Alles Geschichte - History von radioWissen

Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.

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JÜDISCH-BAYERISCHE SPURENSUCHEN - Der Orientalist Karl Süßheim


Viele Jahrzehnte lang war der jüdische Orientalist und Historiker Karl Süßheim vergessen, obwohl er Anfang des 20.Jahrhunderts in Bayern durchaus ein Mann von Bedeutung war. Seine Leidenschaft für Orientalistik und seine Sprachkenntnisse machten ihn während des Ersten Weltkrieges sogar unentbehrlich. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten änderte sich sein Leben schlagartig. Doch vergessen wurde Karl Süßheim erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Warum? Und wie wurde er wiederentdeckt? Von Ulrike Beck (BR 2024)

Credits
Autorin: Ulrike Beck
Regie: Christiane Klenz
Es sprachen: Laura Maire, Stefan Merki, Christopher Mann
Technik: Roland Böhm
Redaktion: Thomas Morawetz
Im Interview: Dr. Kristina Milz, Lisa D’Angelo

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

Wir bedanken uns bei der Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die uns bei dieser Folge wissenschaftlich beraten hat. Mehr Infos zum Projekt gibt es HIER.

Literaturtipps:

Kristina Milz (2022): Karl Süßheim Bey (1878-1947). Eine Biografie über Grenzen. Metropol-Verlag.

Er war ein glühender bayerischer Patriot, tiefgläubiger Jude und leidenschaftlicher Orientalist: Der in Vergessenheit geratene Karl Süßheim hat die Grenzen seiner Zeit herausgefordert wie kaum ein anderer. Er wuchs in Nürnberg auf, lebte als junger Mann lange im Nahen Osten. An der Universität München unterrichtete er bekannte Wissenschaftler wie Gershom Scholem und Franz Babinger, bis die Nationalsozialisten ihn entließen. Eine sehr ausführliche und detaillierte Biografie über das Leben und Werk Karl Süßheims. Hier geht’s zum BUCH.

Kristina Milz (2022): Karl Süßheim (1878-1947). Ein verfolgter Wissenschaftler und seine Universität. In: Einsichten und Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte der Bayerischen Landeszentrale für politische Bildung. Ausgabe 02/22, S. 64 – 72.

Immer wieder stößt die Wissenschaft auf faszinierende bayerisch-jüdische Biografien von Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden sind, obwohl ihre Rolle in der Geschichte eine besondere war: Protagonisten der Geschichte wie Karl Süßheim sind nicht zufällig vergessen worden. Die Reihe „Bayerns vergessene Kinder“ porträtiert jüdische Biografien, die eine damnatio memoriae zum Opfer gefallen sind – und ihrer Wiederentdeckung harren. Hier geht’s zum ARTIKEL.

Barbara Flemming & Jan Schmidt (2002): The diary of Karl Süssheim (1878-1947). Orientalist between Munich and Istanbul. Stuttgart: Steiner Verlag.

The orientalist Karl Süssheim kept his Diary in Turkish – and later in Arabic – from his early years in the Ottoman Empire through the Young Turk Revolution of 1908 and after his return to Germany, through war, revolution, and the horrors of Nazi rule. This book presents selected episodes in translation from the surviving parts of Süssheim’s Diary, covering the years 1908 to 1940. In its detached style it allows the reader a remarkable insight into Süssheim’s family surroundings, his academic career at Munich University, and the eventful times he lived through. Hier geht’s zum BUCH.

Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. 

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel
TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel
TC 08:30 - Schicksalsjahre
TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf
TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis
TC 22:03 – Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

TC 00:15 – Intro

MUSIK

Erzähler
Karl Süßheim. Die Historikerin Kristina Milz wird hellhörig, als sie auf den Namen stößt.

