radioWissen

radioWissen, ein sinnliches Hörerlebnis mit Anspruch. Die ganze Welt des Wissens, gut recherchiert, spannend erzählt. Interessantes aus Geschichte, Literatur und Musik, Faszinierendes über Mythen, Menschen und Religionen, Erhellendes aus Philosophie und Psychologie. Wissenswertes über Natur, Biologie und Umwelt, Hintergründe zu Wirtschaft und Politik.

https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/488

subscribe
share






Ovids Metamorphosen - Verwandlungsgeschichten als Dauerbrenner


Lasziv, also frech, unanständig und verspielt nennt der römische Rhetoriker Quintilian die Metamorphosen des Ovid. Vielleicht sind dessen Verwandlungsgeschichten gerade deshalb ein literarischer Dauerbrenner. Seit 2000 Jahren regen die Metamorphosen Musiker, Maler, Bildhauer und Dichter immer wieder zu neuen Werken an. Von Simon Demmelhuber

Credits
Autor dieser Folge: Simon Demmelhuber
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Katja Amberger, Thomas Loibl, Benedikt Schregle
Technik: Daniele Röder
Redaktion: Thomas Morawetz

Im Interview:
Prof. Dr. Markus Janka, Professor für Klassische Philologie/Fachdidaktik der Alten Sprachen, Ludwig-Maximilians-Universität München
Die Übersetzungen aus dem Lateinischen verfasste Markus Janka.

Diese hörenswerten Folgen von radioWissen könnten Sie auch interessieren:

Homer - Der erste Dichter des Abendlandes
Wer Homer wirklich war, ist heute umstrittener denn je. Traditionell gilt er als der Verfasser der ersten literarischen Werke des Abendlands, der Ilias und der Odyssee. Und damit ist er der auch der Urvater beinahe aller nervenaufreibenden Geschichten. Von Thomas Morawetz (BR 2016) 
JETZT ENDTECKEN

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

RadioWissen finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | RadioWissen
JETZT ENTDECKEN

Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

SPRECHERIN

Hereinspaziert, verehrte Damen und Herren! Treten Sie näher, treten Sie ein!

SRECHER

Willkommen in Ovids Varieté der Verwandlungen!

SPRECHERIN

Sehen Sie selbst, wie Götter, Heroen und Menschen vor Ihren Augen zu Tieren, Pflanzen, Sternen und Steinen mutieren.

SPRECHER

Beklagen Sie Daphne, die zum Lorbeerbaum wird, um der Liebestollheit Apolls zu entkommen.

SPRECHERIN

Beweinen Sie Arachne, die gekränkter Götterstolz zum Leben als haarige Spinne verdammt.

SPRECHER

Lassen Sie sich rühren von Philemon und Baucis, denen gastfreie Güte die Gnade erwirkt, in Baumgestalt einander für immer zu lieben.

SPRECHERIN

Erschauern Sie mit Niobe, die der Schmerz über den Tod ihrer Kinder in einen weinenden Felsen versteinert.

SPRECHER

Betrauern Sie Byblis, die von Amor gedrängt, den eigenen Bruder begehrt. Von ihm verschmäht, zergeht sie in Tränen ewigen Kummers.

SPRECHERIN

Sie alle und zahllose mehr wechseln Form und Gestalt durch göttliches Wirken. Die einen zur Strafe, die andern zum Lohn, die Dritten zur Rettung.

SPRECHER

Nur eine Warnung vorweg: Hier geht es heftig zur Sache. Hier wird geliebt, gehasst, betrogen, gekämpft und gemordet. Hier toben Leidenschaften, hier waltet böses Geschick. Nichts bleibt, was es war, allein der Wandel besteht.

MUSIK 2  Tobi Morare: Ghetto Beat

SPRECHER

Das Licht erlischt, der Vorhang steigt. Bevor das Spiel beginnt, ehren wir den Prinzipal des Etablissements mit einem herzlichen Applaus. Begrüßen Sie nun den unvergleichlichen, einzigartigen Erzdichter Publius Ovidius Naso!

