Alles Geschichte - History von radioWissen

Wir beleuchten die Zusammenhänge zwischen gestern und heute und erzählen einfach gute Geschichten. Ein History-Podcast von radioWissen.

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KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT Folge 2: Mattie


Gertraud fügt sich ihrem Schicksal. Auf dem Hof ihrer Eltern übernimmt sie immer mehr Verantwortung. An einem Sommertag 1958 trocknet draußen das Heu, als ein Gewitter aufzieht. Gertraud muss schnell sein, damit die ganze Arbeit nicht umsonst war - und bringt sich in Lebensgefahr. Mehr als 100 Jahre früher: Die zwölfjährige Margaret "Mattie" Knight arbeitet in einer Baumwollfabrik, wo sie 1850 Zeugin eines Unfalls wird. Das bringt sie auf eine Idee. Was verbindet die beiden Mädchen? Und warum endet die Geschichte der Kinderarbeit nicht mit Mattie, und auch nicht mit Gertraud? Kinderarbeit war in Deutschland länger ein Thema, als die meisten denken: Bis in die 1980er Jahre mussten viele Kinder auch hierzulande hart arbeiten, sogar noch dann, als es schon längst Gesetze dagegen gab.

Credits
Autorin: Paula Lochte
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Paula Lochte, Enrico Spohn, Edith Saldanha, Kathrin von Steinburg
Redaktion: Andrea Bräu & Yvonne Maier
Im Interview: Gertraud Seidl, Ines Kämpfer, Arne Bartram

Ein besonderer Linktipp der Redaktion:

ARD (2024): Kein Spiel – Kinderarbeit in Deutschland nach 1945

Puppen – für die einen Kinder ein hübsches Spielzeug, für Erika Roth vor allem Arbeit. Schon mit sechs Jahren musste sie nach der Schule der Mutter beim Nähen von Puppenkleidern helfen. Heimarbeit von Kindern war bis in die späten 1970er-Jahre im fränkischen Mönchröden Normalität. Jeden Mittag gingen im Dorf die Fenster auf, die Mütter riefen ihre Kinder heim, zur Arbeit. Als ihre kleine Schwester geboren wurde, musste sich Erika zusätzlich um diese kümmern. Ein Dokumentarfilm von Kirsten Esch erzählt aus der Perspektive von Betroffenen die Geschichte der Kinderarbeit in Deutschland, die schließlich erst in den 1980er Jahren ein Ende fand. Hier geht’s zum FILM.

Literaturtipps:

Sven Beckert (2019): King Cotton – Eine Geschichte des globalen Kapitalismus

Vor mehr als 250 Jahren wurde das Reich errichtet, in dem King Cotton herrscht. Krieg, Sklaverei und Ausbeutung standen an seiner Wiege. Während fremde Kulturen rücksichtslos zerschlagen wurden, häuften Händler im Zusammenspiel mit der Staatsgewalt enorme Vermögen an. Ein neues ökonomisches Prinzip begann seinen Siegeszug. Sven Beckert schildert die Geschichte des Kapitalismus im Spiegel eines Produktes, das heute jeder von uns am Leibe trägt - der Baumwolle. Hier geht’s zum BUCH.

Alexisde Tocqueville (1835): Notizen von einer Reise nach England

Ein Bericht über die Zustände im englischen Manchester – die Wiege der Industrialisierung.

Autumn Stanley (1995): Mothers and Daughters of Invention – Notes for a Revised History of Technology

Über Margaret „Mattie“ Knight und andere vergessene Erfinderinnen.



Und hier noch ein paar besondere Tipps für Geschichts-Interessierte:

Im Podcast „TATORT GESCHICHTE“ sprechen die Historiker Niklas Fischer und Hannes Liebrandt über bekannte und weniger bekannte Verbrechen aus der Geschichte. True Crime – und was hat das eigentlich mit uns heute zu tun?

DAS KALENDERBLATT erzählt geschichtliche Anekdoten zum Tagesdatum - skurril, anrührend, witzig und oft überraschend.

Und noch viel mehr Geschichtsthemen, aber auch Features zu anderen Wissensbereichen wie Literatur und Musik, Philosophie, Ethik, Religionen, Psychologie, Wirtschaft, Gesellschaft, Forschung, Natur und Umwelt gibt es bei RADIOWISSEN. 

