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Essbares am Wegesrand - Vom Wildkraut bis zum Kaktus


Löwenzahn, Holunderbeeren, Aloe Vera: Wild wachsende Pflanzen sind oft sehr robust. Denn sie müssen sich in der Natur immer wieder behaupten. Das tun sie zum Beispiel mithilfe von Bitterstoffen. Von Maike Brzoska

Credits
Autorin dieser Folge: Maike Brzoska
Regie: Anja Scheifinger
Es sprach: Katja Schild
Technik: Simon Lobenhofer
Redaktion: Iska Schreglmann

Im Interview:
Manuel Larbig, Wildkräuter-Guide, Buchautor
Dr. Maik Behrens, Geschmacksforscher am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München
Dr. Katja Witzel, Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau Großbeeren
Dr. Franziska Hanschen, Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau, Großbeeren

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

01 ATMO (Wald, Schritte)

drüber lesen:

SPRECHERIN

Unterwegs in einem Waldstück nahe der Kleinstadt Eberswalde in Brandenburg. Es geht einen kleinen Weg entlang, ein paar Schritte nur – und schon hat der Biologe Manuel Larbig die erste essbare Pflanze entdeckt.

02 O-TON (Larbig)

Ja, ich habe hier am Wegesrand direkt schon was gesehen, was Interessantes. Die Echte Nelkenwurz. Ich grab die jetzt einmal aus, weil da ist nämlich vor allem die Wurzel interessant.

Musik Under the stairs  

SPRECHERIN

Er hockt sich neben die kleine Pflanze und gräbt sie mit den Händen aus. Zum Vorschein kommt eine gelbliche Wurzel. Die bricht er in der Mitte durch.

M weg

03 O-TON (Larbig)

Die Wurzel ist besonders interessant, also der Wurzelstock besser gesagt. Er hat hier nämlich so einen violetten Kern in der Mitte. Und er riecht einerseits nach Erde, aber auch nach Nelke. Was da so nach Nelke riecht, sind die Nelkenöle, und die sind zusammen mit den Gerbstoffen leicht antibiotisch und schmerzstillend. Und diese Kombination macht es zu einem sehr guten Kraut gegen Halsschmerzen. Da kann man sich so einen Sud draus kochen und damit gurgeln. Und das funktioniert wirklich sehr, sehr gut bei Halsschmerzen. Man kann damit auch würzen, und auch mit backen.

Musik Under the stairs 

SPRECHERIN

Auch die Blätter der Echten Nelkenwurz sind essbar. Man kann sie Salaten beimischen oder klein gehackt in Kräuterquark verwenden. 

Manuel Larbig arbeitet als Naturführer. In Workshops zeigt er den Teilnehmenden, welche essbaren Pflanzen sie in Wäldern oder Parks finden können. Zu seinen Kursen kommen sehr unterschiedliche Menschen.

04 O-TON (Larbig)

Wirklich von jung bis alt. Leute, die sich privat dafür interessieren, die sich einfach mehr aus der Natur ernähren möchten und sich so teilweise selbst versorgen wollen. Leute, die es beruflich gerne nutzen möchten, also Köche, Köchinnen, Pädagoginnen, Pädagogen. 

SPRECHERIN

Es sei ein Trend der Großstädte, sagt er. Die Kurse seines Unternehmens „Waldsamkeit“ finden in Berlin, Hamburg und einigen NRW-Städten statt.

05 O-TON (Larbig)

Also auf dem Land habe ich das noch nicht so beobachten können. Ist schon ein Thema der Großstädterinnen und Großstädter, was eben auch mit dem Wandel hin zu mehr Nachhaltigkeit zu tun hat.

SPRECHERIN

Nachhaltigkeit spielt eine große Rolle, aber auch Unabhängigkeit. 

06 O-TON (Larbig)

Wildpflanzen zu essen, sie zu verwenden, aromatische Öle draus zu machen, sie in die Hausapotheke mit zu integrieren, einfach so ein bisschen selbständiger zu werden und nicht zu 100 Prozent abhängig von den Supermärkten und dem Konsum, sondern sich teilweise Dinge selber machen, das finde ich spannend und finden auch viele Teilnehmenden der Kurse spannend. 

Musik Under the stairs 

SPRECHERIN

Lange suchen muss Manuel Larbig auf seinen Wanderungen nicht. Auch an diesem Tag dauert es nicht lange. Nur ein paar Meter weiter – und er wird schon wieder fündig. 