ATMO APPLAUS

43 vor Christus geboren, aus besten Verhältnissen stammend, vom Vater für die Ämterlaufbahn, von seinem Wesen aber zum Dichter bestimmt, fehlt ihm, wie er selbst gesteht, alles für die politische Karriere:

ZITATOR

Weder war mein Körper fähig, diese Arbeit zu ertragen, noch mein Verstand dafür angemessen, ständig war ich auf der Flucht vor Ehrgeiz und Stress.

SPRECHERIN

Mit knapp 20 Jahren legt er die Amores vor, eine Sammlung frivol-ironischer Liebesgedichte. Dem Erstling folgen die Ars amatoria, ein poetisches Lehrbuch der Liebeskunst und ein Remedia amoris betiteltes Arsenal hilfreicher Heilmittel für unglücklich Liebende. Die gefeierten Bücher festigen seinen Ruf als Experte für literarische Liebes- und Leibesnöte. Dann, um 8 nach Christus, vollendet er sein unsterbliches Großwerk:

ZITATOR

Publii Ovidii Nasonis Metamorphoseon Libri - Ovids Bücher der Verwandlungen

ATMO: APPLAUS 

SPRECHER

Die Metamorphosen - das sind rund 250 raffiniert ineinander verwobene mythologische Geschichten, in denen Menschen, Nymphen, Satyrn und Helden von Göttern teils schützend, teils strafend in Tiere, Pflanzen und anderes verwandelt werden. Mit diesem Werk schafft Ovid eines der wirkungsmächtigsten Bücher der Welt.

SPRECHERIN

Seit 2000 Jahren regen Ovids Verwandlungsgeschichten Dichter, Komponisten, Maler und Bildhauer zu eigenen Werken und Deutungen an. Kein anderer antiker Autor hat ein auch nur annähernd fruchtbares Nachleben. Kein anderes Buch, die Bibel ausgenommen, hat seine Geschichten und Gestalten tiefer in die geistige DNA des Abendlandes eingeschrieben. Die in einen Lorbeerbusch verwandelte Daphne, der vom Himmel ins Meer gestürzte Ikarus,– Ovids verwandelte Körper sind in der europäischen Kunst allgegenwärtig.

SPRECHER

Er ist der meistgelesene, meistimitierte römische Autor des Mittelalters. Schon die im 11. und 12. Jahrhundert verfassten Carmina Burana nutzen den Fundus der Verwandlungsgeschichten. Später lassen sich Dichter aller Epochen von ihnen inspirieren. Dass die frühesten Opern Titel wie La Dafne, oder L'Orfeo tragen und Komponisten noch immer ovidische Stoffe vertonen, bezeugt eine musikalische Dauerpräsenz, die vom Frühbarock bis in die Gegenwart reicht.

SPRECHERIN

Am eifrigsten schöpfen Maler und Bildhauer aus den Metamorphosen. Bereits die Römer lassen Ovidmotive in Marmor meißeln, aus Bronze gießen und auf Wände malen. Seither ist die Kette künstlerischer Anleihen ungebrochen. Wie ertragreich das Werk war und ist, beleuchtet eine Inventur des Kunsthistorischen Museums Wien: 40 der rund 2000 Bilder des Gesamtbestands zeigen ovidische Verwandlungsszenen. Das reicht locker für Platz 2 nach der Bibel und macht Ovid zum wichtigsten Kunstflüsterer der westlichen Welt.

