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Trauma Schuld - Dinge, die nicht wiedergutzumachen sind


36.000 Menschen werden jährlich im Verkehr verletzt und 2.800 Menschen getötet. Oft ist der Unfall auch für die Verursacher traumatisch. Sie verzweifeln, weil sie keinen Weg finden, mit der großen Schuld zu leben. Zwar gibt es keine Wiedergutmachung, doch es kann gelingen, weiterzuleben. Von Karin Lamsfuß

Credits
Autorin dieser Folge: Karin Lamsfuß
Regie: Susi Weichselbaumer
Es sprachen: Katja Amberger, Herbert Schäfer
Technik: Andreas Lucke
Redaktion: Bernhard Kastner

Im Interview:
Silke von Beesten, Notfallpsychologin, Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland;
Verena König, Traumatherapeutin;
Dr. Christoph Quarch, Philosoph und Theologe;
Melanie Regus, Unfallverursacherin
Conny Vogt, ihr Mann kam bei einem Verkehrsunfall ums Leben

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

O-Ton 1 Melanie Regus: 

Ich habe vor 20 Jahren einen Menschen überfahren.

O-Ton 2 Melanie Regus: 

Es ist so, dass ich rechtlich gesehen eine Täterin bin und auch bleiben werde. Den Rest meines Lebens.

O-Ton 3 Melanie Regus:

Und man fragt sich dann manchmal auch so was wie: Was hab ich im Leben getan, dass ich das verdiene? Dass mir das geschieht? Hab ich etwas getan?

O-Ton 4 Melanie Regus: 

Ich habe viele, viele Jahre keine Antwort darauf gehabt, weil faktisch ist es so, dass ich verantwortlich bin für den Tod dieses Menschen. Ich bin schuld daran, dass dieser Mensch nicht mehr in der Mitte seiner Lieben ist.

Sprecherin: 

Es war einer der ersten schönen Frühlingstage. Melanie Regus war damals gerade 20. Sie fuhr mit ihrem Auto in vorgeschriebener Geschwindigkeit auf der Landstraße. 

O-Ton 5 Melanie Regus: 

Ich hatte das Fenster unten, ich kann mich sogar an den Wind in meinem Haar erinnern. Ich kann mich dann aber nur noch fragmentarisch an das erinnern, was passierte, dass ich nämlich in die Spurrinne gekommen bin neben der Fahrbahn, als Fahranfängerin gegengelenkt habe, auf die andere Fahrbahnseite geschleudert bin und auf der kam ein Radfahrer, den ich dann überfahren habe.

MUSIK Source Code 

O-Ton 6 Melanie Regus: 

Und es kam ein Polizist und hat mir die schöne Nachricht überbracht: „Wir fliegen ihn jetzt gleich weg ins Klinikum, er wird’s schaffen!“ Und ich kann mich dran erinnern, wie eine tonnenschwere Last von mir abgefallen ist. Dann kam der Polizist einige Zeit später wieder und hat mir relativ trocken und knapp und kurz mitgeteilt, dass er es nicht geschafft hat. 

Sprecherin: 

Melanie Regus ist erst seit Kurzem in der Lage, offen über das zu sprechen, was ihr damals passiert ist: Sie hat einen Menschen getötet. Unbeabsichtigt. Sie war nicht betrunken, nicht zu schnell. Hat nicht am Handy gespielt. Es ist einfach passiert. So wie es jedem Menschen passieren könnte, der sich hinters Steuer setzt. 

MUSIK Broken dreamland 

Sprecher: 

Jeder Mensch kann sich jederzeit schuldig machen. Wir verletzen einander, körperlich sowie seelisch. Und wir können einander unbeabsichtigt schwer versehren oder sogar töten. 

Sprecherin: 

Und obwohl diese Wahrheit zum Menschsein dazugehört, ist sie in dem Moment, wo sie wahr wird, einfach nur ein Albtraum, so die Traumatherapeutin Verena König:

O-Ton 7 Verena König: 

Ich glaube, verantwortlich zu sein für so einen großen Schaden, für so einen enormen Schmerz, ist etwas, was man zunächst einmal überhaupt nicht greifen kann und wo man wirklich Arbeit zu leisten hat, um das zu bewältigen. Und ich glaube auch, dass es viele Menschen gibt, die das nicht schaffen. Und die nicht darüber hinwegkommen und die ihr eigenes Lebensglück darüber verwirkt sehen und das so erleben.