07 O-TON (Larbig)

Das ist die dreinervige Nabelmiere, dreinervig, weil sie eben hier so drei Blattnerven hat, die hier so abgehen, eins, zwei, drei, deswegen heißt sie so. Ne relativ zarte Pflanze mit kleinen Blättern. Und die blüht ab Frühling weiß, dann hat die kleine schöne Sternblüten. 

SPRECHERIN

Die Nabelmiere sei eine tolle Salatpflanze, ebenso wie die Vogelmiere, eine nahe Verwandte der Nabelmiere. Sie gehört zu seinen Favoriten.

08 O-TON (Larbig)

Also Vogelmiere finde ich schon sehr toll, die findet man sehr oft. Ist ein ganz tolles Salatkraut, weil es eben sehr mild schmeckt, relativ zart ist, man auch in größeren Mengen sammeln kann, ist so ein bisschen wie Feldsalat. Schmeckt mir sehr gut.

SPRECHERIN

Vogelmiere, Brennnessel und Echte Nelkenwurz kann man praktischerweise fast das ganze Jahr hindurch ernten. Im Frühjahr sind die Blätter noch sehr zart – ideal für Salate. Im Sommer kommen Früchte und Beeren hinzu – Manuel Larbig sammelt besonders gerne Heidelbeeren. Und im Herbst dann die ganzen Nüsse und Pilze. 

09 O-TON (Larbig)

Ich bin nicht so gut mit Pilzen, ich habe nur so vier, fünf Standardarten, die ich sammele, also Austernseitlinge sammele ich schon ganz gerne, oder Milchlinge sind zum Teil auch sehr lecker, Steinpilze find ich auch toll. Ich bin nicht so der Maronen-Freund, die werden mir oft zu matschig in der Pfanne, ich mag eher so feste Speisepilze. 

SPRECHERIN

Wobei das schon mehr Pilzarten sind als die meisten Supermärkte im Angebot haben. Auch geschmacklich sind wildwachsende Pilze – und Wildpflanzen generell – sehr vielseitig. Vor allem Bitternoten gibt es reichlich. Zum Beispiel im Löwenzahn, gut erkennbar an den gezahnten, länglichen Blättern. 

10 O-TON (Larbig)

Das ist eine Löwenzahnart, also den Löwenzahn gibt es gar nicht, es gibt ganz viele Arten und Unterarten. Das Gute ist, dass man die aber alle verwenden kann. 

SPRECHERIN

Und zwar von der Wurzel über die Blätter bis zu den gelben Blüten. 

11 O-TON (Larbig)

Löwenzahn schmeckt ziemlich bitter, hat viele Bitterstoffe, ist in Maßen auch sehr gesund. Können radikalfangend wirken, tumorhemmend, magensaft-anregend, die Verdauung unterstützend, und auch so ein bisschen Heißhunger-unterdrückend. Unsere Vorfahren haben ja viel, viel bitterer gegessen als wir heutzutage. Wurde alles rausgezüchtet in den letzten hundert Jahren. 

M bioreactor 

SPRECHERIN

Unsere Nutzpflanzen, also Obst und Gemüse, schmecken insgesamt eher mild und süß im Vergleich zu ihren wilden Vorfahren. Die Früchte von wilden Apfelbäumen beispielsweise sind sehr viel bitterer und saurer als unsere Supermarkt-Äpfel. Und sie sind auch sehr viel kleiner, oft nur so groß wie eine Rosine. Aber die wilden Sorten enthalten oft ein Vielfaches an wertvollen Inhaltsstoffen im Vergleich zu unseren kultivierten Apfelsorten. Das hat eine Studie des US-Landwirtschaftsministeriums aus dem Jahre 2003 gezeigt. Unsere Supermarktäpfel gehen übrigens alle zurück auf eine einzige wilde Apfelsorte, die in Kasachstan wächst. Sie hat für eine Wildpflanze ungewöhnlich große und milde Äpfel. Durch Veredelung wurden aus diesem Wildapfel nach und nach unsere heutigen Sorten wie Elstar oder Pink Lady gezüchtet. 

In ähnlicher Weise sind fast alle unserer Obst- und Gemüsesorten kultiviert und verändert worden. Auch weil wir milde und süße Nahrungsmittel in der Regel bevorzugen und Bitteres erst mal meiden.

12 O-TON (Behrens)

Also tatsächlich gehören Bitterstoffe zu den Geschmacksstoffen, die wir eher ablehnen. 