MUSIK 3  Ali N. Askin: Francis 

SPRECHER

Die Erfolgsgeschichte hält nicht nur bis heute an, sie weitet ihren Wirkungskreis sogar kontinuierlich aus. Während die meisten antiken Texte allenfalls Fachwissenschaftler beschäftigen, inspirieren die Metamorphosen weiterhin Autoren, Theater- oder Ausstellungsmacher und neuerdings auch Video- und Performancekünstler. Darüber hinaus sorgen Comics, Zeichentrickfilme, Liebesratgeber und Videospiele für eine beispiellose Omnipräsenz in der Popkultur.

SPRECHERIN

Ovid und kein Ende! Ovid überall! Die Metamorphosen überspringen mühelos Generations- und Gattungsgrenzen. Aber wie lässt sich dieser crossmediale Dauer- und Breitenerfolg erklären? Warum gerade Ovid?

SPRECHER

Weil ihm mit den Metamorphosen ein zeitloses Meisterwerk gelungen ist, sagt Markus Janka, Professor für Klassische Philologie und Fachdidaktik der Alten Sprachen an der LMU München.

01 O-TON JANKA

Ovid schafft ein Epos ganz eigener Art, das es so noch nie gegeben hat: eine unglaubliche Plastizität, Anschaulichkeit, Eindringlichkeit, das ist schon etwas ganz Großartiges!

SPRECHERIN

Die Karriere der Metamorphosen beginnt als literarischer Befreiungsschlag. Bereits die Zeitgenossen des Dichters rühmen das Neuartige und Kunstvolle der Dichtung. Mehr als die eigenwillige Behandlung des mythologischen Stoffs oder die Archetypik der Gestalten wecken zunächst formale und stilistische Innovationen die Neugier der literarischen Öffentlichkeit.

SPRECHER

Dass er mit den Metamorphosen ganz bewusst Neuland betritt, stellt Ovid von Anfang an klar. Gleich die erste Zeile packt den Innovationshammer aus:

ZITATOR

īn nŏvă fērt ănĭmūs mūtātās dīcĕrĕ fōrmās / cōrpŏră

Neuem strebe ich zu, vom Wandel zu dichten der Formen in neue Körper.

SPRECHERIN

Was passiert da? Das ist doch nicht mehr der alte Ovid! Bislang hat er nur elegische Distichen, das für Liebeslyrik typische Versmaß verwendet. Jetzt schreibt er plötzlich Hexameter!

SPRECHER

In diesem Wechsel steckt ein ganzes Programm. Das Metrum, also die festgelegte Kombination langer und kurzer Silben, regelt nicht nur den rhythmischen Fluss. Für römische Ohren ist das Versmaß außerdem stark mit den literarischen Genres verknüpft, erklärt Markus Janka.

02 O-TON Janka

Das Versmaß konditioniert schon das, was man erwartet, und die kontinuierliche Abfolge von Hexametern in einer Langform ist das epische Versmaß schlechthin.

SPRECHERIN

Wenn Ovid nun durchwegs Hexameter einsetzt, ist die Botschaft klar: Er schreibt ein Epos! Er wagt sich an die Meistergattung der Literatur seiner Zeit und tritt in einer Disziplin an, in der Homer und Vergil die Standards setzen. Und diese Standards will er nicht nur kopieren. Ovid braucht es größer. So groß, dass seine knappe Vorrede dafür den Beistand der Götter erfleht:

ZITATOR

Helft mit Inspiration und führt die Erzählung vom ersten Ursprung des Kosmos fortlaufend herab bis zu meiner Zeit.

MUSIK 4  Flore Laurentienne: Point d’ancrage 

SPRECHERIN

Damit ist der Plan raus: Ein Epos soll es sein, das Verwandlungen erzählt und dabei den Bogen spannt vom Anbeginn der Zeit bis in die Gegenwart. Da gibt es nur ein Problem: seinem Epos fehlt ein Held, den es besingen könnte.

SPRECHERIN

Stimmt! Aber Ovid bügelt das Manko genial aus. Sein Held ist ein universales Prinzip: der stete Wandel aller Wesen und Dinge.

