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Wildnis als Kulturgut - Der Trend des Unberührten


Stets stand Wildnis im Gegensatz zu Kultur und Zivilisation: Kultur war dort, wo die Wildnis überwunden war. Das Wilde galt als chaotisch, gefährlich, bedrohlich. Heute hat Wildnis wieder Hochkonjunktur. Von Geseko von Lüpke (BR 2015)

Credits
Autor dieser Folge: Geseko von Lüpke
Regie: Irene Schuck
Es sprachen: Christian Baumann, Katja Amberger, Carsten Fabian
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHER

Zivilisation!: Straßen, Telefonmasten und vorbeiflitzende Autos, Werbeplakate und Radiogeplärre, Handyklingeln, Hochhäuser, Leitplanken. Planung und Kontrolle. Berge von Daten, die sich aus Medien und Computern im Sekundentakt über uns ergießen, schlagende Bässe aus Lautsprecheranlagen, das Röhren tief fliegender Passagier-Jets, das Jaulen einer Polizeisirene. Überall Geräusche, Worte, Zeichen und Symbole.

ATMO 2: (brechende Wellen, Urwald-Geräusche, Wolfgeheul, Nacht im Wald)

Musik Michael Riessler – Episode 2

SPRECHERIN

Wildnis!: Geräusche von ewig rollenden Wellenbergen, Wind in den Bäumen, Klänge der Nacht im Wald, das archaische Bellen des Rehbocks, der Ruf des Käuzchens. Der Geist nimmt in tiefen Zügen ein Orchester von Eindrücken, von Kräften und Systemen wahr und in sich auf: Sterben und Wiedergeburt rundherum, ein Versprechen von Überraschung, vom Einbruch des Unerwartetem. Empfindungen, die sich den Worten entziehen und eher mit musikalischen Metaphern zu begreifen sind: unhörbare Orchester, in denen alles irgendwie 'richtig' klingt. Töne, die in unserer Psyche widerklingen. 

Musik aus 

SPRECHERIN

Wir stehen der Natur gegenüber. Und sind selbst aus Natur gemacht. Das Verhältnis des Menschen zur Wildnis ist zutiefst ambivalent, von Widersprüchen durchzogen. Voller Romantik und Heiligkeit einerseits, geprägt von Angst und Furcht andererseits, verwoben mit allen Phasen der menschlichen Kulturgeschichte: 

Vom Jäger und Sammler, zum Ackerbauern und Hirten, Landnehmer und Kolonisatoren, bis zum modernen Menschen, der sehnsüchtig auf eine vergangene wilde Welt schaut und in den Ferien in die ‚letzten Paradiese‘ fliegt. Der inzwischen verstorbene Biologe, Ethiker und Philosoph Günther Altner hat diesen Zwiespalt so ausgedrückt:

ZUSPIELUNG    Wort  1             (101)

Der Mensch lebt in, mit und gegen die Natur und er ist selber auch Natur. Im Wissen auf diese vielfältigen Züge gibt es natürlich verschiedene Verhältnisse, die gestaltet werden können. Es gibt die Möglichkeit eines möglichen Einklangs, eines möglichen Miteinanderlaufens von natürlicher Regenerativität und menschlichen Nutzungsinteressen. Es gibt die Einstellung der Naturvergessenheit, wo wir aus der Kurzfristigkeit menschlicher Nutzungsinteressen der Natur zu viel zumuten. Das wäre also gegenüber dem symbiontischen System gewissermaßen das ausbeuterische System. Und dazwischen liegen natürlich noch sehr verschiedene andere Varianten.

Musik   Boscaglia  

SPRECHER

Wildnis hat Hochkonjunktur. Während die letzten Grünflächen versiegelt werden und Google Earth die verborgendsten Landschaften auf den heimischen Bildschirm zaubert, ist ‚die Wildnis‘ längst zur Ware geworden. Treckingläden bieten hoch technisierte Ausrüstung an, Sachbücher thematisieren ‚Wolfsfrauen‘ und ‚wilde Männer‘, Romane erzählen Geschichten auf den Spuren von Robinson und Winnetou. Und auf die letzten scheinbar unberührten Flecken zwischen Nord- und Südpol hat für die ganz Mutigen ein Wettlauf der Touristikunternehmen eingesetzt: Zahllose Urlaubsprospekte bieten Wildnistrips und Abenteuerreisen ‚in die letzten Paradiese‘ an.