SPRECHERIN

Sagt der Biologe und Geschmacksforscher Dr. Maik Behrens. Er ist stellvertretender Sektionsleiter am Leibniz-Institut für Lebensmittel-Systembiologie an der Technischen Universität München. 

Insgesamt, so schätzen Forschende, gibt es mehr als 1000 verschiedene Stoffe, die wir als bitter wahrnehmen. 

M string therapy 

Dafür haben wir bestimmte Rezeptoren auf der Zunge – wobei es für Bitterstoffe sehr viel mehr Rezeptoren gibt als etwa für süße oder saure Stoffe. Das hat seinen Grund, denn Bitterstoffe können giftig sein. Dass wir sie so gut wahrnehmen können, war evolutionär betrachtet also sinnvoll. Denn in grauer Vorzeit, als Homo Sapiens noch als Jäger und Sammlerin durch die Natur streifte, half der Geschmacks-Sinn dabei, Essbares von Nicht-Essbarem zu unterscheiden. Denn jede Geschmacksrichtung zeigt etwas Bestimmtes an. 

13 O-TON (Behrens)

Also der Süß-Geschmack genauso wie der Umami-Geschmack – da sollte ich vielleicht erklären, das ist der Geschmack, den wir empfinden, wenn wir Glutamin schmecken, das ist so ein würziger, angenehmer Geschmack – diese beiden Geschmacksrichtungen zeigen uns an, dass Energie in der Nahrung vorhanden ist in Form von Kohlenhydraten oder Eiweißmolekülen.

SPRECHERIN

Muttermilch etwa schmeckt leicht süßlich und enthält auch Glutaminsäure, hat also auch eine Umami-Komponente. 

14 O-TON (Behrens)

Dann haben wir den Salzgeschmack, der ist in niedrigen Konzentrationen durchaus angenehm für uns und in höheren Konzentrationen eher unangenehm. Und dieses Gleichgewicht ist eben wichtig, um unseren Elektrolythaushalt aufrecht zu erhalten. 

SPRECHERIN

Der Elektrolythaushalt reguliert den Wasserhaushalt unseres Körpers. 

15 O-TON (Behrens)

Sauer weist in der Regel darauf hin, dass Früchte unreif sind oder auch bakteriell verdorben sein können, das ist also eher ein ablehnender Geschmack.

SPRECHERIN

Ähnlich wie bitter. 

16 O-TON (Behrens)

Der Bitter-Sinn ist ein Warn-Sinn, der soll unsere Aufmerksamkeit darauf lenken, dass unter Umständen gesundheitsschädliche oder gar giftige Substanzen in der Nahrung sind. Evolutionär war das von großer Bedeutung, deswegen ist das bei Kindern auch angeboren, die Abneigung gegen bitter. 

SPRECHERIN

Erst mit der Zeit lernen die meisten Menschen, Bitteres zu tolerieren.

17 O-TON (Behrens)

Was passiert, ist, dass man im Laufe des Lebens Erfahrungen macht, das können positive oder negative Erfahrungen sein. Und je nachdem was wir dann für Erfahrungen machen, erwerben wir dann eine Toleranz für Bitteres. 

SPRECHERIN

Oder sogar eine Vorliebe. 

M string therapy 

Koffein ist einer der vielen Bitterstoffe in Kaffee – und auf den möchten viele nicht verzichten, auch wenn der allererste Kaffee wahrscheinlich gar nicht geschmeckt hat. Auch Salat- oder Gemüsesorten wie Rucola, Radicchio oder Brokkoli mögen manche Menschen gerne, und zwar gerade wegen ihres bitteren Geschmacks. Man könnte sagen, sie haben im Laufe ihres Lebens gelernt: Ist zwar bitter, tut mir aber trotzdem gut – und schmeckt mir deshalb auch.

Mit den Bitterstoffen ist es also so eine Sache. Viele von ihnen sind sehr gesund, aber einige eben auch giftig. Wobei aber auch sauer oder sogar süß schmeckende Wildpflanzen giftig sein können. In der Natur gibt es nichts, was es nicht gibt. Deshalb schärft Manuel Larbig seinen Kursteilnehmenden ein: 

18 O-TON (Larbig)

Die wichtigste Regel von allen ist, wirklich nur Pflanzen verwenden, die man 100 Prozent kennt und bei denen man sich 100prozentig sicher ist, dass es auch die Pflanze ist. Es gibt auch bei uns in Deutschland tödlich giftige Wildpflanzen und es gibt auch Pflanzen, die krebserregend, leberschädigend wirken, wenn man sie dauerhaft zu sich nimmt, und das will man ja gerade nicht. Man will ja Wildpflanzen verwenden, um sich was Gutes zu tun.

