Treffpunkt Klassik

Hier dreht sich alles um Klassik: im Treffpunkt Klassik von SWR2 sprechen wir mit Künstler*innen, berichten über Konzerte und Festivals im Sendegebiet, kommentieren aktuelle Ereignisse im Musikleben, und stellen neue Musik vor. Zur ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/swr2-treffpunkt-klassik/8758432/

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Wie uns etwas verloren ging: „Das Echo der Zeit“ von Jeremy Eichler


„Geiste Tradition“ Der Untertitel von Jeremy Eichlers Buch lautet in deutscher Übersetzung: „Die Musik und das Leben im Zeitalter der Weltkriege“. Dieses Leben wird mitunter beschrieben durch eine Anekdote wie diese: Stefan Zweig, der vor 1933 erfolgreichste österreichische Autor, investierte seine enormen Einnahmen vor allem in Devotionalien der Musikgeschichte – sozusagen in Reliquien: So besaß er von Mozart einen Ehevertrag; von Beethoven einen Kompass, eine Geige und einen Sahnelöffel. Der Gegenstand, den Zweig am meisten schätzte und den er bis zum letztmöglichen Augenblick bei sich behielt, war Beethovens Schreibtisch. Er benutzte ihn als eigenen Schreibtisch und bezeichnete ihn als ‚Familienheiligtum‘. Im Buch von Jeremy Eichler scheint es völlig plausibel, dass ein Geistesmensch wie der jüdische Autor Zweig seine Wohnung in den Jahrzehnten zuvor mit einer musikhistorischen Aura deutschen Akzents ausgestattet hatte. Zweig lebte in einer geistigen Tradition, auch wenn er kein Musiker war. Das Staunen über diese Tradition aus der Sicht eines Amerikaners durchzieht Eichlers Buch. Musikalische Splitter Deutschland als Idee, die in Musik aufgehoben war, bis die Nazis diese Idee pervertierten – indem sie zum Beispiel Komponisten von Mendelssohn bis Mahler verboten. Strukturiert wird das Buch durch die tragischen Lebenswelten von Arnold Schönberg, Richard Strauss, Dmitri Schostakowitsch und Benjamin Britten. Es geht um die Trümmer und die Splitter jenes ideellen, in der Musik aufgehobenen Deutschlands. Es sind Splitter, die sich, un- oder willentlich, in Werk und Persönlichkeit dieser Komponisten eingruben.  Sei es Benjamin Brittens widersprüchlicher Pazifismus oder Richard Strauss’ selbstgerechte Nazi-Anbiederung: Der Amerikaner Eichler stößt manchmal auf eine unheimliche Gegenwart der Vergangenheit, so in Garmisch-Partenkirchen: Mein Gastgeber, ein sympathischer Musikwissenschaftler, der das Richard-Strauss-Institut leitet, nickte verständnisvoll. Fast vier Monate danach erhielt ich ein Schreiben dieses Leiters. Darin teilte er mir mit, dass die Familie Strauss keines der erbetenen Dokumente zugänglich machen würde. Zweckentfremdete Musik Aber Jeremy Eichler, geboren 1974, hat auch den Abstand, um auf Strauss’ Denken und Handeln, auf seine Attitüde des Nietzscheanischen Übermenschen sehr analytisch zu blicken. Ausgangspunkt ist ein musikalischer Motivsplitter in Strauss’ resignativem Streicherstück „Metamorphosen“ aus dem Jahr 1945. „Alle Menschen werden Brüder“: Deutsche Musik war seit dem neunzehnten Jahrhundert bis 1945 nie nur Musik, nie frei von Humanismus als universeller Idee – das musste auch der alte Strauss noch erfahren. Und diese Tatsache wirkte weit über Deutschland hinaus. Selbst Schostakowitschs dunkle Dreizehnte Sinfonie über das Massaker der Deutschen Wehrmacht im ukrainischen Babi Jar stammte letztlich von der musikalischen Poetik des deutschen Musikheros Beethoven ab.  Verlorengegangener Sinn für humanistische Bedeutung Und noch einmal recherchiert Jeremy Eichler so obsessiv, dass sich historischer Abstand und Nähe auf schockierende Weise treffen. Eichler fährt noch kurz vor Putins Angriff zu dem Ort, wo das Sowjet-Regime jede nur erdenkliche Spur zur deutschen Untat an ukranischen Juden verwischen ließ – die Schlucht Babi Jar wurde buchstäblich aufgefüllt. Jeremy Eichlers „Das Echo der Zeit“ richtet sich an musikalisch wie historisch Interessierte. Die sehr gute Übersetzung stammt von Dieter Fuchs. Das Buch stößt uns, ohne es zu betonen, auf eine Tatsache: Im Land Beethovens selbst ist etwas verloren gegangen – und das ist nicht unbedingt die Musik selbst: Es ist der Sinn für die humanistische Bedeutung, die sie in diesem Land einmal hatte. Da können wir noch so viele Mendelssohn-Denkmäler rekonstruieren.


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