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Verhandeln - Rhetorik, Macht und Nervenkrieg


Gut verhandelt? Die Frage entscheidet über den persönlichen Kontostand und über die Aussichten einer Nation. Denn verhandelt wird über alles und überall: in Juristerei, Wirtschaft, Politik, auf Flohmärkten und Jobbörsen. Wie gelingt die Verhandlung und wie ändert sich historisch ihr Handwerkszeug? Autorin: Marie Schoeß

Credits
Autorin dieser Folge: Marie Schoeß
Regie: Sabine Kienhöfer
Es sprachen: Katja Amberger, Christian Baumann
Technik: Matthieu Belohradsky
Redaktion: Nicole Ruchlak

Im Interview:
Roman Trötschel, Professor für Sozial- und Politische Psychologie an der Fakultät Nachhaltigkeit der Leuphana Universität Lüneburg
Simon Wolf, nach Studium und Promotion in der Rhetorik arbeitet er als Rhetorik-Coach

Und noch eine besondere Empfehlung der Redaktion:

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ZUM PODCAST

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Verhandeln ist mehr als Kopfarbeit: Treten zwei Menschen einander gegenüber – bereit zum Verhandeln –, beginnt ein diffiziles Spiel, das den ganzen Menschen beansprucht. Alles ist jetzt gefragt. Augen, Arme, Mundwinkel, Herz, Puls, Kopf und Zunge: Jeder Nerv, jede Zelle muss mitspielen, alles muss eingestimmt sein auf das, was jetzt folgt. Höchstspannung – sichtbar gerade in den Momenten des Scheiterns. Wenn die Spannung plötzlich abfällt. Im November 2017 zum Beispiel.

SPRECHER

Erinnern Sie sich noch? Deutschland sucht gerade eine neue Regierung, die Sondierungsverhandlungen sind dieses Mal aber deutlich kniffliger als gewohnt. Union, Grüne und FDP wollen es miteinander versuchen und so – in dieser Kombination, auf Landesebene – haben die Beteiligten noch nie zusammengefunden. Ihre Programme liegen in zentralen Fragen auch weit auseinander. Für sie alle – schwarz, grün, gelb – steht also einiges auf dem Spiel. Lassen sich genügend der eigenen Ziele durchsetzen? Gelingt es – allen – das Gesicht zu wahren, weil alle Zugeständnisse in den Fragen machen, die für die jeweils anderen zentral sind? Können so auch lauter faule Kompromisse verhindert werden? All das ist offen, als die FDP plötzlich vor die Presse tritt. Christian Lindner hat seine Parteikolleginnen und Kollegen im Rücken, eine fast schon versteinerte Miene haben sie, als ihr Parteivorsitzender verkündet: Besser nicht regieren, als falsch regieren. 

Musik: Prayer wheel (red.) 0‘20

SPRECHERIN 

Mit diesem Statement gehen die Verhandlungen erfolglos zu Ende, und den anderen – Verhandlern auf Seiten der Union, der Grünen – stehen die Fragen ins Gesicht geschrieben: Was ist da schiefgelaufen? Was kann man daraus lernen?

01 ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL 

Es geht in Verhandlungen sehr stark um Reputation, Aufbau von Vertrauen und den Aufbau von Beziehungen, weil ich langfristig davon Vorteile ziehen werde. Und wenn ich fragwürdig kurzfristige Erfolge erziele, indem ich die Gegenseite über den Tisch ziehe, Interessenskonflikte vortäusche oder was auch immer, hat das zwar kurzfristig Erfolg, aber langfristig wird mir das auf die Beine fallen. Es dauert 20 Jahre, mir eine Reputation aufzubauen, aber ich kann sie in fünf Minuten zerstören. 

SPRECHERIN

Roman Trötschel ist Experte in Sachen Verhandlungen, er lehrt als Professor für Sozial- und Politische Psychologie an der Leuphana Universität Lüneburg. Versucht zu verstehen, unter welchen Umständen Verhandlungen glücken und was sie scheitern lässt. Vertrauen, weiß er, ist ein zentraler Punkt für jede Verhandlung. 