SPRECHERIN

Und das können Bitterstoffe durchaus. Sie gehören zu den sogenannten sekundären Pflanzenstoffen, sagt die Biologin Dr. Katja Witzel vom Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau.

19 O-TON (Witzel)

Bei Pflanzen unterscheidet man primäre und sekundäre Pflanzenstoffe. Die primären Pflanzenstoffe sind Kohlenhydrate, Fette, Eiweiße. Die bildet die Pflanze, um ihren ganz normalen Energiebedarf zu decken. Und daneben bildet die Pflanze sogenannte sekundäre Inhaltsstoffe. Das heißt, Pflanzen haben in der Evolution Stoffe gebildet, die sie schützen vor diversen Sachen, weil sie ja sessil sind, also sie können nicht weglaufen. 

SPRECHERIN

Mit den Bitterstoffen schützen sich Pflanzen vor Tieren, die sie fressen wollen. Denn auch viele Tiere, zum Beispiel Insekten, haben eine Abneigung gegen Bitteres, sagt die Lebensmittelchemikerin Dr. Franziska Hanschen. Sie forscht ebenfalls am Leibniz-Institut für Gemüse- und Zierpflanzenbau.

20 O-TON (Hanschen)

Diese Bitterstoffe dienen der Pflanze als Fraßschutz. Dadurch dass die Pflanzenfresser diese bitteren Stoffe merken, werden sie entweder abgeschreckt und fressen das nicht weiter. Oder eben auch vergiftet im schlimmsten Fall. 

SPRECHERIN

Eine zweite große Gruppe sekundärer Pflanzenstoffe sind die roten Farbstoffe, die zum Beispiel Äpfel, Tomaten oder Salate rot leuchten lassen. Damit schützen sich Pflanzen vor zu starker Sonneneinstrahlung. 

21 O-TON (Hanschen)

Vergleichbar unseren Sonnenschutzmitteln, die machen genau das gleiche: aus dem Licht filtern sie gefährliche UV-Strahlung und machen sie unschädlich. Und genau das gleiche können einige sekundäre Pflanzenstoffe auch, also Flavonoide sind hier zu nennen oder auch Carotinoide. 

SPRECHERIN

Für uns Menschen bieten diese Farbstoffe ebenfalls eine Art Schutz. Denn die roten Pflanzenfarbstoffe wirken anti-oxidativ, das bedeutet, sie schützen unsere Zellen vor schädlichen Einflüssen und können so dazu beitragen, Krankheiten wie Krebs oder Herz-Kreislauferkrankungen vorzubeugen. 

22 O-TON (Witzel)

Viele antibakterielle und antivirale Inhaltsstoffe sind auch im Samen, um den Samen, den Keimling zu schützen, das sind so Strategien, die sich in der Evolution durchgesetzt haben.

M string therapy 

SPRECHERIN

In der Natur verbreiten sich diejenigen Pflanzen, die sich am besten schützen können. Gegen Fraßfeinde, zu viel Sonne, Bakterien oder Viren. Jede Pflanze hat dafür eigene Strategien. Zu ihrem Schutz bilden sie bestimmte Stoffe – und die sind für uns eben auch oft sehr gesund. 

23 O-TON (Witzel)

Viele Wildpflanzen kennt man ja auch aus der Naturheilkunde. Das kann Bärlauch sein, der im Frühjahr gesammelt wird, Schafgarbe, Kamille, die entzündungshemmend ist, also viele Wildpflanzen kennt man ja eben wegen ihrer Wirkung auf die Gesundheit, weil sie antibakteriell wirken, entzündungshemmend wirken, antiviral wirken, gut für die Verdauung sind.

SPRECHERIN

Ein Vergleich mit unseren Nutzpflanzen ist allerdings schwierig. Online kursieren viele Tabellen, die Wildpflanzen ein Vielfaches an Vitaminen, Mineralstoffen und sekundären Pflanzenstoffen gegenüber gezüchteten Pflanzen bescheinigen. Allerdings sind solche Vergleiche nicht sehr aussagekräftig. Zum einen sind die Studien größtenteils veraltet. Zum anderen hängen Vitamin- und Nährstoffgehalt einer Pflanze auch von Dingen wie Bodenzusammensetzung, Erntezeitpunkt und Lagerfähigkeit ab. Und noch aus einem anderen Grund hinkt der Vergleich zwischen Wild- und Nutzpflanze. Denn allein vom Essbarem am Wegesrand würde die Menschheit heute gar nicht mehr satt werden.  

