse ist. Dann die Frage, woher kommt das Böse in die Welt. Die Frage, woher das Böse in die Welt kommt, können Sie, denke ich, argumentativ,  logisch-deduktiv nicht beantworten. Alle Kulturen haben solche Woher-kommt das Böse-Geschichten.]

ERZÄHLERIN:

Ein Mythos erklärt nicht, er erzählt. Die Schlange, das Prinzip der Verführung, ist einfach da, keiner weiß warum. Und Eva sollte ihre Neugier wohl zügeln, es gelingt ihr aber nicht. Der Mensch  kann seiner Neugier nicht entgehen. Und deswegen sind die Pforten des Paradieses jetzt verschlossen. Stattdessen gibt es Menschengeschlecht und Menschengeschichte, Sexualität und Tod und all die Rätsel und Risiken der Existenz, die sich aus diesen Grunderfahrungen speisen. Es gibt die menschliche Kultur, die diese Rätsel zu entschlüsseln oder in Bildern und in Mythen zu verhandeln sucht. Und die selbst, wie Gott im Paradies, Verbote und Tabus errichtet. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. 

Die Neigung zum Tabu wurzelt tief in der menschlichen Natur, sagen die Anthropologen. 

3 O-TON PROFESSOR SPEER: 

Tabus liegen tiefer, als das was wir regeln, und sie sind elementar für den Zusammenhalt von Gesellschaften. Sie sind sozusagen das Set von Werten und normativen Regelungen, das nicht in Frage gestellt wird in einer Gesellschaft, das gewissermaßen eine Grenze definiert, die wir nicht überschreiten, ohne den Zusammenhang dieser Gemeinschaft und dieser Gesellschaft in Frage zu stellen. 

ERZÄHLERIN:

Gesellschaften geben sich Spielregeln. Wer sich an sie hält, ist Teil der Gemeinschaft und lebt komfortabler. Trotzdem strebt die menschliche Neugier immer wieder darüber hinaus. Richtet sich auf das Dunkle, das Grausame, die Ausschweifung, den Überfluss.  Die Neugier hält uns in Kontakt zu dem, was wir aus unserer gepflegten Normalität verdrängen. Im Märchen von Blaubart, entstanden im 17. Jahrhundert, gibt es eine verbotene Kammer, hinter der das geballte Grauen lauert.

ZITATOR:

„Die Versuchung war zu groß, sie konnte nicht widerstehen – und schon hielt sie das kleine Schlüsselchen in der Hand, und schon hatte sie, obwohl zitternd, die Türe geöffnet.

Zuerst sah sie nichts, gar nichts, weil die Fenster geschlossen waren; nach einigen Minuten sah sie, dass der Boden mit geronnenem Blut bedeckt war, und dass sich darin mehrere an die Wand gehängte tote Frauen spiegelten. Es waren die Frauen, die Blaubart früher geheiratet und die er alle, eine nach der andern, abgeschlachtet hatte.“ 

ERZÄHLERIN:

Blaubart ist ein gewaltiger Ritter und unermesslich reich. Er hat einen blauen Bart, und alle fürchten sich vor ihn. Seine Frau hat ihn geheiratet, weil sie neugierig ist auf ein Leben im Luxus, weil ihr ein Durchschnittsleben nicht genügt. Und vielleicht ist sie auch fasziniert von Blaubarts dunkler Erotik. Ihr Mann gibt ihr den Schlüssel zu einer geheimen Kammer und verbietet ihr bei Todesstrafe, sie zu öffnen. Sie tut es natürlich trotzdem und entdeckt sein Geheimnis: Blaubart lebt nicht, um zu lieben, sondern um zu töten. Er will jetzt auch seine letzte Frau umbringen, aber ihre Brüder eilen herbei, um Blaubart zu töten und die Schwester zu retten. Und dann wird das Leben besser als je zuvor.