Musik:  Precision on demand 0‘36

SPRECHER

Und der Herbst 2017 bildet da keine Ausnahme. Mehr als ein Mal dringen Informationen nach draußen. Irgendwer spielt sie an die Presse, offenbart sie der Öffentlichkeit – sicher auch, weil es in diesem Moment der eigenen Strategie dient. Vertrauen baut man so aber nicht auf. Auch das plötzliche Wechseln von Strategien und Positionen ist nicht gerade vertrauensbildend. Der Streit um den Familiennachzug ist ein Beispiel dafür. Ein Knackpunkt, die Verhandler beißen sich an dieser Frage fest – insofern wäre ein vertrauensvoller Umgang gerade jetzt wichtig. Das Gegenteil aber passiert: Jürgen Trittin, lange unter den diskretesten Verhandlern, kritisiert die FDP öffentlich dafür, plötzlich einen Schulterschluss mit der CSU zu suchen, heißt: Plötzlich auch darauf zu pochen, den Familiennachzug weiter auszusetzen, was für die Grünen bekanntermaßen ein rotes Tuch ist. Das Interview: zerstört Vertrauen. Der plötzlich gesuchte Schulterschluss, der dem Interview vorausging, ebenfalls. 

SPRECHERIN

Das Ende der Verhandlungen, der nicht abgesprochene Abbruch, war letztlich Ausdruck des Vertrauens-Problems innerhalb der Verhandlungen. Die Sondierungsverhandlungen sind aber nur ein Beispiel: Gescheiterte Verhandlungen gehören zum politischen Alltag. Und auch für Vertrauensverluste findet man etliche Beispiele. 2018 etwa, ein anderes Scheitern. Auch das vor aller Augen.

Musik: Facts&data 0‘42

SPRECHER

Donald Trump verlässt den G7-Gipfel vor dem eigentlichen Ende. Erinnern Sie sich noch? An diesen Aufbruch, der nichts ist als: Symbolpolitik, ein Signal, wie groß der US-amerikanische Präsident die eigene Verhandlungsmacht einschätzt, wie gering die seiner Partner? Trump müsste hier nicht weg, der Anschluss-Termin mit dem nordkoreanischen Präsidenten Kim Jong Un ließe ihm Zeit, aber er verlässt die Verhandlungspartner frühzeitig, fliegt – und twittert: Er werde die US-Unterhändler anweisen, „die Abschlusserklärung nicht zu unterstützen“. Gerade hatte man sich auf einen Kompromiss geeinigt – ein großer Wurf war der ohnehin nicht, die großen Streitfragen waren ausgeklammert worden – aber jetzt auch noch das: Das öffentliche, nicht abgesprochene Aufkündigen des Kompromisses.

02 – ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL 

Es dauert 20 Jahre, mir eine Reputation aufzubauen. Aber ich kann sie in 5 Minuten zerstören. 

SPRECHERIN

Verhandeln kann Nervenkrieg sein, das beweisen diese Beispiele – aber sie suggerieren gleichzeitig etwas Falsches: Dass eine Verhandlung Wettbewerb ist. Weiter nichts. Die Wahrheit ist komplexer:

03 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL

Was Verhandlungen auszeichnet, ist, dass das immer Situationen sind, in denen Kooperation und Competition gemeinsam auftreten. Einerseits versuche ich ja als Verhandlungspartei die Interessen der eigenen Seite – also wenn ich eine Gruppe vertrete oder auch meine individuellen Interessen – durchzusetzen gegen den Widerstand der anderen Seite. Aber ich würde ja mit der anderen Seite nicht verhandeln, wenn ich das ganz allein könnte. 

SPRECHERIN

Ein klassischer Fehler in Verhandlungen: Sie als Fußballspiel zu verstehen, entweder man gewinnt oder man verliert. Dabei ist die vielleicht wichtigste Einsicht eines Verhandlers, dass die Gegenseite auch Entscheidungsmacht hat, dass die Abhängigkeit wechselseitig ist, dass beide Akteure Teil des Entscheidungsprozesses sind, im besten Fall sogar beide gewinnen. Wer daran zweifelt, kann die Verhandlung eigentlich gleich einstellen. 

04 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL  

Grundsätzlich können soziale Konflikte auf verschiedene Art und Weise gelöst werden. Entweder durch Agieren und Reagieren – also, dass eine Partei Aktionen ergreift. In Tarifverhandlungen – eine Partei löst einen Streik aus, und die Gegenseite reagiert dann drauf, geht vor Gericht. Oder durch Interagieren. Und Interagieren ist dann Verhandeln. 