24 O-TON (Witzel)

Wir brauchen Züchtungen, wir brauchen große Tomaten, um viele Menschen ernähren zu können, um diese auch günstig herstellen zu können, also auch eine Automatisierung in der Lebensmittelherstellung ist wichtig. 

SPRECHERIN

Beispiel wilde Möhre, das ist der wilde Vorfahr unserer Speise-Möhre. Die wilde Variante schmecke ähnlich, sagt Manuel Larbig.

25 O-TON (Larbig)

Vielleicht noch ein bisschen intensiver, ätherischer. 

SPRECHERIN

Allerdings ist die wilde Möhre um einiges kleiner als unsere gezüchteten Möhren. 

M bioreactor 

26 O-TON (Larbig)

Wenn man so eine wilde Möhre mal ausgräbt und sich da die Wurzel anguckt, da braucht man wirklich viel Geduld, um satt zu werden im Vergleich zu einer Speisemöhre. Weil die Wurzeln viel, viel kleiner sind und für einen Möhrensalat braucht man dann schon 200, 300 Pflanzen. 

SPRECHERIN

Die zu sammeln, dauert eine Weile. Manuel Larbig ernährt sich auf seinen mehrtätigen Wanderungen auch mal komplett aus der Natur – er weiß also, wovon er spricht. 

27 O-TON (Larbig)

Es ist möglich, sich eine Zeitlang aus der Natur zu ernähren, aber es ist auch sehr zeitaufwendig. Auf meinen Survival-Touren habe ich es auch regelmäßig mal gemacht. Und man braucht schon vier bis sechs Stunden für die Nahrungssuche jeden Tag. 

SPRECHERIN

Wenn er nicht gerade survival-mäßig unterwegs ist, nutzt er Wildpflanzen deshalb eher als Ergänzung zu den Lebensmitteln, die er im Supermarkt kauft. 

28 O-TON (Larbig)

Ich gehe schon normal einkaufen und kaufe mir Salat, aber ich würde sagen, so einmal im Monat gehe ich ganz bewusst raus und sammele, und ansonsten immer, wenn ich spazieren gehe, nehme ich was mit. 

SPRECHERIN

Historisch betrachtet waren große und gehaltvolle Obst- und Gemüse-Sorten für Züchter und Züchterinnen ein sehr wichtiges Ziel. Anders als heute, wo vor allem auf Geschmack und Gesundheit geachtet wird, ging es in erster Linie darum, die Menschen satt zu bekommen. Aber Ausnahmen bestätigen die Regel. Denn hin und wieder ging es auch um anderes. 

M Courtship Walk 

Die wilde Möhre zum Beispiel war ursprünglich violett. Durch natürliche Mutationen entstanden andere Farben, so dass vor gut 400 Jahren in Europa rote, gelbe, violette und weiße Möhren angebaut wurden – nicht aber orangefarbene. Die haben Züchter in den Niederlanden erst Mitte des 16. Jahrhunderts gezüchtet, indem sie eine gelbe und eine rote Möhre kreuzten. Sie taten das zu Ehren des Königshauses – die Farbe Orange steht sinnbildlich für das holländische Königshaus Oranien-Nassau. Die orangefarbene und ungewöhnlich große Möhre war ein Renner – und breitete sich innerhalb von 200 Jahren in der gesamten westlichen Welt aus. Erst in jüngerer Zeit gibt es in Supermärkten auch wieder gelbliche und violette Möhren zu kaufen. 

Die Geschichte der Möhre ist schon ein bisschen ungewöhnlich, aber Trends in der Züchtung gibt es auch heute noch. 

29 O-TON (Witzel)

Wir hatten ein großes Feldexperiment mit 300 Kohlsorten, international gesammelt, Züchtungen aus den 50er, 60er, 70er Jahren. Was wir da schon gesehen haben: die Pflanzen waren sehr heterogen, und das ist für den Anbauer ein Problem, wenn ein Kohl drei Mal so groß ist wie der andere, also ein Züchtungsziel ist, homogene Pflanzen zu haben.