1.O-Ton (Kristina Milz)
Also ich habe an der LMU Magister Geschichte studiert und hab mich damit auseinandergesetzt, wie die Historiker an der LMU mit dem Nationalsozialismus umgegangen sind. Und dafür hab ich mir erstmal angeschaut, wer von 1933 bis 45 in der Fakultät überhaupt da war. Und da ist mir sein Name aufgefallen. Also er war 1933 noch da, im Sommersemester, und es war ein klar erkennbar jüdischer Name und verschwindet dann eben sang- und klanglos und man hört nichts mehr von ihm. Da war mir relativ schnell klar, er muss einer der Opfer der Rassenpolitik gewesen sein, also dieses Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Und dachte natürlich, dass sich im Historicum in der Bibliothek Literatur dazu finden lässt.

MUSIK

Erzählerin:
Doch auch nach längerer Suche stellt sich heraus: Es gibt nichts.

2.O-Ton (Kristina Milz)
Und so bin ich dann natürlich sehr neugierig worden.

Erzählerin
Das Ergebnis ist eine Dissertation, die 2022 als Biografie erscheint und den Titel trägt: „Karl Süßheim Bey. Eine Biografie über Grenzen“. 
Kristina Milz hat ihre Dissertation am Institut für Zeitgeschichte in München verfasst. Seit 2022 arbeitet sie auch für die Ad hoc-Arbeitsgruppe „Judentum in Bayern in Geschichte und Gegenwart“ an der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die sich der Erforschung und Vermittlung jüdischen Lebens in Bayern widmet.

Erzähler 
Während der Recherchen zu ihrer Biographie stößt Kristina Milz darauf, dass Jahrzehnte vor ihr im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt auf Karl Süßheim aufmerksam geworden sind. Und in langjähriger Kleinarbeit seine Tagebücher ins Englische übersetzt haben.

Erzählerin
Es sind zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die Kristina Milz damit auf Englisch zur Verfügung stehen. Um mit den übrigen Quellen und dem Nachlass arbeiten zu können, nimmt sie Sprachunterricht am Münchner Nahostinstitut, wo der Name Süßheim ihrem Dozenten noch geläufig ist:

3. O-Ton (Kristina Milz)
Das heißt, ich musste tatsächlich anfangen, erst mal Türkisch zu lernen, habe auch Arabischkurse belegt und habe dann eben das Osmanische […], dafür gibt es an der LMU auch Kurse, und da bin ich auch dringesessen. Mein Osmanisch-Dozent hat auch immer gesagt: Kristina, du lernst nicht Osmanisch, Du lernst Süßheim!

TC 02:48 – Orientalistik statt Hopfenhandel

MUSIK

Erzähler
Karl Süßheim kommt am 21. Januar 1878 in Nürnberg zur Welt. Sein Vater Sigmund betreibt einen florierenden Hopfenhandel, die Mutter Clara stammt als Tochter des Fabrikanten und Politikers David Morgenstern aus sehr wohlhabenden Verhältnissen.

Erzählerin
Karl wächst also gemeinsam mit seinem älteren Bruder Max und seiner jüngeren Schwester Paula in einer wohlsituierten und jüdisch-liberalen Familie auf.

Erzähler
Sigmund Süßheim möchte selbstverständlich, dass einer seiner Söhne das erfolgreiche Geschäft übernehmen soll. Doch der Hopfenhandel interessiert weder Max, noch Karl.

Erzählerin
Nachdem Max nach dem Abitur seinen Weg als Jurist und späterer SPD-Politiker im Bayerischen Landtag einschlägt, entscheidet sich auch Karl gegen den Wunsch des Vaters. Er beginnt 1896, Geschichte zu studieren. Zunächst in Jena, dann in München, Erlangen und Berlin.

Erzähler
In Berlin besucht Karl das Seminar für orientalische Sprachen und lernt dabei junge Gaststudenten aus dem Osmanischen Reich kennen. Woher sein Interesse an dieser Region kommt, lässt sich nur rekonstruieren.