SPRECHER

Damit beginnt zugleich die Verwandlung einer Gattung, die Vergil bislang mit seiner Aeneis als römischer Homer und größter Dichter des Imperiums dominiert.

03 O-TON Janka

Ohne Vergil ist Ovid nicht denkbar als Dichter. In fast jeder Zeile ein versteckter und öfter auch ein direkter Bezug auf dieses gigantische Vorbild, an dem er sich abarbeitet und der ihn inspiriert zu einer Art von Dichtung, die dann am Ende ganz anders ist.

SPRECHERIN

Was diese Dichtung derart neu und anders macht, dass sie nicht allein das Epos, sondern auch den Mythos verändert, zeigt die Geschichte von Pygmalion und Galatea.

MUSIK 5  Flore Laurentienne: La nuit bleue 

SPRECHER

Pygmalion schnitzt eine Frauenfigur aus Elfenbein. Er verliebt sich in die Skulptur und nennt sie Galatea. Weil aber Galatea keine wirkliche Partnerin, sondern ein totes Bildwerk ist, bitter er Venus um eine Gattin, die der Statue gleicht. Die Göttin zeigt sich gnädig und verwandelt Galatea in eine lebendige Frau.

SPRECHERIN

Was Venus mit der Statue macht, macht Ovid mit dem Mythos: Er verwandelt mythologische Gestalten in Wesen, die von Gefühl und Leidenschaft gelenkt, ganz wie Menschen empfinden und handeln.

SPRECHER

Ovid reicht die alten Geschichten nicht einfach weiter. Er aktualisiert sie, spürt den Motiven, Auslösern und Folgen des Geschehens nach und gibt den erzählten Figuren eine Tiefe, die sie bislang nicht hatten.

04 O-TON JANKA

Er ist eben nicht jemand, der Mythos konserviert, sondern der vom Mythos geprägt immer die eigene Zeit bedenkt. Das mag jetzt als Anachronismus erscheinen, aber genau das ist es: dass Ovid der erste Dichter ist, der tatsächlich psychologisch nachfragt, was sich aus mythologischen Konstellationen ergibt.

SPRECHER

Das ist der entscheidende Punkt. Genau darum ist Ovid noch immer aktuell. Genau deshalb funktionieren die Metamorphosen nicht nur als literarisches Kunstwerk, und genau darum spielt es für viele Ovidfans auch absolut keine Rolle, in welcher Sprache sie die Geschichten lesen oder welches Medium sie ihnen erzählt.

SPRECHERIN

Ovid fasziniert uns noch immer, weil er das Verwandlungsmotiv nutzt, um menschliche Erfahrungen und Leidenschaften zu erkunden. Er lässt sein mythologisches Personal archetypische Gefühle und Situationen durchleben, die wir alle kennen und nachfühlen können. Und er stellt Fragen, die jeden Menschen angehen: Was machen Liebe und Hass mit uns? Was stellen Willkür, Kränkung und Missbrauch mit uns an? Wie verändern uns Schicksalsschläge und starke Emotionen? Und wie gehen wir damit um, dass nichts bleibt, wie es ist?

SPRECHER

Im Zentrum der mythologisch eingekleideten Menschenforschung steht dabei stets übergroß das Wesen und Wirken der Liebe, sagt Markus Janka.

O5 O-TON Janka

Immer und immer wieder Eros, immer und immer wieder Amor. Und zwar immer und immer wieder in den unterschiedlichsten Konstellationen, so dass auch schon der große Kommentator Franz Bömer gesagt hat, dass man die Metamorphosen als ein einziges Carmen amatorium, als ein episches Gedicht mit dem Thema Eros, mit dem Thema Amor bezeichnen kann.