SPRECHERIN 

Dabei gibt es diese ‚letzten Paradiese‘ eigentlich gar nicht mehr.

Musik aus

Nicht nur ist alles vermessen, sind alle Bodenschätze kartografiert, nahezu alle Kulturen, Pflanzen und Tiere entdeckt und benannt - das einstmals Unbekannte ist jedem verfügbar. 

‚Wildnis‘ als das ‚Unberührte‘, ‚Ursprüngliche‘ ist auch nur noch in unseren Köpfen existent. Seit das Pflanzenschutzmittel DDT auch im pazifischen Tahiti Spuren hinterlassen hat und der Gummiabrieb unser Autoreifen, erfasst von Winden, wie ein feiner schwarzer Schnee über Grönland herabrieselt und in Folge mitverantwortlich dafür ist, dass der Eisschild schmilzt, ist die Zivilisation und ihre Hinterlassenschaft überall präsent. Ursprüngliche Wildnis gibt es nicht mehr, sagt Sabine Hofmeister, Professorin für Umweltplanung an der Universität Lüneburg. Sie spricht von der ‚Zweiten Wildnis‘:

ZUSPIELUNG       Wort    2                   IIB010) 

Wir sind inzwischen soweit, dass wir das Klima verändert haben und damit quasi global Natur mitgestalten. Und wir haben Stoffe in die Natur entlassen, die auch an jedem Ort der Welt und in jedem Organismus wiederzufinden sind. Wir glauben, die Natur gebändigt und domestiziert zu haben und genau das Gegenteil passiert. In allem was wir tun, stellen wir zum einen das Produkt her, was wir herstellen wollen. Indem wir Zahnpasta produzieren, produzieren wir nicht nur Zahnpasta, sondern gleichzeitig Stoffe, die sich in Pinguinen einlagern. Oder wir verändern das Klima, indem wir Energie verbrauchen. Dieses Nebenprodukt wird zu etwas, was eben ganz ungebändigt uns wieder gegenübertritt. Aber jetzt nicht mehr als Wildnis der ersten Kategorie, sondern - ich habe es genannt – „die zweite Wildnis“, die Binnenwildnis, die längst drinnen ist, uns aber wie die erste erscheint. Und uns in Form von ökologischen Katastrophen gegenübertritt. Und diese Natur bildet eine Wildheit aus, die der ersten Kategorie in nichts nachsteht, die möglicherweise sogar an Schrecken sehr viel größer sein kann, weil sie eben so unverstanden ist.

Musik Bill Laswell – Into the Void

ATMO  3    (Donner, Starkregen, reißender Fluss)

SPRECHER

Es scheint tatsächlich so, als ob die moderne Zivilisation noch nicht verstanden hat, was sie tagtäglich erschafft. Als hätte sie vergessen, wie sie mit der Natur zusammenhängt. Als wären die kulturellen Schichten der Zivilisationsgeschichte noch nicht reflektiert. Als würde der Mensch, als angemaßter Beherrscher und Kontrolleur der wilden Natur, aus der er stammt, wie Goethes ‚Zauberlehrling‘, die Kräfte, die er rief, nicht wieder los.

Musik aus

Musik Argo‘s Voyage  

SPRECHERIN

Um das Phänomen ‚Wildnis‘ zu verstehen und neu zu interpretieren, muss weit in die Kulturgeschichte zurückgegriffen werden. Vielleicht bis in die Anfänge des Menschseins, wo unsere Vorfahren in kleinen Lichtungen einer endlosen wilden Natur lebten, die sie mal als beschenkende, mal als grausam strenge Mutter verehrten. Wo sie mit der Wildnis um ihre Lebensgrundlage kämpften, die selbst ihre Lebensgrundlage war. Da war Natur nichts Besonderes und ‚Wildnis‘ als Kategorie, nicht vorhanden, weil sie überall war. Da war die Erde wie ein Mythos, wie eine größere Wahrheit, in der der Mensch lebte wie der Fötus in der Plazenta. 