ZITATOR:

„Blaubart hatte keine Anverwandten, und so fiel die ganze Erbschaft seiner Frau zu. Einen Teil ihres ungeheuren Vermögens [gab sie ihrer Schwester Anna und verheiratete sie mit einem trefflichen jungen Mann, der sie seit langem liebte. Einen anderen Teil] überließ sie ihren Brüdern, die als Soldaten das sehr wohl brauchen konnten, und den Rest brachte sie einem soliden Manne zu, an dessen Seite sie im Glücke die schweren Stunden ihrer kurzen Ehe mit Blaubart vergaß.“

ERZÄHLERIN:

Neugier kann sich lohnen. Der Ausflug der Frau in das Reich des Bösen hat zur Folge, dass eine tödliche Gefahr beseitigt wird und neuer Reichtum auf die Gemeinschaft niederregnet. Neugier überschreitet, erfrischt, bereichert die Normalität, doch es ist immer ein Risiko dabei. In den Bereichen jenseits des Normalen ist es sehr gefährlich. Hätte die Frau ihre Brüder nicht gehabt, wäre sie gestorben.  Echte Bindung zwischen Menschen bannt das Böse. Normalität bannt das Böse. Die Gesellschaft hat guten Grund, sie zu verteidigen. Und trotzdem muss sie Neues zulassen, wenn sie nicht erstarren will. Trotzdem darf sie die Neugier nicht ersticken, muss sie die Risiken eingehen, die mit ihr einhergehen.

4 O-TON PROFESSOR SPEER

 Bei allen Innovationsschüben, die Gesellschaften zu verkraften haben, die wurden auch als Infragestellungen von Bestehenden, von Geregeltem, von Konventionen angesehen. Das gilt übrigens für uns persönlich auch. Das ist eine ganz einfache Geschichte. Wenn ich irgendwo neu hinkomme: Manche Leute lieben das, und deswegen suchen sie ständig Neuigkeiten. Andere wiederum fürchten das Auflösen von Routinen. Das ist also ein Wechselspiel. 

ERZÄHLERIN:

Riskant ist nicht nur die Neugier auf die dunklen Seiten der Existenz, riskant ist auch die Eroberung neuer Wissensgebiete. Auch der Wissensdurst hat etwas Ausschweifendes, und jede Gesellschaft hat Institutionen, die die Produktion und die Vermittlung des Wissens regeln und kanalisieren. Die Frage nach den Grenzen des Wissens stellt sich immer wieder. Neues Wissen stellt die Identität des Einzelnen ebenso in Frage wie die Identität der Gesellschaft. 

Doch die Dynamik der Neugier hält sich nicht an Grenzen. Sie ist ein Begehren, das tief im Menschen wurzelt, zum Kern des Lebensvollzugs gehört. Ohne Neues kann der Mensch nicht leben.

5 O-TON SPEER:

Denkverbote haben nie sehr erfolgreich gewirkt, der Mensch  bricht immer zu den Ufern auf,  zu denen er aufbrechen möchte. Die Fragen, die einmal gestellt sind, lassen sich nicht wieder rückholen. Man muss im Nachhinein dann darüber nachdenken, wie man mit den Konsequenzen solcher Entdeckungen umgeht. 

ERZÄHLERIN: 

Oder vorher. Denkbar wäre auch, vorher zu fragen, ob der angestrebte Zuwachs an Wissen zu einem sinnvollen Ziel führt.  Der Wissensdrang kann gute oder böse Ziele haben, und er kann auch Konsequenzen zeitigen, mit denen niemand gerechnet hat. 

Der Kirchenvater Thomas von Aquin schreibt im 13. Jahrhundert ...

ZITATOR:

„ … dass die Erkenntnis der Wahrheit an sich etwas Gutes ist. Dennoch wird dadurch nicht ausgeschlossen, dass jemand die Erkenntnis der Wahrheit zum Bösen missbrauchen oder auch in ungeordneter Weise Wahrheitserkenntnis suchen kann. Es muss nämlich auch das Streben nach dem Guten der verbindlichen Ordnung unterworfen sein.“

ERZÄHLERIN:

Wie die verbindliche Ordnung aussehen soll, das ist in einer säkularen Gesellschaft schwieriger zu verhandeln als als im Mittelalter. Thomas von Aquin lebt und lehrt unter dem Dach der Kirche, die die Leitlinien vorgibt – aber das  heißt nicht, dass deswegen alles klar wäre.  Auch das Mittelalter hat seit dem 12. Jahrhundert einen ungeheuren Zuwachs an Wissen zu bewältigen, und neu gegründete Universitäten machen den Klöstern als altehrwürdigen Produktionsstätten des Wissens Konkurrenz. Nicht umsonst entwickelt Thomas von Aquin eine Theologie, die Wissenschaft und Vernunft integriert. Die vielfältigen geistigen, religiösen und politischen Konflikte des ausgehenden Mittelalters spiegeln sich in Umberto Ecos Weltbestseller „Der Name der Rose“.  Im Mittelpunkt steht eine italiensche Abtei, die sich heftig bemüht,  den modernen Wissensdrang ihrer Zeit an sich abprallen zu lassen:

ZITATOR:

„Denn nicht alle Wahrheiten sind für alle Ohren bestimmt, nicht alle Lügen sind sofort als solche erkennbar für eine fromme Seele, und schließlich sollen die Mönche im Skriptorium eine genau definierte Arbeit tun,  wozu sie bestimmte Bücher lesen müssen – 

die anderen gehen sie nichts an, und sie sollen nicht jedem Anflug von Neugier nachgeben, der sie plötzlich packen mag, sei es aus Schwäche des Geistes oder aus Hochmut oder aufgrund einer teuflischen Einflüsterung.“

ERZÄHLERIN:

Die Abtei verfügt über eine Bibliothek mit unermesslichen Schätzen. Und der Zugang zu ihnen ist nur wenigen Eingeweihten gestattet. Das Verbot steigert die Begehrlichkeit der  Mönche ins Unermessliche. Die Bibliothek scheint ihnen als „himmlisches Jerusalem und  verborgenes Reich an der Grenze zwischen Terra incognita und heidnischer Unterwelt“; und sie riskieren ihr Leben, um dieses Reich zu betreten.

ZITATOR:

„Warum sollten sie nicht den Tod riskieren, um ein Verlangen ihres wissbegierigen Geistes zu stillen, warum nicht schließlich auch töten, um zu verhindern, dass jemand sich eines ihrer kostbaren Geheimnisse bemächtigte?“

ERZÄHLERIN:

Tödliche Konsequenzen hat vor allem das Lesen eines bestimmten Buches. Es stammt von Aristoteles, und da steht etwas drin über das Lachen Gottes. Ein lachender Gott? Unvorstellbar für einen Christenmenschen. Worüber lacht Gott, dieser Gott der Heiden? Wer es wissen will, büßt seine Neugier mit dem Leben. Denn der Wächter der Bibliothek hat die Seiten des Buches vergiftet. Aristoteles, der antike Philosoph mit seiner ausgeprägten Neugier auf die Erfahrungswelt, auf Kunst und Wissenschaft, soll unter Verschluss bleiben und sein lachender Gott erst recht. Dabei wird Aristoteles seit dem hohen Mittelalter intensiv übersetzt und gelesen, und seine Philosophie prägt auch die neuen Universitäten. Nur, die Abtei hängt an der alten Welt. An einer Welt, die den Glauben höher schätzt als weltliches Wissen.

6 O-TON SPEER:

Der Aristoteles war die Begegnung der damaligen Kultur mit einer paganen antiken Philosophie. Der Platonismus war ja über jahrhundertelang christianisiert worden. Und das war eine gigantische Herausforderung. Und da gab es auch Spannungen, da gab es auch Diskussionen, so wie es immer Diskussionen gibt, wenn etwas Neues kommt.

ERZÄHLERIN:

William von Baskerville, der ins Kloster kommt, um die Morde aufzuklären, ist ein Kind der neuen Zeit: wissbegierig und aufgeschlossen für die Wissenschaft, ein Aristoteliker par excellence.  Umberto Eco zeichnet ein realistisches, vielfältiges  Mittelalterbild, findet Professor Speer. Das Bild einer bewegten Epoche.