MUSIK 6  Billie Eilish: Everything I Wanted 

SPRECHER

Die Liebe in allen Facetten! Das ist Ovid! Liebeslieder und Liebeslehren gründen seinen Ruhm, tenerorum lusor amorum, einen Spielmann und Gaukler zärtlicher Launen der Liebe, nennt er sich selbst. Die Metamorphosen bleiben dieser Berufung treu, das Love-Lab der Verwandlungen wimmelt nur so von Paaren, die das Verwirrspiel menschlicher und göttlicher Liebesverstricktheit spiegeln.

SPRECHERIN

Philemon und Baucis, Orpheus und Eurydike, Ceyx und Alkyone, Pyramus und Thisbe – der Musterkatalog ist reich bestückt. Nahezu jede gelungene oder gescheiterte Paarung, derer die Liebe fähig ist, findet ihre Gestalt und Geschichte. Ehelust und Ehefrust, Begehren und Abscheu, Hetero- und Homosexualität, Inzest und Gewalt, Glückseligkeit und Schmerz, Geilheit und Missbrauch – was immer Venus, Eros und Amor im Guten oder Schlechten anrichten – Ovid hat alles auf dem Schirm.

MUSIK 7 Ensemble Modern: A Pig With Wings 

SPRECHER

Die radikale Neufassung der mythologischen Tradition verändert auch die Träger des klassischen Epos. Allem Heldengetöse, allem, was allzu waffenstolz prahlt und scheppert, lässt Ovid genüsslich die Luft aus. Die beste Gelegenheit bietet dazu die sehr eigenwillige, bisweilen burleske Schilderung des trojanischen Kriegs.

06 O-TON JANKA

Da wird dann alles gespiegelt, was in der Ilias dargestellt ist, aber immer subjektiv verdreht. Was eben früher als Makel angehängt wurde, ist ein unglaublich modernes Element, das uns heute anspricht, nämlich die subjektive Brechung dieser Gegenstände, die nicht unvermittelte Darstellung von Kampf und Krieg und Heldentod.

MUSIK 8  John Debney: Dying Hero 

SPRECHERIN

Besonders arg erwischt es Achill. den zornigen Erzheroen des homerischen Trojaspektakels. Bei Ovid ist er eine dumpfe Kampfmaschine, ein Aufschneider und blutrünstiger Wüterich. Einer, der nach getanem Gemetzel gern mit seinen Kriegstaten prahlt. "Man kennt das", wirft Ovids Erzähler ein. "Worüber wüsste ein Achill sonst zu sprechen, und was gäbe es sonst schon groß über Achill zu sagen?"

MUSIK 9 Billie Eilish: No Time To Die 

SPRECHER

Den finalen Schlag erhält der Superkrieger, nachdem er im Kampf gefallen ist und sein Leib verbrannt wird. Statt feierlicher Worte wirft ihm Ovid nur einen spöttischen Kommentar hinterher:

07 O-TON JANKA

Verheizt hatte ihn der Gott, der ihn vorher bewaffnete. Er war in Flammen aufgegangen durch genau den Gott, nämlich Vulkan, den Gott des Feuers und den Schmiedegott, der ihm zuvor die Waffen gegeben hatte.

SPRECHER

Aber einfach nur verheizen reicht nicht, Ovids Heroenkehraus setzt noch eins drauf:

ZITATOR

Schon ist er Asche. Was vom übergroßen Helden übrigbleibt, reicht kaum, um eine Urne zu füllen.

08 O-TON JANKA

Also das ist Ovid. Er kann das Große sehr klein machen, und das Kleine, Randständige kann er großartig entfalten, auch mit einem ganz tiefen psychologischen Einblick und Scharfblick.

SPRECHER

Verblüffend modern ist nicht nur die subjektive Umgestaltung der Tradition, verblüffend modern ist auch Ovids souveränes Spiel mit den Instanzen und Mitteln des Erzählens.

SPRECHER

Der Trick besteht zunächst darin, eine Vielzahl unterschiedlich langer Klein- und Kleinstgeschichten so kunstvoll miteinander zu verweben, dass sie wie aus einem Guss wirken.