Musik aus

Der kanadische Medizinmann David Archie vom Stamm der Salish beschreibt die Sichtweise indigener Kulturen auf das ‚wilde Land‘:

ZUSPIELUNG    Wort    3      (1/14:40)

Earth is our mother. If earth gives us, everything we need ….   

ENGL. O-TON MIT OVERVOICE

Die Erde ist unsere Mutter. Und da sie uns alles gibt, was wir zum Leben brauchen – Nahrung und Wasser und Luft und ein Zuhause – geht es in allem darum, die Mutter zu respektieren. Wenn wir in die Schwitzhütte gehen, schlüpfen wir zurück in den Bauch von Mutter Erde, um Verbindung mit ihr und dem Schöpfer aufzunehmen. Alles geschieht seit dem Anfang der Zeit in dieser Verbundenheit: Jagen, Fischen, Nahrung sammeln. Mutter Erde hält all das für uns bereit – und sorgt für unser Wohlergehen sowohl physisch wie auch spirituell! …. physically and spiritually.

Musik Loss 

SPRECHER

Aufgabe der Kultur war es in den frühen menschlichen Gesellschaften also, mit Ritualen und Zeremonien die Verbundenheit mit dem größeren Ganzen zu pflegen und zu erneuern. Die Welt war wild und groß und unbeherrschbar und der Mensch ein Teil von ihr. Die Spaltung zwischen Mensch und Wildnis begann wohl mit den ersten festen Siedlungen vor 7.000 Jahren. Aus den ersten bäuerlichen Inseln in der primären Wildnis wurden über die Jahrtausende der Zivilisation feste Dörfer und Städte. Wildnis wurde nach und nach in Agrarland umgeformt, der Abschied von der ‚ersten Wildnis‘ begann vor 4.000 Jahren und zog sich bis ins Mittelalter.

Musik aus

Musik    Weg wart für Laute solo  

SPRECHERIN

Mit Burgen, Stadt- und Klostermauern grenzten sich menschliche Gemeinschaften von der zunehmend als Bedrohung empfundenen Wildnis ab. Hier wohnten die nichtsesshaften ‚wilden Menschen‘ der Märchen und Sagen, die Vogelfreien, deren Mut und Authentizität in Geschichten zwar besungen wurden, vor denen man sich aber schützen musste, wie vor der unberechenbaren Natur.

Musik  aus

Musik   Regina coelorum für Männerstimmen 

Kontrolle durch Kolonisation lautete die Devise der sich ausbreitenden Zivilisation. 

Die Kirche spielte dabei eine wichtige Rolle und schuf ein Modell der Landnahme und Zerstörung von Wildnis, dass später auch die Eroberung der III. Welt prägte, so der Religionswissenschaftler Michael v. Brück.

Musik  aus

ZUSPIELUNG      Wort    4       (3/12:12) 

Die Benediktiner sind ja diejenigen, die das ‚ora et labora’ haben und die dann in ihrer reformierten Gestalt als Zisterzienser im gesamten Mittelalter nicht nur die Missionierung, sondern auch die Kultivierung Europas vorangetrieben haben. Also das, was dort Waldwildnis war, urbanisiert haben, bzw. zunächst mal gerodet haben, Felder bestellt haben und die ganzen Weiten Mitteleuropas Richtung Osten eigentlich urbar gemacht haben. Da ist ein Umbruch, da ist ein anderes Verhältnis zur Wildnis da, als wir es in der Frühzeit des Christentums hatten. 

SPRECHER

In einem etwa 250 Jahre alten Lexikon der Frühaufklärung ist ‚Wildnis‘ als die Wohnstätte des Wildes definiert ... 

ZITATOR

„Wohlanständige Sittsamkeit kann dort keine Wohnung aufschlagen“

SPRECHER 

... Wildnis bezeichnet also das Amoralische, Gefahrvolle, Unbehauste, die Natur als Katastrophe, die es abzuwenden galt. Der bedrohlichen Wildnis stand die gefahrlose, heimische Kulturlandschaft gegenüber. Wildnis galt dem Klerus gar als sündig, als Wohnstätte des Teufels und wurde unter dem Schlagwort ‚opus contra naturam‘ dämonisiert – und weiter vernichtet. In der Aufklärung und beginnenden Industrialisierung entstehen anstelle der mitteleuropäischen Wälder kahle, gerodete Heidelandschaften. In der verwüsteten Landschaft wurden Parks und Gärten angelegt, Aufforstungsprogramme schufen die Grundlage für die heutigen Fichten und Kiefernwälder. Gezirkelte Gartenlandschaften unterstrichen den Anspruch absoluter Kontrolle.