SPRECHERIN

Damit sie auf dem Feld in regelmäßigen Abständen und gleich breiten Reihen wachsen und mithilfe von Traktoren geerntet werden können. 

30 O-TON (Witzel)

Dann haben wir auch gesehen, dass die sehr anfällig waren, also Resistenzzüchtung ist ein sehr wichtiges Züchtungsziel, gegenüber Mehltau, gegenüber Insekten. Und dann – was will der Konsument? Da ändern sich die Wünsche auch alle zehn Jahre. Wir haben viele Single-Haushalte, niemand braucht mehr einen Vier-Kilo-Kohlkopf. 

SPRECHERIN

Und ganz wichtig: Wie sieht das Obst und Gemüse, wie sieht der Kohlkopf aus?

31 O-TON (Hanschen)

Der muss schön aussehen. Wenn der nicht attraktiv ist oder nicht gerade ist oder der Apfel mit Schorf bedeckt ist, dann wird’s halt letztendlich nicht gekauft. 

SPRECHERIN

Deshalb liegen in unseren Supermärkten viele gleich große und wunderschön leuchtende Obst- und Gemüsesorten, aber in puncto Geschmack und Gesundheit haben diese Hochleistungssorten oft einiges eingebüßt. 

32 O-TON (Witzel)

Im Moment merkt man eben, dass diese guten Inhaltsstoffe, die auch für das menschliche Wohlbefinden eine große Rolle spielen, unterwegs verloren gegangen sind und versucht, die jetzt wieder einzukreuzen. 

SPRECHERIN

Geschmacklich tut sich ebenfalls einiges, auch weil die Ansprüche steigen.

 33 O-TON (Witzel)

Das kennt man bei den Erdbeeren, wo jetzt alle wieder Mieze Schindler haben wollen, eine kleine, nicht haltbare, krumpelige Erdbeere, die aber so tollen Geschmack hat, der mit den neuen Züchtungen nicht vergleichbar ist. Und so zieht sich das eigentlich bei vielen Gemüsearten auch durch. Deswegen gehen jetzt viele wieder zurück auf alte Sorten, um alte Sorten, die geschmacklich interessanter sind, wieder einzukreuzen in diese Hochleistungssorten. 

SPRECHERIN

Gerade bei Erdbeeren, aber auch bei Spargel, zeigt sich der Trend regional einzukaufen, besonders deutlich. Viele Menschen verzichten auf Erdbeeren aus Spanien oder Spargel aus Griechenland und warten lieber noch ein paar Wochen, bis es die regionalen Erzeugnisse zu kaufen gibt. Weil die einfach besser schmecken.

Gleichzeitig gibt es aber auch den gegenteiligen Trend. 

Musik Under the stairs 

Kakteen und Kaktusfrüchte aus Mittelamerika, Aloe Vera aus Nordafrika, Goji-Beeren aus China, Kurkuma aus Indien – sogenanntes Superfood aus allen Teilen der Welt gibt es bei uns zu kaufen, oft für viel Geld. Oft handelt es sich zwar um Wild- oder um wenig veränderte Pflanzen, die wirklich enorm gesund sind. Aber eben oft auch um den halben Globus gekarrt wurden oder unter schwierigen Bedingungen in unseren Breiten angebaut werden müssen. 

34 O-TON (Larbig)

Ist natürlich oft auch so ein Marketing-Ding, dass sich so exotische Sachen besser verkaufen lassen.

SPRECHERIN

Gleichzeitig leuchten Holunderbeeren und Kornelkirschen im Spätsommer überall in den Parks. Der Gundermann und das Gänseblümchen sprießen auf jeder Wiese. Ganz zu schweigen von Brennnesseln oder Giersch, die Gartenbesitzer und Hobbygärtnerinnen verzweifeln lassen, weil sie quasi unausrottbar sind. Beide Wildpflanzen sind übrigens enorm gesund. 

35 O-TON (Larbig)

Die Brennnessel, die ist extrem gesund, also ganz viele wertvolle Inhaltsstoffe. Kalium, Kalzium, Magnesium, viele Vitamine, kann man in Aufläufen, Pesto, Lasagne, alles Mögliche kann man aus der machen, auch Tee, mit Öl und Salz im Ofen als Chips, auch total lecker.

Musik Under the stairs 0´11´´unter: 

Sprecherin:

Echtes heimisches Superfood. Deshalb zum Schluss der Tipp: statt ärgern – einfach mal essen.



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 March 21, 2024  22m