SPRECHERIN

Zum Toolset des raffinierten Verknüpfungsmanagements gehört aber vor allem die Vielstimmigkeit der Metamorphosen. Statt eines Haupterzählers schaltet Ovid etwa 40 Binnen-, Neben- und Untererzähler ein, die sich unentwegt gegenseitig kommentieren, ergänzen und widersprechen. 

09 O-TON JANKA

Das ist etwas ganz Wesentliches für Ovid: Dass es immer auch die Gegenstimme, immer auch die andere Stimme gibt. Das führt er weiter und modernisiert es, radikalisiert es. Dass wir also teilweise Untererzählungen bis zum vierten und fünften Grad haben, dass jeweils immer die eine Person die Geschichte der anderen erzählt.

SPRECHER

Das postmodern anmutende Spiel verschachtelter Erzählebenen und subjektiver Sichtweisen setzt sich auf der Figurenebene fort. Die Akteure schwingen Reden, streiten und diskutieren; Götter kommentieren von oben herab, Filous und Philosophen räsonieren über den Lauf der Dinge. Niemand hat den ganzen Überblick, niemand das alleinige Wort, alle weben gemeinsam am epischen Teppich der Metamorphosen.

SPRECHERIN

Deshalb hält Ovid nicht nur Philologen bei Laune. Und deshalb haben wir Ovid nicht längst ausgemustert und können seine Geschichten selbst in der Übersetzung und episodisch genießen.

SPRECHER

Ovid klingt seltsam vertraut. Seine Art zu schreiben nimmt vieles vorweg, was unsere Erwartungen an ein reflektiertes, vielstimmiges, perspektivenreiches und psychologisch grundiertes Erzählen erfüllt. Das überbrückt den zeitlichen Graben und macht die Metamorphosen auch für moderne Lese- oder Mediengewohnheiten zugänglich. 

SPRECHERIN

Das alleine erklärt aber noch immer nicht, warum sich gerade die visuellen Künste so anhaltend und intensiv durch die Metamorphosen anregen lassen. Und es erklärt schon gar nicht, weshalb Video- und Performancekünstler diese Tradition fortsetzen. Für Markus Janka hat neben der psychologischen Vertiefung noch eine weitere Besonderheit den Metamorphosen zu ihrer beispiellos langen Wirkungsgeschichte verholfen:

010 O-TON JANKA

Für den gewaltigen Erfolg, den das Epos bis heute hat, ist seine Bildkraft das Mitentscheidende. Das was ein neuer Forscher Kino im Kopf genannt hat. Es gibt wohl kaum einen Dichter in der Antike, der so plastisch seriell erzählen kann.

SPRECHER

Was Ovid auszeichnet, ist eine stark visuelle, ausgesprochen szenische Erzählweise, die das Geschehen wie eine Textkamera abtastet und aus wechselnden Winkeln erfasst. Ein Musterbeispiel für diese Strategie, die wie eine erstaunliche Vorwegnahme filmischen Erzählens wirkt, ist die Geschichte von Daphne und Apoll.

MUSIK 10  Flore Laurentienne: Île-aux-Oies 

SPRECHERIN

Die Kurzfassung geht so: Apoll kränkt Amor, der aus Rache zwei Pfeile abschießt. Ein goldener Pfeil trifft Apoll, der sich sofort unsterblich in die Nymphe Daphne verliebt. Ein zweiter, bleierner Pfeil trifft Daphne, löst aber keine Liebe, sondern unbezwingliche Abscheu vor Apoll aus. Es kommt, wie es kommen muss. Apoll jagt Daphne, die vor seiner Liebesbrunst flieht. Als sie erschöpft aufgibt, fleht sie ihren Vater, den Flussgott Peneios, an, sie vor der drohenden Vergewaltigung durch die Verwandlung ihres Körpers zu retten.