Sprecher: 

Rund 36.000 Menschen werden jährlich im Verkehr verletzt und 2.800 getötet. Hinzu kommen Unfälle in Job und Freizeit durch menschliches Verschulden. Alle Aufmerksamkeit, alles Mitgefühl gilt den Opfern. Zu Recht. 

MUSIK Wasteland 

Sprecher:

Doch wer kümmert sich um die Täter? Also um die Menschen, in deren Leben auch nichts mehr ist wie zuvor?

O-Ton 8 Silke von Beesten: 

Wir betrachten Unfallverursacher genauso als Unfallopfer, wie alle anderen Betroffenen auch. Auch dieser Mensch braucht Hilfe. Auch dieser Mensch braucht Unterstützung. Ein Verkehrsunfallverursacher hat diesen Verkehrsunfall auch nicht gewollt.

Sprecherin: 

Silke von Beesten, Notfallpsychologin und Vorsitzende der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland. Der gemeinnützige Verein berät sowohl Unfallopfer, als auch Unfallverursacher. Nur von denen kamen gerade mal zwei in den ganzen letzten Jahren. Dabei, so sagt sie, sind die Gefühle, die solch ein Ereignis auslöst, so schwerwiegend, dass nur die wenigsten damit alleine klarkommen. 

MUSIK Wasteland 

O-Ton 9 Silke von Beesten: 

Auf psychischer Ebene erleben alle zunächst einmal eine schwere Belastung, die hochemotional wirkt und die zunächst einmal einhergehen kann mit überflutenden Gefühlen von Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und in der Folge sind dann die so genannten Risiko- und Schutzfaktoren maßgeblich dafür verantwortlich, ob eine Traumafolgestörung entsteht, und zwar sowohl bei Unfallverursacher als auch bei Unfallbetroffenen oder ob die Möglichkeit der Heilung entstehen kann. 

Sprecher: 

Trauma Schuld. Menschen, die für das Schicksal eines anderen verantwortlich sind, müssen mit dieser Bürde in der Regel ganz alleine weiterleben. 

Kaum jemand will etwas mit ihnen zu tun haben, Hilfsangebote gibt es so gut wie keine. Dabei haben auch sie eine zentnerschwere Last auf ihren Schultern zu tragen. 

O-Ton 10 Verena König: 

Ja, also ich glaube, dass Schuldgefühle, um die es da ja auf einer ganz tiefen Ebene geht, tatsächlich die Kraft und die Macht haben können, uns die eigene Existenzberechtigung zu nehmen. Also das Gefühl von eigener Existenzberechtigung. Es gibt anscheinend in unserem tiefen sozialen Sein eine ganz intensive Verbindung zum Leben. Und wenn das Leben eines anderen Menschen endet, dann bedeutet das, dass das etwas mit unserer eigenen Existenz macht. Das ist nicht möglich, das von der eigenen Existenz zu trennen, wenn man eine Verantwortung oder Schuld trägt.

MUSIK The start, the end and all the space between 

Sprecher: 

Wo jemand einem anderen Menschen das Leben nimmt oder ihn gesundheitlich nachhaltig schädigt, versagen alle Konzepte von Entschuldigen, Verzeihen, Versöhnen und Wiedergutmachen. Also die Konzepte, die bei kleineren Verletzungen funktionieren, so der Philosoph und Theologe Dr. Christoph Quarch:

O-Ton 11 Christoph Quarch: 

Hier müssen wir tatsächlich mit der Situation klarkommen, dass es Dinge gibt, die schlicht und ergreifend unverzeihlich sind. Man kann Schuld auf sich laden, bei der wir nicht erwarten können oder auch erwarten dürfen, dass die Betroffenen uns dafür verzeihen.

Sprecherin: 

Melanie Regus stand ganz alleine da mit ihren überflutenden Gefühlen. So recht wollte keiner ihre Geschichte hören. Um Abstand zu gewinnen, zog sie in eine größere Stadt, studierte Psychologie und Religionswissenschaften – auch, weil sie Antworten suchte auf ihre drängendsten Fragen: 

O-Ton 12 Melanie Regus: 

Ist Gott ein liebender Gott, wenn es einen Gott gibt? Und wenn es ihn gibt: Wieso muss ich diese Bürde tragen? Wieso hat er mir das aufgeladen?