7 O-TON PROF. ANDREAS SPEER:

Es ist eine ungeheuer dynamische Zeit, in der eben all das passiert, was wir als die Wurzeln der Moderne begreifen. Die Gründung der Universitäten, die Entdeckung der Wissenschaft. Das ist alles das sogenannte Mittelalter. [Das Mittelalter ist interkulturell. Eine Zeit, in der Kulturen auf Augenhöhe miteinander kommunizieren und nicht hegemonial aus der Perspektive der westlich-lateinischen Welt erzählt wird, wie Wissenschaft oder Wissen geht. Das muss man erst mal deutlich sagen.] Insofern ist das eine der übelsten Narrationen, die bis in unsere Alltagssprache hinein greift, wo man alles, was man für rückständig oder gewalttätig bezeichnet, als mittelalterlich bezeichnet. 

ERZÄHLERIN: 

Doch  zu Beginn der Neuzeit verliert die Kirche immer mehr die Fähigkeit, Meinungsvielfalt zu integrieren. Reformation und Glaubenskriege zerstören die ursprüngliche Einheit. Die Erfindung des Buchdrucks macht das Wissen zugänglicher, immer mehr Menschen reden mit und reden kontrovers.  Die Kirche verteidigt ihre Machtposition mit den Mitteln der Inquisition – vergeblich.

8 O-TON PROFESSOR SPEER:

Die Summe des Wissens wird quantitativ immer größer. Allein schon die Quantität des Wissens, die Ausdifferenzierung des Wissens führt dazu, dass nicht mehr alles von einer Institution verwaltet und gedeutet werden kann. Und dass sich die Gesellschaften ausdifferenzieren.

ERZÄHLERIN:

Die Bereitschaft, Grenzen des Wissens zu akzeptieren, sinkt. [Goethe lässt seinen Magister Faust, eine Figur des 16. Jahrhunderts, einen Bund mit dem Teufel eingehen, um endlich alles, alles wissen zu können.

ZITATOR MEPHISTOLES:

Er ist sich seiner Torheit halb bewusst;

Vom Himmel fordert er die schönsten Sterne

und von der Erde jede höchste Lust,

Und alle Näh und alle Ferne

Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust.“

ERZÄHLERIN:

Faust wird am Ende erlöst, aber bis es so weit ist, geht er durch Abgründe. Die Gier nach Wissen kann teuflische Folgen haben.]  Der Philosoph und Essayist Michel de Montaigne erhebt im 16. Jahrhundert, am Ende der Renaissance, seine warnende Stimme:

ZITATORL

„Gleichwie bei allem Essen öfters weiter nichts, als die Lust ist, und gleichwie nicht alles wohlschmeckende auch nahrhaft und gesund ist: eben so ist das, was unser Gemüth aus der Wissenschaft zieht, zwar allezeit sehr angenehm, aber nicht allezeit zur Nahrung bequem und heilsam.“

ERZÄHLERIN:

Der Siegeszug der empirischen Wissenschaft im 17. Jahrhundert ist  aber nicht aufzuhalten. Sie setzt auf neue Methoden: Beobachtung und Experiment. [Menschen fragen nach sich selbst nicht mehr hauptsächlich im Verhältnis zu Gott, sondern im Verhältnis zur Natur. Das Prinzip Zweifel ist stärker als der Glaube. Tiere werden massenhaft auf der Sezierbank fixiert und aufgeschnitten, damit man sieht, wie das Leben funktioniert.] Im 18. und 19. Jahrhundert dynamisiert sich im Zuge der Industrialisierung der Siegeszug von Naturwissenschaft und Technik. Man setzt auf das Machbare und  hofft darauf, dass es der Menschheit schon zum Wohl gereichen wird. 

Die Dichter warnen, [und sie erzählen Geschichten, die eine bemerkenswerte Lebendigkeit entwickeln – weil ihre Botschaft nicht veraltet. Mary Shelleys Frankenstein will den Tod überwinden und erweckt in seinen wissenschaftlichen Experimenten ein Monster zum Leben.] In Dr. Jekyll und Mr. Hyde, einer Novelle von Robert Louis Stevenson, erfindet Dr. Jekyll im Labor ein Pulver, das es ihm ermöglicht, sich in zwei Teile zu spalten: in einen guten und in einen bösen. Das abgespaltene Böse bekommt schnell die Oberhand. Sein schlechtes Gewissen treibt  Dr. Jekyll in den Selbstmord ..