ZITATOR

Kaum ist die Bitte beendet, lähmt lastende Taubheit die Glieder,

Zarte Brüste umgürtet ein feiner Streifen von Rinde,

Laubwerk sind ihre Haare und Äste die Arme geworden,

und ihr Fuß, so geschwind, bleibt in starrem Wurzelwerk stecken,

ihr Gesicht hat ein Wipfel ersetzt ...

SPRECHER

Den Moment der Verwandlung, das Erstarren im Lauf, das Verholzen der Glieder, das Austreiben der Blätter und Einwurzeln der Füße, Apolls hilfloses Entsetzen haben Maler und vor allem Bildhauer immer wieder auffallend ähnlich gestaltet. Kein Wunder, meint Markus Janka:

011 O-TON JANKA

Dieses visuelle Erzählen spricht Maler, Bildkünstler unmittelbar an. Der Weg zum Baum wird durch die verschiedenen Körperteile, als wenn eine Kamera das aufnimmt, verfolgt. Aber diese Form der poetischen Verdeutlichung dieser Klärung, diese Verklärung im Wortsinn, dass etwas ganz klar und deutlich vor Augen geführt wird, das ist eine Eigenheit seiner Erzählkraft.

MUSIK 11  Flore Laurentienne: La nuit bleue 

SPRECHER

Letztlich ist gerade dieser eine Moment der Verwandlung das Gravitationszentrum des gesamten Werks. Am Ende, im letzten der 15 Bücher, legt Ovid dem Philosophen Pythagoras eine Rede in den Mund, die den gedanklichen Kern prägnant verdichtet:

ZITATOR

Omnia mutantur nihil interit – Alles wird verwandelt, nichts vergeht!

SPRECHERIN

Das Gesetz des Wandels kennt keine Ausnahme. Es gilt universal, nichts und niemand entkommt. Nicht einmal Kaiser Augustus, der Stabilität, ewigen Frieden und ein Imperium sine fine, ein Reich ohne Ende und Grenzen verkündet.

SPRECHER

"Von wegen", werfen die Metamorphosen unüberhörbar ein. Wo der Wandel regiert, ist Dauer ein leeres Versprechen. Was aber bleibt? Was hat Bestand, wenn sich fortwährend alles verändert und sogar Kaiser Augustus seine irdische Herrschaft einbüßt? Ovid bleibt die Antwort nicht schuldig.

ZITATOR

Nun ist mein Werk vollendet, das kein Jupiterzorn und kein Feuer, keine Waffengewalt, kein Zahn der Zeit jemals auslöscht. Mein Name wird unaustilgbar, ich werde durch ewigen Nachruhm (..) leben.

SPRECHERIN

VIVAM! Ich werde leben! Das ist der selbstbewusste, über alle Daseinsschrecken und Machtwillkür hinausweisende Trost der Metamorphosen. Es ist die Antwort des Künstlers auf die Frage, was bleibt. Und es ist zugleich die triumphalste, die wichtigste aller Metamorphosen: Ovid hat sich in seine Dichtung verwandelt und ist in dieser Gestalt unsterblich geworden.

ATMO Applaus

MUSIK  Tobi Morare: Ghetto Beat 

SPRECHER

Hochverehrtes Publikum! Unser Stück ist zu Ende. Ovid aber lebt. Ovid fängt immer erst an. Daher gebührt ihm, bevor der Vorhang fällt, ein allerletztes Wort in eigener Sache. Es ist die Inschrift, die er sich als Grabspruch schrieb für ein Grab, das wir nicht kennen:

ZITATOR

Hier liege ich, Naso, der Dichter, ein Spielmann der zärtlichen Liebe. Ich bin durch meine Kunst umgekommen. Falls aber du, der du vorbeigehst, jemals geliebt hast, sag einfach leichthin: Mögen Nasos Gebeine sanft ruhen.



fyyd: Podcast Search Engine
share








   22m