O-Ton 13 Verena König: 

Eine ganz typische Reaktion von Menschen, denen so etwas passiert, ist, das sich zermartern und zermürben. Was hätte ich anders machen müssen, damit das nicht passiert? Weil die Psyche irgendwie versucht, einen Grund dafür zu finden, dass das passiert ist, was passiert ist.

O-Ton 14 Melanie Regus: 

Ich hab immer wieder Wellen gehabt mit intensiven Gefühlen, die mich übermannt haben, was als erstes kam, war tatsächlich Wut! Eine Art Wut auf das Leben, auf das Schicksal, vielleicht auch auf den Radfahrer, dass er zu dem Moment da war oder Wut auf mich selbst, dass ich dort gefahren bin! 

O-Ton 15 Silke von Beesten 

Schuld ist ein ganz massives, intensives Gefühl. 

Sprecherin: 

Notfallpsychologin Silke von Beesten:

O-Ton 16 Silke von Beesten 

Schuld an etwas zu haben, ist ein Gefühl, das sehr tiefgreifend ist. Mit einem Schuldgefühl gehen sofort auch weitere Gefühle einher wie Überforderung, Ohnmacht und Hilflosigkeit. Und diese Gefühlslage ist dazu geeignet, ein potenziell traumatisierendes Unfallerleben ja sofort noch mal zu verstärken und auch noch mal zu vertiefen.

MUSIK Source Code 

Sprecher: 

Wie lebt man damit, ein Menschenleben auf dem Gewissen zu haben? Kann man das überhaupt seelisch überleben?

Sprecherin: 

Die Jahre zogen dahin, und Melanie Regus wollte einfach nicht so recht ins Leben kommen. Sie zweifelte sogar daran, ob sie mit dieser schweren Schuld überhaupt weiterleben durfte.

O-Ton 17 Melanie Regus: 

Darf ich überhaupt noch leben? Habe ich eine Berechtigung zu leben? Und wenn ich lebe, wie tief darf ich leben? Darf ich lieben? darf ich geliebt werden? Darf ich tanzen? Darf ich all das erfahren, was schön ist in diesem Leben? Oder habe ich die Berechtigung dazu einfach verloren? 

Sprecherin: 

Viele Jahre lang ging es ihr so schlecht, dass sie es nicht schaffte, nur einen winzigen Schritt auf die Familie des getöteten Radfahrers zuzumachen. Irgendwann kam der Strafprozess. 

„Vorbestraft wegen fahrlässiger Tötung“ lautete das Urteil. Dort hätte sie der Familie unter die Augen treten können. Doch ihr fehlte die Kraft.

O-Ton 18 Melanie Regus: 

Ich glaube, ich hätte das einfach psychisch nicht ausgehalten. Ich hatte vorher eine lange Zeit, in der es mir nicht gut ging. In der ich gebeutelt war von Depressionen, und zwar schwersten Depressionen, wo ich überhaupt nicht in der Lage war, mein eigenes Leben aufrecht zu erhalten. Wie hätte ich da jemandem gegenübertreten können, wenn ich gar nicht in der Lage war, mich selbst überhaupt zu halten? Auszuhalten? Mein Leben zu stabilisieren? 

Sprecherin: 

So kam es zu keiner Begegnung zwischen der Unfallverursacherin und den trauernden Hinterbliebenen. Ob die Familie das erhofft, erwartet hatte? Ob sie offene Fragen gehabt hätte? Das weiß Melanie Regus nicht. 

MUSIK Like underwater 

Sprecherin: 

Conny Vogt steht auf der anderen Seite. Der Tag, der ihr Leben veränderte, ist schon viele Jahre her. Damals  war sie 39 und Mutter von zwei kleinen Kindern. 

O-Ton 19 Conny Vogt: 

Ich mach die Tür auf, und der Polizist guckt mich an und sagt: „Können wir vielleicht erst mal reinkommen? Es tut mir leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Mann in einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt ist.“

O-Ton 20 Conny Vogt: 

Also es war ja wirklich so: In dem Moment, wo dieser Polizist sagte „Ihr Mann hatte einen tödlichen Verkehrsunfall“ hat mir einer das Herz rausgerissen. 

Sprecherin: 

Conny Vogts Mann saß auf dem Motorrad, als ein unaufmerksamer Autofahrer auf ihn auffuhr. Ungebremst. Der Unfallfahrer war einen Moment lang unaufmerksam, weil er an seinem CD-Laufwerk rumfummelte. Und nahm Conny Vogt das Liebste, was sie hatte - neben ihren zwei Kindern. 