Musik: Research activity 0‘40

SPRECHER

Noch ein Beispiel: Die „Letzte Generation“ will – genauso wie „Fridays for Future“ – einen gesellschaftlichen Wandel herbeiführen, will der Gesellschaft vor Augen führen, was der Klimawandel für die Jungen bedeutet. Aber während sich „Fridays for Future“ offen zeigt, ihre Positionen zum Gegenstand von Diskussionen und Verhandlungen zu machen, pocht die „Letzte Generation“ immer wieder darauf, dass vieles schlicht „nicht verhandelbar“ sei. Und setzt insofern auch auf eine andere Strategie: auf Aktion statt Interaktion. 

05 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF

Ja, also von der Definition, da kann man sagen, dass es bei der Verhandlung immer um den Abgleich von konfligierenden Interessen geht. Zwei Personen oder zwei Institutionen haben unterschiedliche Interessen. Das können auch mehr als zwei sein. Und sie haben trotzdem das gemeinsame Interesse, das auf dem Weg der Verhandlung zu klären und nicht auf anderem Wege. 

SPRECHERIN

Dr. Simon Wolf arbeitet als Rhetorik-Coach, wobei er Theorie und Praxis der Verhandlung zusammenbringt. 

Er ist damit Fachmann für eine Disziplin, an der niemand vorbeikommt: Verhandelt wird überall, in Küchen und Kirchen, in Parlamenten und auf dem Pausenhof. Zu verstehen, was eine Verhandlung ausmacht, wie sie sich gut gestalten lässt, ist also enorm wichtig – für das Leben jedes Einzelnen und die Entwicklung einer Gesellschaft. Und trotzdem gehen es viele falsch an. Simon Wolf kennt das aus der Praxis:

06 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF

Häufig gibt es so die Idee von der einen richtigen Formulierung, und da muss man schon von der Gesprächsführung her und erst recht von der Verhandlungsführung her sagen: Das eine richtige goldene Wort gibt es nicht, sondern im Gegenteil es geht um Verhaltensweisen, und es geht um Mindset. Also von der einen goldenen Formulierung, von dem einen goldenen Wort muss man sich leider ein Stück weit lösen.

Musik: New beginning 0‘19

 SPRECHERIN

Aufs Mindset, also auf die Haltung und Einstellung bei der Verhandlung, pocht auch Roman Trötschel. Es hält flexibel, sagt er. Und dass ein Mindset keine Wertvorstellung sei, nichts Starres, Unverhandelbares. Eher schon eine Brille.

07 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL

Und wie so eine Brille, die ich auf- und absetzen kann, wirken auch Mindsets, die sind nämlich sehr flexibel. Und ich brauche Flexibilität in Verhandlungen. Und jetzt gibt es kein universelles Mindset, das mir grundsätzlich hilft, in Verhandlungen voranzukommen. Vielleicht schon das grundsätzliche Verständnis, dass Verhandlungen eben immer Kooperation und Competition sind, also beides. Das muss Bestandteil des Mindsets sein. Aber zusätzlich kann ich mir in Abhängigkeit von meinen Fähigkeiten und Fertigkeiten bestimmte Grundprinzipien geben.   

SPRECHERIN

Wer ein großes Harmoniebedürfnis in sich trägt, setzt besser erstmal die Brille „Hartnäckigkeit“ auf, damit er nicht zu schnell um des Friedens willen einknickt. Darf sie aber auch wieder absetzen, wenn die wichtigsten Elemente besprochen sind. Eine Varianz an Brillen – Grundprinzipien in der Verhandlung – helfen ohnehin am besten weiter. „Neugier“ ist eines davon. Und „Kreativität“.  

08 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF

Für die Vorbereitung auf eine Verhandlungsstrategie ist es in der Praxis ganz wichtig zu sehen: Was sind meine Interessen? Nicht nur meine Positionen. 

SPRECHERIN

Bedeutet: Nicht nur zu wissen, was ich will, sondern warum ich das will. Das erhöht die Flexibilität und ist Moment für Kreativität. 