SPRECHERIN

Das Bild, was ‚Wildnis‘ ist, veränderte sich über die Jahrhunderte also mehrfach. Aus einem Meer von Wildnis wurden kleine Inseln, die irgendwann zu Naturparks ernannt wurden. Aus einer tiefen Verbundenheit mit der unkontrollierbaren Welt verabschiedete sich die moderne Zivilisation: Die Spaltung zwischen Mensch und Natur, das Gefühl der Abtrennung vom Wilden wurde zur Basis der westlichen Kultur – die eben dort war, wo Wildnis überwunden, ausgegrenzt und erfolgreich besiegt worden war. Die Wildnis war das ‚Andere‘, das ‚Fremde‘, das ‚Triebhafte‘, das ‚Unfertige‘. Und das Ausgegrenzte sagt Rolf Haubl, Professor für Sozialpsychologie  in Frankfurt …:

ZUSPIELUNG    Wort   5         (IIA 086)

Dieses Ausgeschlossene oder Verdrängte erzeugt im Grunde genommen zwei gegenteilige Reaktionen: Die eine ist, es ausgeschlossen zu lassen und das Ausgeschlossene als bedrohlich zu empfinden. Aber gleichzeitig ist das, was ausgeschlossen ist, auch das, was fasziniert, was dazu führt, dass wir Sehnsüchte danach entwickeln, das Ausgeschlossene kennenzulernen. (II A 093) .... Dann denke ich, ist das Ausgeschlossene ein Stück weit die Auseinandersetzung mit der eigenen Natur, die sich widerspiegelt in der Art und Weise, wie wir mit äußerer Natur umgehen. Insofern wäre Auseinandersetzung mit dem Ausgeschlossenen, also der ‚inneren Wildnis‘ eine Voraussetzung dafür, mit der äußeren Wildnis mit größerer Akzeptanz umzugehen.

SPRECHER

Denn die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation hatte sich längst auch in den Bereich der psychischen Innenwelt des Menschen verlagert. Kultur bedeutete Affektkontrolle und Körperdisziplin. Sigmund Freud hat die innere Wildnis das „Es“ genannt und seine Kontrolle und Unterwerfung durch die Ordnungsmacht des ‚Ich‘ nicht zufällig mit Sinnbildern belegt, die aus dem Bereich der Flurbereinigung, Domestizierung, und Landnahme kommen.

ZITATOR

Es ist der dunkle unzugängliche Teil unserer Persönlichkeit, den wir als Kessel brodelnder Erregungen erleben. Das ‚Es‘ ist ein Chaos, hat keine Organisation, bringt keinen Gesamtwillen auf, kennt weder logisches Denken noch Moral. Es ist ein

sumpfiges, morastiges Gebiet, das erst durch die Ich-Entwicklung überhaupt urbar wird.“

SPRECHER

Der Philosoph und Zivilisationskritiker Norbert Elias bezeichnete den Menschen, der sich dann wider seiner Natur entwickelt, als ‚Homo Clausus‘: ein gegenüber der Umwelt abgeschlossener, in sich verschlossener Mensch, vorwiegend ein Mann, dem innere und äußere Natur gleichermaßen fremd geworden ist. 

Dieses Menschenbild vermischte sich in der europäischen Kulturgeschichte mit Charles Darwins Evolutionstheorie einer natürlichen Welt, in der sich nur der Stärkste durchsetzt. 