O-Ton 21 Conny Vogt: 

Wir hatten 23 Jahre lang eine wundervolle Beziehung, wir waren einfach wie seelenverwandt. Also es hat einfach supertoll gepasst. 

Sprecherin: 

Der Notfallseelsorger, der den Polizisten begleitete, kümmerte sich um den schreienden Sohn. Conny Vogt war in einer Schockstarre, erinnert sich an das meiste nicht mehr. Nur daran, wie der Polizist ihr die Adresse des Unfallverursachers auf den Küchentisch legte. „Um alles Weitere zu regeln“, so seine Worte.

O-Ton 22 Conny Vogt: 

Und dann entstand tatsächlich als ich alleine war, in meinem Kopf eine Fantasie: Ich nehme mir eine Waffe, ich nehme diesen Zettel, dann klingele ich an der Tür, er macht die Tür auf, und ich halte diese Waffe an seinen Kopf und drück ab.

Sprecherin: 

„Ein Leben für ein Leben“ – diesen Gedanken hatte die Mutter von zwei kleinen Kindern in dem Moment. Der Unfallfahrer war ein Phantom. Ein „Mörder“. So nannte sie ihn in der ersten Zeit gedanklich.

O-Ton 23 Conny Vogt: 

Ich wollte wissen: Wie sieht ein Mörder aus? Kann man das sehen? Kann man das in den Augen sehen? Ne spitze Nase? Sieht man ihm an, dass er ein Mörder ist? Was er faktisch nicht ist! Ich hab das später revidiert, dieses Urteil, aber zu dem Zeitpunkt war es für mich ein Mörder. 

MUSIK So much love 

Sprecherin: 

Zu einem Mord gehört Vorsatz, und der lag hier nicht vor. Es war einfach menschliches Versagen. Ein Unfall. Ein Unglück. Eins, so stellte sich später heraus, das auch den Unfallfahrer schwer belastete. 

Sprecher: 

Wenige Wochen später erhielt Conny Vogt über ihren Anwalt einen Brief des Unfallfahrers. Sein innigster Wunsch, so stand es geschrieben, sei es, sich bei ihr zu entschuldigen, wohl wissend, dass der Unfall unverzeihlich sei.

Sprecherin:

Ihre ersten Rachefantasien waren zu dem Zeitpunkt schon verflogen. Sie wollte sich selbst weder in den Knast bringen, noch ihre zwei Kinder im Stich lassen. Ganz langsam ließ sie erste Gedanken an den Unfallfahrer zu, den sie schon längst nicht mehr „Mörder“ nannte:

O-Ton 24 Conny Vogt: 

Ich hab mir halt überlegt: Wenn mir das passieren würde, wie wäre es dir dann anschließend ergangen? Und ich hatte die Information, dass er nicht alleine in dem Auto saß, sondern er hatte seine Frau dabei, die beinah selbst aufgrund eines Herzanfalls in diesem Unfall ums Leben gekommen wäre. Wie würde es dir damit ergehen? Und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich hätte mein ganzes Leben lang da ganz schwer mit zu kämpfen gehabt.

Sprecher: 

Eine Sekunde der Ablenkung: Während der Fahrt das Radio aufdrehen, die Heizung hochstellen. All das hat fast jeder schon viele Male gemacht. Und immer ist es gut gegangen. Zum Glück. Doch wer kann sich davon freisprechen, durch eine Sekunde der Unachtsamkeit nicht selbst mal zum Täter, zur Täterin zu werden?

Sprecherin: 

Im Alltag verdrängen die meisten diese Tatsache, so der Philosoph und Theologe Christoph Quarch:

O-Ton 25 Christoph Quarch: 

Ich glaube ja, es ist sinnvoll. Ganz einfach deswegen, weil wir sonst eben ja im Prinzip gelähmt wären. Und wenn wir die ganze Geschichte zu Ende denken, möglicherweise gar keinen Schritt mehr vor die Haustür machen, weil immer irgendwie die Gefahr besteht, dass wir in dem, was wir tun, andere Menschen in irgendeiner Weise gewollt oder ungewollt damit schaden. Und da, finde ich, ist zum Beispiel eine alte Weisheit aus den indischen Veden sehr hilfreich, die sagt: In dem Augenblick, wo du geboren wirst, kommt die Ordnung des Kosmos durcheinander. Das heißt, der Grundgedanke ist: Egal was wir tun, irgendwie machen wir uns immer schuldig, weil eben das große Gleichgewicht allein durch unser Erscheinen in der Welt gestört wird. 