4.O-Ton (Kristina Milz)
Das durfte seine Familie auf keinen Fall wissen, weil die Orientalistik damals ja auch noch sehr so als Orchideenfach verschrien war. Und als Karl Süßheim dann in Berlin war, (…) war einige Jahre zuvor das sogenannte Seminar für Orientalische Sprachen gegründet worden. (…) Also in dieser Zeit muss man sich vorstellen, entsteht eigentlich die Islamwissenschaft. Es entsteht dieses Fach, das sich mit dem „zeitgenössischen Orient“, wie man damals gesagt hat, beschäftigt hat. Und das ist genau das, was Karl Süßheim dann interessiert hat.

TC 04:34 – Die Zeit in Konstantinopel

MUSIK

Erzählerin
Gleich nach der Abgabe seiner Dissertation über die „Preußischen Annexionsbestrebungen in Franken…“ zieht Karl Süßheim 1902 für einige Jahre nach Konstantinopel. Um dort seine Sprachkenntnisse im Türkischen und Arabischen zu vertiefen.

Erzähler
In Konstantinopel erlebt der frisch promovierte Historiker eine ganz andere Atmosphäre als im Kaiserreich.

5.O-Ton (Kristina Milz)
Als er zuerst nach Konstantinopel gekommen ist und sich vor allem in diesem sultanstreuen Umfeld bewegt hat, war er ja durchaus an der einen oder anderen Stelle mit Antisemitismus konfrontiert. (…) Aber bei ihm ist es tatsächlich so, dass er erstmals in seinem Leben nicht in erster Linie als Jude wahrgenommen wird. In ihm wird vor allem der deutsche Wissenschaftler gesehen, der sich diese Sprachen so gut angeeignet hat und mit dem man jetzt eben über Politik und Geschichte und dergleichen diskutieren kann. Und noch sehr viel evidenter wird das dann, wenn er sich mit den sogenannten ‚Jungtürken‘ abgibt, also der osmanischen Opposition, die sehr nach Westen ausgerichtet war, die sehr auf Modernisierung geschaut hat und auch genau das einfordern wollte vom Sultan.

Erzählerin
Karl Süßheim ist selbst zunächst überzeugter Konservativer und Monarchist.

6.O-Ton (Kristina Milz)
Als Karl Süßheim ins Osmanische Reich kam, war er politisch äquivalent eigentlich aufgestellt zu seiner Einstellung im Kaiserreich also sehr königstreu und patriotisch. Und hat dann aber eben dadurch, dass er diesen Kontakt mit den Jungtürken in Kairo hatte, zum ersten Mal die Idee des Tyrannensturzes für sich auch akzeptiert. Und war dann auch mitten im Zentrum dieser Revolution.

Erzähler
Die Jahre im Osmanischen Reich sind in Süßheims Leben in vielerlei Hinsicht ein Wendepunkt. Er, der Zeit seines Lebens kein guter Netzwerker war, sucht plötzlich die Nähe zu orientalischen Intellektuellen und knüpft Kontakte. Dabei findet er auch den Zugang zu seinem Glauben.

7.O-Ton (Kristina Milz)
Er macht es in seinem Tagebuch gar nicht so explizit, an welcher Stelle es dann so ist, dass er wirklich jüdisch gläubig wird. Aber man sieht, er beschäftigt sich eben mit dem Islam auch sehr intensiv. Er hat zum Beispiel Kontakt mit dem Islamgelehrten Musa Kazim, der später dann der Scheichülislam, also der Großmufti eigentlich von Konstantinopel wird. Also das ist derjenige, der Süßheim zum Islam bringen will und da wird viel diskutiert. Und als er sich dann davon wieder abgrenzt und abwendet, findet er immer mehr Kontakt, auch mit den orientalischen Juden und beschäftigt sich dann damit und kommt dann eben sehr gläubig zurück.

MUSIK

Erzählerin
Karl Süßheim ist 30 Jahre alt, als er zurückkehrt und an der Uni München beginnt, seine Habilitation zu schreiben. Darin beschäftigt er sich mit der Geschichte der Dynastie vor den Osmanen: den Seldschuken.