Musik    John Zorn  - Engano

SPRECHERIN

In der deutschen Geschichte des 20.Jahrhunderts floss dieses Denken in Hitlers Faschismus ein. Er glaubte an die „Herrschaft der grausamen Mutter Natur“ und strickte daraus eine Ideologie, in der die angeblich gnadenlosen Gesetze der Wildnis zum Vorbild für einen Kampf Aller gegen Alle wurden. Sieger in diesem Kampf war dann eine diktatorische Herrenrasse, die andere zu ‚Untermenschen‘ erklärte und mit scheinbar ‚natürlichen‘ Recht ihre Vernichtung anordnete. Mit dem Ende seines ‚1.000-jährigen Reiches‘ landete zwar der Faschismus auf dem Müllhaufen der Geschichte, nicht aber die Idee der gnadenlosen Wildnis, der Kontrolle über sie und die Idee der Beherrschung der Natur. 

Musik aus

Musik   Green Piece 

SPRECHER

Eine veränderte Auseinandersetzung sollte erst in den 60er Jahren beginnen, als die junge Nachkriegsgeneration das alte Denken abschütteln wollte. Als die Lockerung der allgegenwärtigen Kontrolle zugunsten einer neuen Erlebnisfähigkeit einsetzte, bekam auch die ‚Wildnis‘ einen neuen Wert. Die globale Bedrohung durch die totale Naturbeherrschung führte zur weltweiten Ökologiebewegung und einer Neubewertung des ‚Wilden‘. Die Sehnsucht des naturfernen Menschen nach der elementaren Natur führte zu einer Wiederentdeckung der Urtümlichkeit der unzerstörten Wildheit als Grundlage des Menschseins. Die ‚unberührte Natur‘ wurde zum idealen Ort, zur heilen Utopie – in der menschlichen Psyche, wie in sozialen Bewegungen, sagt der Psychologe Rolf Haubl:

Musik aus

ZUSPIELUNG     Wort   6 (IIA 210) 

Ich glaube, ein Stück auch der Fitness-Bewegung, aber auch ein Stück der Wilderness-Bewegung ist die Rückkehr zum Körper um die Erfahrung zu machen, 

dass in der Wildnis konkrete Handgriffe konkrete Folgen haben. Und ich dadurch eine Art neues Bewusstsein meiner eigenen Wirksamkeit erlebe. Und wenn man davon ausgeht, dass das Gefühl der eigenen Wirksamkeit eine ganz zentrale Grundlage für das Selbstwertgefühl ist, dann ist die Entwirklichung von Wirklichkeit auch etwas, was unser Selbstwertgefühl ankratzt. Und der Versuch, in Wildnis-Zusammenhängen die körperliche Kraft wieder als Ursache für Wirkungen zu spüren, ist etwas das darüber dann den Selbstwert wieder aufbaut.

SPRECHER

In den letzten 30 Jahren wurde ‚Wildnis‘ wieder gesellschaftsfähig. Abenteurer und Überlebenskünstler gelten als moderne Helden; die Tourismusindustrie lockt erfolgreich in die „letzten Paradiese“, eine ganze ‚Outdoor-Industrie‘ deckt die Bedürfnisse moderner Waldläufer, die Erlebnispädagogik preist den Wert der Wildnis für schulisches Lernen, soziale Therapien und Managementkurse nutzen die Wildnis für Persönlichkeitsentwicklung. Körpertherapien und moderne Psychologie entdecken die wilde Weisheit des Körpers als inneren Wert. Die Befreiung von naturfeindlichen zivilisatorischen Regeln wird zur sozialen Pflicht. Und sogar in Wissenschaft und Forschung bildet sich ein Weltbild aus, in der die Wildnis nicht länger als primitiver blutiger unmoralischer Ort des Kampfes ums Überleben gesehen wird, sondern als Modell für Selbstorganisation, Vernetzung, Kooperation und schöpferische Symbiose. 

Musik    Katedra Botaniki   

SPRECHERIN

Besonders in der modernen Ökologie ist die sich selbst überlassene Wildnis zum Modell dafür geworden, wie komplexe Ökosysteme funktionieren. 

Eben nicht nach den mechanistischen Gesetzen der klassischen Physik, wie man lange dachte, sondern eher nach den unberechenbaren Prozessen des Lebendigen, in denen alles ineinandergreift, sich alles gegenseitig beeinflusst, korrigiert, ausgleicht. Wer das übersieht, missversteht das Lebendige, untersucht es nach einer Ideologie des Toten und zerstört die Zusammenhänge, die er nicht versteht. 