MUSIK Broken dreamland 

Sprecherin: 

Es kam zu dem Treffen zwischen der verwitweten Conny Vogt und dem Unfallfahrer. Als sie ihm im Lokal gegenübersaß, musste sie feststellen: Das ist kein Monster, kein Mörder. Sondern einfach nur ein Mensch. Ein ganz normaler Herr um die 60. Es hätte ihr Vater sein können. Oder ihr Onkel. 

O-Ton 26 Conny Vogt: 

Ich stand einem älteren Mann gegenüber, der auf mich auch sehr gebrochen wirkte, dem das unendlich leidtat, und er sagte: „Egal, welche Strafe da auf mich zukommt, ich werde dem nicht widersprechen.“ Ich fand aber gut, dass er sagte, er würde sich nicht wehren und er würde sich dem jetzt ergeben. Ich glaube, wenn er gesagt hätte „Ich bin ja gar nicht schuld!“ oder „Ihr Mann hätte ja auch zur Seite fahren können“, dann hätte ich, glaube ich, auch noch mal anders reagiert, dann wäre vielleicht in mir auch noch mal Rache hochgekommen. 

Sprecher: 

Trauma-Therapeutin Verena König sagt: Solch ein Zusammentreffen kann unter Umständen heilsam sein:

O-Ton 27 Verena König: 

Diese Person ist eine zentrale Figur fortan in der Biographie dieser Menschen. Und wenn diese Person ein Fragezeichen bleibt, ein eine Silhouette, ein Phantom, dann ist das natürlich furchtbar schwer, damit umzugehen Und ich glaube, dieses Sichtbarwerden, dieses Sichzeigen, sich Stellen kann sehr viel Entlastung und vielleicht auch Heilung bringen, weil eben dieser große weiße Fleck auf der Landkarte endlich erkundet werden kann und sich ein Puzzleteil einfügt in ein Bild, das einfach unvollständig bleibt. 

Sprecher: 

Silke von Beesten, Vorsitzende der Verkehrsunfall-Opferhilfe Deutschland gibt zu bedenken: Solch ein Zusammentreffen macht nur dann Sinn, wenn der Verursacher die volle Verantwortung übernimmt: 

O-Ton 28 von Beesten 

Das ist für die Unfallbetroffenen ganz, ganz wichtig zu erfahren, dass der Unfallverursacher das nicht gewollt hat. Es muss natürlich authentisch klingen. Ein dahingerotztes „habe ich nicht gewollt!“ - das wäre nicht authentisch. Das würde nicht funktionieren.

MUSIK So much love 

O-Ton 29 Conny Vogt: 

Ich hab gesagt: „Das ist in Ordnung, das ehrt Sie, aber das bringt meinen Mann nicht zurück. Egal, was du machst, was du nicht machst, es bringt ihn nicht zurück“ Und das Allergrausamste ist, dass am nächsten Morgen einfach so die Sonne wieder aufgegangen ist. Und das ist dann einfach der Moment, wo ich mich ergeben hab. Und gesagt hab: Es ist so!

MUSIK House of glass 

 Sprecherin: 

Melanie Regus, die mit 20 einen Menschen mit dem Auto tödlich verletzt hatte, lebte die Jahre nach dem Unfall voller Zweifel, voller Schuldgefühle. Sie kam nicht so recht ins Leben – so beschreibt sie ihren Zustand damals. Der Radfahrer, für dessen Tod sie verantwortlich war, spielte in ihren Gedanken immer eine ganz große Rolle. 

Sprecherin: 

Es kam der Tag, an dem Melanie Regus beschloss, Kontakt zur Familie des Verstorbenen aufzunehmen. 20 Jahre nach dem Unfall. 

O-Ton 31 Melanie Regus: 

Ich wollte nicht einfach anrufen und einen Menschen überfallen. Das schien mir absolut pietätlos und unangebracht, also habe ich mich entschieden zu schreiben. Ich hab erst eine Nachricht geschrieben, in der ich mich vorgestellt habe und angekündigt, dass ich einen Anhang sende, in dem ich einen Brief geschrieben habe, so dass die Person auch die Wahl hat, ob sie diesen lesen möchte oder nicht.

Sprecherin: 

Die Antwort des Sohnes kam sofort.