ZITATOR:

„… weil ich zu der Überzeugung gelangt bin, dass das Schicksal und die Bürde des Lebens für immer auf den Schultern des Menschen lasten; wenn der Versuch gemacht wird, sie abzuschütteln, dann kehren sie nur mit neuem fürchterlichen  Druck zu ihm zurück.“

ERZÄHLERIN:

Menschen haben in der Geschichte immer nur eine begrenzte Fähigkeit an den Tag gelegt, mit den Ergebnissen ihres Wissensdrangs umzugehen. Die Frage nach den Grenzen des Wissens ist also nicht überflüssig geworden. 

Die politischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zeugen davon, dass der säkulare Wissensdrang auch in den Abgrund führen kann. Die moderne Wissenschaft mit ihrer Hochschätzung von Objektivität und Unpersönlichkeit hat Massenvernichtungssysteme nicht nur nicht verhindert, sondern sogar ermöglicht. Der Atomphysiker Robert Oppenheimer, der die ersten Nuklearwaffen entwickelte, tat dies im Kampf gegen die Hitler-Barbarei, also in guter Absicht. Dennoch sagt er,  erschüttert vom Massensterben in Hiroshima und Nagasaki, in einer Rede nach dem Krieg:

ZITATOR:

„In einem elementaren Sinn … haben die Physiker die Sünde kennengelernt, und dies ist eine Erkenntnis, die sie nicht verlieren können.“

ERZÄHLERIN:

Heute sind es vor allem die Risiken der Genforschung, die  die Gesellschaft beschäftigen. Sollte man von diesem Baum der Erkenntnis wirklich essen? Wissen wir genug über die langfristigen Auswirkungen manipulierter Gene und ihre Wechselwirkungen mit Umwelt, Verhalten und Evolution? Noch besteht eine gewisse Scheu vor so tiefgreifenden Eingriffen in die menschliche Natur, und der Gesetzgeber setzt Grenzen.

9 O-TON PROF. SPEER:

Diese Grenzen sind in jeder Gesellschaft anders, wie wir wissen. Deutschland hat eine der schärfsten Grenzen. Andere Länder haben dort weitere Grenzen. Das sind Fragen, die von den übergeordneten gesellschaftlichen Instanzen geregelt werden. 

ERZÄHLERIN:

Ist die Wissenschaft selbstkritischer geworden? Oder drückt die Abhängigkeit von Fördermitteln aus der Wirtschaft inzwischen viel zu viel Forschergeist in Richtung Verwertbarkeit und Profit? Lassen die Bildungssysteme genügend Spielraum für neugieriges Fragen und Suchen, das sich nicht nur auf einen sicheren Arbeitsplatz richtet? Was das betrifft, sieht Professor Speer die Talsohle bereits durchschritten.  

10 O-TON SPEER:

Wenn ich mir die letzten Jahre anschaue, neige ich eher zum Optimismus. Wir hatten ja um die Jahrtausendwende eine sehr starke Tendenz, sozusagen der Operationalisierung und Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Inklusive der Bildung. Aber davon schwimmen wir uns langsam wieder etwas frei. Das heißt, an den Universitäten gab es und gibt es einen schleichenden Widerstand dagegen, sich nur durch diese Brille betrachten zu lassen. [Die Studiengebühren, ganz klar ausgedacht weniger zur Finanzierung als zur Implementierung eines Modells von Servicenehmern und Servicegebern, die sind abgeschafft, die  sind auch aus ideologischen Gründen abgeschafft, das finde ich ganz wunderbar.] Und es gibt, denke ich, genügend Freiräume an den Universitäten und im kulturellen Leben, wo sich Menschen nicht auf ein Kosten-Nutzen-Denken festlegen lassen.

ERZÄHLERIN:

Es reicht nicht zu funktionieren. Menschen brauchen Zeit, um Wissen zu ordnen, zu interpretieren, Wertvorstellungen zu entwickeln, sich geistiger Traditionen zu vergewissern und eigene Zukunftshoffnungen in Mitsprache und politisches Handeln umzusetzen.  Kurz: um ihrer Neugier eine menschliche Richtung zu geben.  



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 March 19, 2024  22m