SPRECHER

Da ist Wildnis quasi zur Matrix eines kooperativen, systemischen und ökologischen Weltbildes geworden. Konsequenterweise muss die Wildnis aus dieser Sicht dann auch geschützt werden. 

Dahinter verbirgt sich ein Bewusstseinswandel von kulturhistorischen Ausmaßen: Nachdem sich die menschliche Kultur über Jahrtausende über die Abgrenzung von der Wildnis definierte, wird das Wilde heute zum schützenswerten Kulturgut. 

Statt den Menschen als einzigen Erschaffer und Bewahrer des „Guten, Reinen, Schönen" zu sehen und die Wildnis mit Chaos, Unordnung, Schrecken und Gewalt zu assoziieren, wird die Wildnis heute eher als ursprünglich, harmonisch, nachhaltig, vielfältig empfunden. Statt dem Menschen die Aufgabe zuzuschreiben, Gottes scheinbar unvollkommene Schöpfung erst noch zu veredeln, fordert die neue Würdigung der ungezähmten Natur eine neue Rolle des Menschen – die des wachen Beobachters und verantwortungsvollen Gärtners im Netzwerk des Lebens. Wildnis zu bewahren, ist in diesem Kontext ein kulturelles Ereignis, sagt Friedrich Sinner. Er war Direktor des Naturparks Bayerischer Wald:

ZUSPIELUNG      Wort    9             (IIIA368)

Das ist eine von uns Menschen getroffene Entscheidung, die genauso Kultur beinhaltet wie die Entscheidung den Kölner Dom zu bauen, eine Sinfonie zu schreiben, ein fantastisches Gemälde zu malen, auszustellen, den Menschen zugänglich zu machen. Es ist eine kulturelle Tat, Nationalparke mit Wildnis zuzulassen.

SPRECHERIN

So ist – kurz vor ihrer endgültigen Zerstörung – die Wildnis neu entdeckt und als wertvolles Modell für Forschung und Erkenntnis verstanden worden. Das ändert nichts daran, dass der Mensch, der sich einst an die Wildnis anpassen musste, heute zum Herrn und Hüter über die verbliebenen wilden Gebiete geworden ist. Er – und nicht länger die Wildnis – ist zur prägenden Kraft des Planeten geworden. 

SPRECHER

Der niederländische Nobelpreisträger Paul Crutzen hat das gegenwärtige irdische Zeitalter deshalb das ‚Anthropozän‘, das ‚menschlich gemachte Neue‘ genannt. Das kann bedrohlich klingen, wenn der Mensch die errungene Beherrschung über die Natur missbraucht, tut was er will und die neue große Verantwortung für die Schöpfung nicht begreift, warnt der Berliner Philosoph und Biologe Andreas Weber. 

Er sieht die Wiederentdeckung der Wildnis als Chance und Auftrag, Natur und Kultur auf eine neue, gereifte und weise Art zusammenzubringen und das ‚Anthropozän‘ als Chance zu nutzen:

ZUSPIELUNG          Wort   10                       (4/4:22) 

Die Wiederentdeckung von Wildnis kann ja nur heißen, dass wir 'Wildnis' in unseren menschlichen Dingen wiedererkennen und wiederfinden. Dass wir sehen: Es gibt etwas Wildes im Menschen. Und das wir dadurch die Grenze zwischen dem Menschen und dem Anderen niederreißen. Das wäre eine Aufgabe für das Anthropozän. (7:22) Nämlich zu verstehen, dass die Wildheit nicht das Zügellose und das Hemmungslose ist, sondern ein abgestimmtes Netz von Beziehungen. 

Musik    Katedra Botaniki   

Das sehen wir in Ökosystemen. So funktionieren die: Alle müssen etwas geben und dafür kann das Ganze gedeihen. Und das ist für mich ein Modell von Kultur. (11:15) Dann ist es auch ein Modell von gelingenden Beziehungen. Und dann ist es sogar das Modell von Liebe. (8:42) Also man könnte sagen: In der menschlichen Kultur müsste das 'Wilde' unsere schöpferische Aufgabe werden. Nur so können wir eine nachhaltige Welt gestalten. Weil wir nur so im Einklang mit der 'wirklichen Welt' bleiben.  



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 March 21, 2024  22m