O-Ton 32 Melanie Regus: 

Und hab es gar nicht geschafft, sie ganz zu Ende zu lesen, da hab ich schon geweint. Ich hab mit allem gerechnet: dass wirklich noch mal Vorwürfe kommen, dass Wut kommt, dass totale Ablehnung kommt, aber was kam, war einfach Verständnis, Mitgefühl, Wohlwollen. Und das war so heilsam für mich.

Sprecherin:

Zu einem persönlichen Treffen kam es nie. Das Bedürfnis gab es seitens der Familie nicht. Es blieb beim Kontakt über E-Mail. Und trotzdem: Nicht verurteilt zu werden bedeutete ihr unendlich viel: 

O-Ton 33 Melanie Regus: 

Es ist was von mir abgefallen, was sehr, sehr alt ist, was ich so lange mit mir rumgetragen habe, von dem ich gar nicht mehr gewusst habe, wie schwer es ist zu tragen. Also, was mich total berührt hat, war, dass der Mensch geschrieben hat, dass er sich damals auch über mich Gedanken gemacht hat: Wie es ist für so eine junge Frau mit so einer Last jetzt leben zu müssen. Das hat mich total berührt. 

Sprecherin: 

Es brauchte viele Jahre und tiefe innere Prozesse, bis sie diesen entscheidenden Schritt gehen konnte. Der wichtigste: Von der passiven Haltung „Wieso ist mir das passiert?“ hin zu „Ja, ich bin verantwortlich für den Tod eines Menschen!“ 

O-Ton 34 Melanie Regus: 

Ich hab aufgehört die Sachen zu verdrängen, hab sie hergeholt und gesagt: Okay, ich halte diese Gefühle aus. Alle, die kommen wollen: Ich halte euch aus! Weil, ihr gehört zu mir! Ihr gehört zu dieser Erfahrung, die ich gemacht habe. Das Zweite ist: Ich beantworte meine Fragen. Ich weiß nicht, was Vergebung ist. Aber ich bin bereit mich auf den Weg zu machen. Das Dritte ist: aufzuräumen mit allen Sachen, die noch offen sind. D.h. der Kontakt mit der Person, für die ich verantwortlich bin, dass sie nicht mehr lebt und mit den lieben Menschen, denen ich diese Person weggenommen habe.

Sprecher: 

Verantwortung übernehmen – das ist für Traumatherapeutin Verena König beim ‚Trauma Schuld‘ der entscheidende Schritt.

O-Ton 35 Verena König: 

Das ist ein Sehnen, glaube ich, von Menschen, die Schuld fühlen, dass jemand anderes sie daraus befreit. Und in der Verantwortung ist es so, dass ich nicht mehr darauf angewiesen bin, dass jemand anderes es mir nimmt, sondern dass ich in der Lage bin, mich vor den anderen zu stellen und in einer Aufrichtigkeit und einer gewissen Wahrhaftigkeit sagen kann „Ich bin verantwortlich, ich stehe dir gegenüber und du darfst mich sehen in dieser Verantwortlichkeit.“

Sprecherin: 

Heute zeigt sich Melanie Regus öffentlich mit ihrer Geschichte. Und stellt sich als Gesprächspartnerin zur Verfügung für Menschen, denen Ähnliches passiert ist. 

MUSIK The start, the end and all the space between 

Sprecherin: 

Denn sie weiß, wie bitter es ist, wenn man wirklich niemanden hat, mit dem man reden kann.

Sprecher: 

Vielleicht ist das eine Form der Wiedergutmachung: Dort, wo es nichts zu verzeihen und zu vergeben gibt, taucht vielleicht irgendwann mal die Frage nach dem Sinn auf. Und damit auch der Wunsch, aus dem Furchtbaren in irgendeiner Form etwas Gutes, für andere Dienliches, zu machen. 

Sprecherin: 

Darin sieht jedenfalls Philosoph und Theologe Christoph Quarch einen Weg, das Trauma Schuld ins Leben zu integrieren: 

O-Ton 36 Christoph Quarch 

Ich kann das zwar nicht wieder gut machen, aber ich kann mit dem Leben, das mir noch verbleibt, etwas dazu beitragen, dass vielleicht anderswo in der Welt Unrecht ausgeglichen wird (…) Mit dieser Schuld muss ich jetzt leben. Aber ich begreife das jetzt als Chance, als Möglichkeit, etwas Sinnstiftendes, Vernünftiges mit meinem Leben zu machen.



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