Musik: Corporate questions more red 0‘42

SPRECHER

Konkretes Beispiel: Wenn ich ins Gespräch mit meinem Chef gehe und mehr Gehalt fordere, kann ich schnell scheitern. An Vergütungsgruppen zum Beispiel, die in einer Firma klar geregelt sind und an denen wirklich niemand vorbeikommt. Wenn ich aber weiß: Ich will mehr Gehalt, weil ich Geld für ein Lastenrad zurücklegen will, kann ich womöglich von der Firma ein Rad gestellt bekommen. Oder eine Karte für die Öffentlichen Verkehrsmittel, fürs Fitness-Studio, irgendwas, das mir anderweitig Geld spart. In ganz vielen Situationen lässt sich das Bedürfnis befriedigen, nur nicht immer auf dem einen naheliegenden Weg. Deshalb die Frage nach dem Warum.

09 – ZUSPIELUNG SIMON WOLF 

Letzten Endes steigern wir dadurch unsere Verhandlungsmacht, weil wir mehr Möglichkeiten auf den Tisch bekommen. 

SPRECHERIN

Ist Kreativität gerade während der Verhandlung entscheidend – dann, wenn es wirklich ums Suchen und Finden eines Kompromisses geht –, braucht es die Neugier schon viel früher: 

10 – ZUSPIELER ROMAN TRÖTSCHEL 

Ich muss tatsächlich wie ein Detektiv vorgehen und verstehen: Was ist denn eigentlich mit der anderen Seite los in dieser Verhandlung? Was will die denn eigentlich? Die Gegenseite vertritt Positionen. Aber hinter den Positionen der Gegenseite steckt Psychologie – nämlich Motive, Wertvorstellungen, Denkmuster. Und das muss ich aufdecken und muss neugierig sein. Eigentlich bedeutet Neugier Informationssuche – und zwar so viel wie möglich. 

Musik:  Creative workshop red 0‘42

SPRECHERIN

„Hinter den Positionen steckt Psychologie“, sagt Roman Trötschel. Und in dieser Aussage steckt wiederum eine ziemlich wichtige Einsicht für die Kunst der Verhandlung: Eine Verhandlung ist mehr als ein Austausch von Argumenten, mehr als ein Spiel, das allein mit dem Verstand zu gewinnen ist. Eine Verhandlung hat rationale, aber auch emotionale, fast schon körperliche Anteile. Die Vorbereitung muss insofern auch den ganzen Menschen einbeziehen: die Argumente und Emotionen der anderen Seite. Und meine eigenen. 

11 – ZUSPIELER SIMON WOLF

Schon Aristoteles sagt uns, ein emotional erregter Gesprächspartner kann sich nicht mehr so gut konzentrieren. Und das heißt, die emotionale Vorbereitung gehört immer auch zu Verhandlungs-Vorbereitung dazu. Damit geht typischerweise die Körpersprache Hand in Hand. Wenn ich emotional aufgeräumt und entspannt bin, dann kann ich meine Körpersprache auch besser einsetzen. Wenn ich sowieso schon auf 180 bin, dann machen die Mundwinkel und dann macht die Zornesfalte auf der Stirn, was sie will. Und dann wird ein Gesprächspartner ein viel leichteres Spiel haben, weil ich meine Körpersprache nicht so gut kontrolliere und dann meine Emotionalität ein Stück weit besser zu lesen und zu sehen ist. 

SPRECHERIN

Die Emotionalität des anderen einfach auszunutzen, wenn sie sich denn zeigt, ist trotzdem keine gute Idee. Stichwort: Aufrichtigkeit, Vertrauen. Beides ist immens wichtig – gerade, wenn Verhandlungen Zeit brauchen oder gar kein Ende kennen. Die G7: tagen nicht bloß ein Mal. FDP und Grüne haben sich bei den Jamaika-Verhandlungen 2017 nicht zum letzten Mal an den Verhandlungstisch gesetzt. Und die Verhandlung zu Hause, um die gerechte Aufteilung der Care-Arbeit zum Beispiel, ist auch erst abgeschlossen, wenn das Kind das Haus verlassen hat. Kurzfristige Verhandlungserfolge, die auf Kosten des Vertrauens gehen, helfen da kaum weiter. Weder am Küchentisch und noch bei Klimaverhandlungen.