Erzähler
Als frisch habilitierter Privatdozent gibt er ab 1911 an der Münchner Universität Kurse in Arabisch, Persisch und Osmanisch. Anfangs ist die Zahl seiner Studenten noch überschaubar, aber mit Beginn des Ersten Weltkrieges ändert sich das schlagartig.

Erzählerin
Mit dem Osmanischen Reich als Verbündeten wollen plötzlich viele Studenten Türkisch lernen. Es entsteht ein regelrechter Boom auf die Expertise des Karl Süßheim. Wobei er nicht nur an der Uni gefragt ist.

8.O-Ton (Kristina Milz)
Im Ersten Weltkrieg war es so, dass Süßheim nicht eingezogen wurde, weil er eben an der Heimatfront, wie man es nannte, unentbehrlich war. Das lag daran, dass er eben als einer der wenigen diese Sprachkenntnisse hatte und dann in vielerlei Hinsicht helfen konnte zu Hause. Zum einen bei der Zensur, also bei der bayrischen Militärzensur hat er gearbeitet. Er hat aber auch als Dolmetscher gearbeitet. Wenn zum Beispiel jungtürkische Delegationen zu Besuch waren, dann ist er mit denen mitgefahren und hatte eben übersetzt.

TC 08:30 - Schicksalsjahre

MUSIK

Erzähler
Ab 1919 unterrichtet Karl Süßheim als außerordentlicher Professor die Sprachen Arabisch, Persisch und Türkisch. Er ist inzwischen 41 Jahre alt und noch immer Junggeselle.

Erzählerin
Karl findet erst acht Jahre später die Frau, die zu ihm passt. Mit Karolina Plank, einer tiefgläubigen Katholikin. Ausgerechnet er, der als einziger in seiner Familie ein gläubiger Jude ist, lässt sich 1927 auf eine gemischt-konfessionelle Ehe mit Karolina ein.

9.O-Ton (Kristina Milz)
Man muss aber schon auch sagen, das war sicher für ihn ein großer Schritt zu gehen, weil er davor sehr, sehr lange explizit nach einer jüdischen Frau gesucht hat. Er hat sich dann aber von seiner Frau versprechen lassen, dass er für die religiöse Erziehung der Kinder zuständig sein wird in der Ehe. Und wir reden vom Jahr 1927. Da hat sie sich auch darauf eingelassen, weil sie auch noch überhaupt gar nicht wusste, was das für Auswirkungen haben wird.

Erzähler
1929 kommt Tochter Margot zur Welt, die zweite Tochter Gioconda wird 1934 geboren. Ein Jahr, nachdem sich für Karl Süßheim und seine Familie alles verändert hat.

10.O-Ton (Kristina Milz)
1933, kann man zweifellos sagen, dass das das allerschlimmste Jahr in seinem ganzen Leben war. Also neben der nationalsozialistischen Machtübernahme stirbt erstmal sein Bruder an einem Schlaganfall. Dann wird durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums ihm seine Stelle an der Universität genommen. Und seine Mutter stirbt auch noch in diesem Jahr. Also alles passiert innerhalb eines Jahres, und da ist der Bruch zwischen der Zeit davor und diesem Jahr ganz extrem in den Quellen.

Erzählerin
Nach der Pogromnacht vom November 1938 wird Karl Süßheim für 16 Tage im Konzentrationslager Dachau inhaftiert. Er schreibt über diese Zeit auf Arabisch in sein Tagebuch und schafft damit laut Kristina Milz ein einzigartiges Dokument. In dem er nicht nur nüchtern Fakten für die Nachwelt festhält, sondern auch sehr akkurate Skizzen vom Konzentrationslager anfertigt, die er auf Arabisch beschriftet.