Musik: Chemical transformation 0‘50

SPRECHERIN

Und für letztere braucht es mehr als ein Bewusstsein, welches Mindset hilfreich ist. Roman Trötschel hat sich auf solche Verhandlungen spezialisiert. Transformationsverhandlungen nennt er sie. Im Grunde fallen darunter alle Verhandlungen, die einen gesellschaftlichen Wandel einleiten wollen und dabei nachhaltige Lösungen anstreben. Einfach ist das nie. Aus mehreren Gründen: Weil viele verschiedene Interessen aufeinanderstoßen. Weil der Verhandlungsgegenstand nie bloß die Gegenwart betrifft, sondern immer auch die Zukunft. Und weil jede Entscheidung Folgen für verschiedenste Bereiche hat: fürs Soziale, Wirtschaftliche, Ökologische. Die UN-Klimakonferenz in Paris ist ein gutes Beispiel dafür – gut nicht nur wegen der Vielzahl an Interessen, der Vielzahl an Fragen und Folgen, sondern vor allem, weil hier wirklich mal eine Verhandlung geglückt ist.

SPRECHER

Kleiner Sprung zurück, ins Jahr: 2015. Am 30. November beginnen die Klima-Verhandlungen in Paris, bis zum 11. Dezember sind sie angesetzt, aber spontan werden sie um einen Tag verlängert, es ist eben enorm kompliziert. Am Ende steht ein Klimaabkommen, völkerrechtlich bindend für alle Staaten der Welt, das bis heute Wirkung hat. Hier wird das Ziel gesteckt, die globale Erwärmung deutlich unter 2 °C zu halten, möglichst bei 1,5 °C. Und diese Zahl, 1,5 °C, ist bis heute Richtwert, wenn die Frage aufkommt: Tun wir genug, tun wir zu wenig in Sachen Klimawandel?

12 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL

Das war ein großer, großer Durchbruch, weil diese Verhandlung Orientierung gibt. Es wird ein Bezugspunkt festgelegt, dem viele Parteien und viele Nationen zugestimmt haben, dem sich viele Verhandlungsparteien verpflichtet haben und damit auch die entsprechenden Staaten. Diese Verhandlung ist insofern gelungen, als dass – im Gegensatz zu vorherigen Verhandlungen – nicht beispielsweise die ökonomische Ergebnisdimension die Bezugsgröße ist, sondern tatsächlich die ökologische Ergebnisdimension. 

Musik:  Feeling good 0‘37

SPRECHERIN

Hier lohnt es sich, genauer hinzuschauen: Was ist da wirklich geglückt und warum? Die Verhandlung ist gelungen, das sagt Roman Trötschel, weil die ökologische und nicht die ökonomische Dimension die Bezugsgröße ist. Konkret heißt das doch: Diese Verhandlung hat einem ökologischen Ziel den Vorrang gegeben. Selbst wenn die wirtschaftlichen oder sozialen Konsequenzen dieser Vereinbarung problematisch sein sollten, das 1,5 Grad Ziel gilt – langfristig gesehen – als entscheidender. Die langfristige Perspektive hat damit Sorgen ums Hier und Jetzt geschlagen. Und das ist – aus psychologischer Sicht – alles andere als selbstverständlich. 

13 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL

Beispielsweise gibt es so eine grundsätzliche Tendenz von Menschen, zukünftige Konsequenzen weniger stark zu gewichten als unmittelbare kurzfristige Konsequenzen. Auch haben Menschen Schwierigkeiten mit Belohnungsaufschub, dass sie erst in Zukunft für bestimmte Handlungen belohnt werden. Oder Menschen haben große Schwierigkeiten, mit Unsicherheit umzugehen, mit Risiko umzugehen. 

SPRECHERIN

Hier ist er wieder, der ganze Mensch, der eine Verhandlung ausmacht.