11.O-Ton (Kristina Milz)
Und man muss sich vorstellen, er war jemand, der natürlich ein relativ behütetes Leben hatte. Und plötzlich kommt er in dieses Konzentrationslager, sieht, dass Menschen erschossen werden. Sieht, dass Menschen zusammenbrechen, wird geschlagen, weil er sich nicht als Judenschwein bezeichnen will. All diese Dinge passieren ihm dort. Und nachdem er zuvor immer gesagt hat, er geht nicht aus Deutschland weg, weil das seine Heimat ist – Bayern, seine Familie lebt seit Jahrhunderten in Bayern –, denkt er dann um. Dabei muss man aber auch wissen, dass er unterschreiben musste, dass er das Land verlassen wird, als er aus dem Konzentrationslager entlassen wird.

TC 11:25 – Ein zweiseitiger Ruf

Erzähler
Erst im Sommer 1941 gelingt es Karl Süßheim mit seiner Frau und den Töchtern, nach Istanbul zu emigrieren. Sie sind eine der letzten Familien in Bayern, die der Schoa entkommen sind. Ein Teil seiner Privatbibliothek wird beschlagnahmt und landet in der Bayerischen Staatsbibliothek.

Erzählerin
Da aber auch die Türkei zu diesem Zeitpunkt eigentlich keine deutschen Juden mehr aufnimmt, musste das türkische Kabinett eine Ausnahme für Karl Süßheim beschließen. Seine Aufenthaltsgenehmigung ist damit verbunden, dass er an der dortigen Universität unterrichtet. Damit steht er zwar unter Druck, aber auch endlich wieder im Hörsaal. Die Bedingungen an der Universität Istanbul brachten für Karl Süßheim einige Herausforderungen mit sich: Er musste um seinen Professorentitel kämpfen, seine Publikationstätigkeit war eingeschränkt. Auch in der Lehre musste er sich erst eingewöhnen.

12. O-Ton (Kristina Milz)
Man muss sich auch diese Situation mal vorstellen, also er hatte jahrelang während des Nationalsozialismus wenige Schüler bis gar keine Schüler. Er hatte vielleicht noch ein paar Privatstunden gegeben für die Leute, die sich das getraut haben. Und plötzlich ist er da in der Türkei und steht vor vollen Hörsälen, und alle wollen über die türkische Geschichte bei ihm lernen. Es ist auch interessant, weil in seinem Nachlass finden sich die Inskriptionslisten, wo man die ganzen Namen der türkischen Studierenden sieht, die sich für seine Vorlesungen angemeldet haben. Und es sind seitenweise Einträge.

MUSIK

Erzähler
Karl Süßheim bleiben nur wenige Jahre im Exil. Er stirbt am 13. Januar 1947 mit nur 68 Jahren an den Folgen einer Nierenerkrankung. Und wird auf dem jüdischen Friedhof in Istanbul beerdigt. An seinem Grab spricht der jüdische Romanist Erich Auerbach die Worte:

Zitator
Auf dem Gebiet der türkischen Geschichte wird der Name Karl Süssheim nicht vergessen werden und nicht vergessen werden können.

Erzählerin
Was Süßheims Reputation in der Türkei angeht, sollte Auerbach Recht behalten. Doch in Deutschland passiert das Gegenteil: Der einstige Professor für orientalische Sprachen und die „Geschichte der mohammedanischen Völker“ gerät in Vergessenheit.

Erzähler
Nicht zuletzt, weil die Ludwig-Maximilians-Universität keinen Nachruf auf ihren einstigen Professor Karl Süßheim herausgibt. Obwohl eine Würdigung von ehemals verfolgten Wissenschaftlern in der Nachkriegszeit eigentlich zum Standard gehört.

Erzählerin
Und auch Süßheims Witwe wird lange ignoriert. Karolina, die nach dem Tod ihres Mannes in die USA ausgewandert ist, wendet sich 1947 mit der Bitte um eine Witwenrente an die Uni. Und muss 11 Jahre lang dafür kämpfen:

13.O-Ton (Kristina Milz)
Man könnte ja meinen, so wie ich auch eben damals auf ihn gestoßen bin, dass er eben einfach vergessen wurde. Man sieht aber sehr deutlich eben an den Quellen auch im Universitätsarchiv, dass das nicht der Fall war, weil die LMU fast 20 Jahre lang damit beschäftigt war, kein Geld auszugeben in der Sache Süßheim. Also diese Quellen im Universitätsarchiv, die betreffen die Universität, das Finanzministerium, das Kultusministerium und so weiter. Und man sieht daran auch, dass zum Beispiel noch mit nationalsozialistischer Gesetzgebung wirklich argumentiert wird. Also es wird dann zum Beispiel, wenn es um die Frage geht, ob seine Witwe Witwenrente bekommt, mit dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums von 1933 argumentiert.  Und es stellt sich bei ihm sehr lange nicht einmal die Frage in den Dokumenten, was denn mit ihm passiert wäre, wenn es den Nationalsozialismus nicht gegeben hätte.

MUSIK

Erzähler
Erst nachdem Karolina Süßheim 1951 die United Restitution Organization bevollmächtigt, sich ihres Falls anzunehmen, fordert das Kultusministerium die Personalakte Süßheims bei der Uni an.

Erzählerin
Es werden Gutachten in der Causa Süßheim eingeholt. Unter anderem vom Dekan der Philosophischen Fakultät Anton Spitaler, der während der NS-Zeit Stipendiat der gleichgeschalteten Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft bei der Korankommission der Bayerischen Akademie der Wissenschaften war. Und im Zweiten Weltkrieg der Wehrmacht in Belgien und Frankreich als Dolmetscher gedient hatte. In seinem Gutachten fällt Spitaler ein vernichtendes Urteil über seinen ehemaligen Lehrer.

14.O-Ton (Kristina Milz)
Anton Spitaler (…) wurde direkt gefragt, wie die Karriere von Karl Süßheim weitergegangen wäre, hätte es den Nationalsozialismus nicht gegeben. Und dieses Gutachten ist wirklich erstaunlich vernichtend. (…) Er macht seine Sprachenkenntnisse zum Beispiel sehr schlecht, sagt die wären nicht vorhanden gewesen. Das sind ganz offensichtliche Lügen, die in diesem Gutachten drinstehen. Und an einer Stelle schreibt er sogar noch, er hätte durchaus etwas von Karl Süßheim gelernt, aber das hätte er eher aus ihm herausgeholt, als dass Süßheim es ihm gegeben hätte. Das war natürlich schon sehr bezeichnend. Und man muss sich vor Augen halten, dass es zu dem Zeitpunkt ja überhaupt nicht mehr darum ging, Karl Süßheims Karriere voranzutreiben oder dergleichen, er war ja längst tot. Also es ging wirklich nur noch darum, seine Familie zu entschädigen.

Erzähler
Dieses Gutachten geht in die Bewertung des Falles ein. Erst 11 Jahre nach dem Tod ihres Mannes bekommt Karolina Süßheim ab 1958 eine entsprechend kleine Entschädigung. Weitere sieben Jahre später wird der Fall zu den Akten gelegt.

TC 16:57 – Kampf ums Vermächtnis

MUSIK

Erzählerin
Während in Bayern der Name Süßheim bis zu Beginn dieses Jahrhunderts in Vergessenheit gerät, machen sich im niederländischen Leiden die Orientalistin Barbara Flemming und ihr Kollege Jan Schmidt daran, Süßheims Tagebücher ins Englische zu übersetzen. Zeitgeschichtliche Dokumente von unschätzbarem Wert, die lange Zeit unentdeckt waren.

15.O-Ton (Kristina Milz)
Weil er sehr viele Handschriften gesammelt hat, im Laufe seines Forscherlebens also originale Handschriften aus dem Nahen Osten und die auch zusammengehalten hat. Seine Witwe hat diese Handschriftensammlung dann verkauft, und die ist in Teilen in Berlin und in Teilen in Washington gelandet. Und in Berlin – bei diesen Handschriften befand sich eben auch sein Tagebuch, was die Witwe bestimmt nicht gewusst hat, weil das natürlich nicht unterscheidbar war zu anderen Notizen, die er gemacht hat für sie, weil es in fremden Sprachen war. Und deswegen sind eigentlich Wissenschaftler erstmals wieder mit ihm in Kontakt gekommen, weil sie sich seine Handschriften angeschaut haben und dann das Tagebuch gefunden haben.

Erzähler
Die Edition „The Diary of Karl Süssheim“ erscheint 2002 und löst eine Welle der Erinnerung aus. Oder wie die FAZ damals schreibt:

Zitator
Erst die kommentierte Übersetzung der Tagebücher gibt Süssheim sein Leben zurück, macht aus dem Vergessenen und Unbekannten einen an allem interessierten Menschen im Wirbel des dramatischen Geschehens der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts.

MUSIK

Erzählerin
Nicht nur die Bayerische Staatsbibliothek setzt ab 2003 ein Restitutionsverfahren ein, sondern auch die Provenienzforschung des Stadtarchivs Nürnberg wird aktiv. Und setzt sich mit der Familie Süßheim in Verbindung. Für Lisa D’Angelo, der Enkelin von Karl Süßheim, eröffnet sich damit ein ganz neuer Zugang zur eigenen Familiengeschichte:

16.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
2014 hatte ein Archivar das Internet genutzt, um meine 84-jährige Tante Margot in New York ausfindig zu machen, wo sie seit über 65 Jahren lebte. Er wollte sie wissen lassen, dass das Archiv ein antikes Buch mit dem Süßheimer Exlibris besaß. Und dieses Buch war von den Nazis beschlagnahmt worden, kurz bevor mein jüdischer Großvater und meine katholische Oma und ihre beiden Mädchen nach Istanbul geflohen waren. Und als das Nürnberger Archiv mit meiner Tante Margot Kontakt aufgenommen hat, hat sich uns natürlich eine ganz neue Welt der Familie Süßheim eröffnet.

Erzähler
Margot Süßheim ist es, die beginnt, als Zeitzeugin über ihren Vater zu sprechen. Und auch ihrer Nichte einige Details über die Schwierigkeiten ihrer Familie während der Nazizeit zu erzählen. Allerdings erst, als Lisa erwachsen ist.

17.O-Ton (Lisa D‘Angelo)
Ehrlich gesagt, wusste ich nur sehr wenig über meinen Großvater. Als Kind hörte ich, dass mein Großvater ein Sprachwissenschaftler war, der etwa 15 Sprachen beherrschte. Ich hörte auch, dass seine Mutter Clara ein bisschen schwierig war. Und sie sammelte auch Dinge, die mein Großvater auch geerbt hatte. Und seine Vorliebe für das Sammeln von Büchern rettete tatsächlich die Familie, denn meine Oma verkaufte seine umfangreiche Büchersammlung an die Yale University in den USA, um die Schiffstickets zu kaufen, mit denen sie von Istanbul nach New York auswandern konnten.

Erzählerin
Lisa D’Angelo ist das öffentliche Gesicht der Familie Süßheim. Sie verwaltet nicht nur den privaten Nachlass ihres Großvaters, sondern reist auch nach Deutschland, um Ausstellungen zu eröffnen oder Vorträge zu halten. So wie 2022 im Münchner Literaturhaus. Da hatte sie die weite Anreise von Chicago auf sich genommen, um zur Vorstellung von Kristina Milz´ Biografie „Karl Süßheim Bey“ zu sprechen; der ersten umfassenden Biografie des bedeutenden bayerischen Orientalisten.

MUSIK

Erzähler
Karl Süßheim hat ein kostbares Erbe hinterlassen. Eines, das viel zu lange im Verborgenen geblieben ist, sagt Kristina Milz:

18.O-Ton (Kristina Milz)
Ich finde es vor allem eben sehr wichtig, weil oftmals davon ausgegangen wird, man hätte zum Nationalsozialismus schon alles erzählt. Und gerade die Geschichte von Karl Süßheim zeigt auch mal wieder, dass wir noch lange nicht fertig sind damit, diese Zeit uns anzuschauen.

TC 22:03 – Outro


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