 Musik:  Simple but complex behaviour (c) 0‘25

Und der bringt noch ein Problem für solche komplexen politischen Verhandlungen mit, die über unsere Zukunft entscheiden: Es fällt ihm nicht leicht, die verschiedenen Dimensionen gegeneinander abzuwägen. Wenn man an das Abkommen von Paris denkt, spielen ja ganz verschiedene Aspekte mit rein: politische, soziale, wirtschaftliche, ökologische. Wie gewichtet man die? Eine einfache Rechnung lässt sich da kaum anstellen – was in der Praxis regelmäßig dazu führt, dass kurzfristige Ziele gewinnen oder ökonomische Überlegungen ökologische ausstechen:

14 – ZUSPIELUNG ROMAN TRÖTSCHEL

Aber es gibt auch Erkenntnisse dazu, wie man dem begegnen kann. Beispielsweise, dass man Repräsentanten an den Verhandlungstisch holt, die tatsächlich ausschließlich die Aufgabe haben, Aspekte wie zum Beispiel ökologische Auswirkungen mit auf den Verhandlungstisch zu bringen. Dass Modellierer mit einbezogen werden oder die Erkenntnisse von Modellierern, die zeigen, was es für Szenarien für die Zukunft gibt. 

SPRECHERIN 

Klingt kompliziert, aber ein Beispiel dafür haben wir alle miterlebt: die Corona-Krise.

Musik:  Political efforts red 0‘45

SPRECHER

Plötzlich stehen sich etliche Bedürfnisse gegenüber. Da sind die Kinder, die nicht mehr auf Spielplätze dürfen. Isoliert, allein mit überforderten Eltern – von heute auf morgen. Da sind die Risikogruppen, die um ihre besondere Verletzlichkeit besorgt sind, die hoffen, bitten, dass Schulen, Kitas, Kindergärten geschlossen bleiben, damit sich das Virus dort nicht zu schnell verbreitet. Da ist die Industrie, die über die enormen wirtschaftlichen Schäden spricht, wenn man das Land stillstellt. Und die Ärztinnen und Pfleger, die Sorge haben, wie sich die Lage entwickelt, wenn man das Land nicht stillstellt. Und zwischen ihnen allen: die Politiker, die in Verhandlungen entscheiden sollen, welche Bedenken schwerer wiegen. 

SPRECHERIN

Ein Drahtseilakt. Aber verhandelt wurde in der Corona-Krise, wie Roman Trötschel es vorgeschlagen hat: Die Stimmen, die keine Entscheidungsmacht hatten, hatten dennoch Gewicht. Die Politik hat sie mit an den Tisch geholt: die Forschung, die Wirtschaft, die Pädagogen. Sie waren nicht stimmberechtigt, die Entscheidungen trafen die Politiker, aber sie waren oft Teil der Verhandlungen, Stimmen, die dafür sorgen sollten, dass alle Dimensionen verstanden und mit einbezogen wurden. Wenngleich man ihnen nicht immer gefolgt ist.

Musik: Undercover investigations red 0‘19

Denn: Wie eine Verhandlung ausgeht, liegt immer auch daran, wie dringlich die Situation erscheint: Dass etwas wichtig ist, sagt Roman Trötschel, reicht in Verhandlungen nicht aus. 

15 – ZUSPIELUNG Roman Trötschel 

Es muss mit Bildern untermauerbar sein. Auch hier wieder das Beispiel mit der Corona-Pandemie – die Bilder aus Italien, die haben die Herausforderung, die Dringlichkeit greifbar gemacht. Dasselbe gilt für die Katastrophe im Ahrtal. Auch das hat die Dringlichkeit greifbar gemacht und Dringlichkeit wird auch dadurch unmittelbar erlebt, dass es näher an einen heranrückt. 

SPRECHERIN

Damit könnte also die Vorbereitung jeder Verhandlung anfangen. Alle Augen auf die Gegenseite: Was würde sie überzeugen, dass das eigene Anliegen nicht bloß wichtig, sondern dringlich ist? Ist jetzt der richtige Moment, die Verhandlung zu beginnen? Oder warte ich auf den Augenblick, der die Dringlichkeit unmittelbar belegt? So also könnte die Verhandlungsvorbereitung beginnen – mit einem neugierigen Blick.

Musik:  Still waiting 0‘34 

SPRECHER:

Und dann treten sie alle auf, der Kreative, der Hartnäckige, der Sachliche, der Aufrichtige - alle flexibel einsetzbar, aber eben keine Schachfiguren, sondern Haltungen eines Menschen. Und sie treffen zusammen mit all den Haltungen der anderen Menschen, der Verhandlungspartner. Kein Wunder, dass sich der Ausgang einer Verhandlung nur selten voraussagen lässt.



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