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

Alles Geschichte finden Sie auch in der ARD Audiothek:
ARD Audiothek | Alles Geschichte
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Timecodes (TC) zu dieser Folge:

TC 00:15 – Intro
TC 04:12 – Geboren in die Wiege der Industrialisierung
TC 08:52 – Ein Tag mit 16 Stunden
TC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“?
TC 16:18 – Weberhusten
TC 19:57 – Ein Tag, der Leben veränderte
TC 23:35 – Der Unfall
TC 29:10 - Outro

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:
 
TC 00:15 – Intro

Autorin 
Ein Sommertag 1958 im Dorf Motzenhofen in der Nähe von Augsburg. Gertraud und ihre Geschwister sind erschöpft. Stundenlang haben sie Gras gemäht. Das liegt jetzt auf dem Feld und trocknet. Da zieht ein Gewitter auf. Jetzt heißt es schnell sein, sonst war die ganze Arbeit umsonst: Wenn das Heu in den Pfützen liegen bleibt, fault es. Die Eltern sind nicht da, deshalb sind die Kinder auf sich allein gestellt. Also schickt ihre große Schwester Gertraud auf den Scheunenboden, um die „Hoanzn“ zu holen – das sind Holzgestelle, auf denen man das Gras zum Trocknen aufhängen kann. Gertraud ist mittlerweile 14 Jahre alt. Und sie hat das schon zigmal gemacht. Hoch auf den Scheunenboden geht es am schnellsten, wenn sie nicht bis zur Leiter am anderen Ende des Stalls läuft, sondern einfach an der Bretterwand gleich neben dem Eingang hochklettert. Also hangelt sie sich Brett für Brett rauf. Unten wartet ihre Schwester, um die Gestelle entgegenzunehmen. Gertraud ist fast oben, da gibt das oberste Brett nach und sie stürzt mehrere Meter nach unten: ihr Kopf schlägt auf dem Betonboden auf.

MUSIK

Autorin 
Hallo! Mein Name ist Paula Lochte. Ich bin Reporterin für Radiowissen beim Bayerischen Rundfunk und das hier ist der dreiteilige Podcast: KINDERARBEIT – BEI UNS DOCH NICHT! Ich wollte rausfinden, wie verbreitet Kinderarbeit in Deutschland und anderen Industrieländern war. Und wie wir sie überwunden haben. Im Laufe der Recherche habe ich aber gemerkt: Es ist noch nicht vorbei. Weil es Kinderarbeit bei uns viel länger gab, als die meisten denken. Weil die Folgen bis heute spürbar sind. Und weil Kinderarbeit zurückkehrt. Auch in Ländern, die uns ganz nah sind. Kinderarbeit – von wegen „alles Geschichte“.

ZSP 01 Collage

Cinzia: OV SPR 4 weiblich, jugendlich –
Zum ersten Mal gearbeitet habe ich mit zwölf oder 13. Körperlich war ich am Ende: Ich konnte mich kaum noch auf den Beinen halten.
Ines Kämpfer:
Wir müssen einen Weg finden, dass die Kinder wirklich zur Schule gehen können und nicht die ganze Familie die ganze Zeit arbeiten muss
Ausschnitt  Reportage USA (Archivnummer: W0654322 Z00), Gewerkschafter, schon overvoiced:
Gegen Kinderarbeit haben Gewerkschaften schon vor 150 Jahren gekämpft und wir dachten, wir hätten gewonnen
Gertraud Seidl:
Ich habe geheult, weil ich nicht mehr in die Schule hab gehen dürfen. Weil ich habe gerne gelernt.
Arne Bartram:
Der Trend aktuell ist, dass Gesetze aufgelockert werden und dass man das Risiko eingeht, dass man junge Menschen verheizt.

Gertraud Seidl:
Ich habe vier Wochen im Krankenhaus liegen müssen und habe nicht aufstehen dürfen.
Ines Kämpfer:
Es ist wirklich ein Teufelskreis. Deshalb ist es so wichtig, den zu unterbrechen.

Autorin 
Das ist Folge 2: Mattie und der Webstuhl

MUSIK

Autorin 
Die Geschichte von Mattie erinnert an die von Gertraud. Auch sie arbeitet schon als Kind. Auch sie träumt davon, zur Schule zu gehen und zu studieren, vergeblich. Und auch sie erlebt einen Unfall – nur über 100 Jahre früher als Gertraud. In der Zeit, die den meisten von uns sofort in den Kopf kommt, wenn wir das Wort „Kinderarbeit“ hören: die Zeit der Industrialisierung. Kinderarbeit gab es zwar auch schon vorher. In Familien, für Feudalherren oder Sklavenhalter. Aber mit der industriellen Revolution ab Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt die Kinderarbeit neue Ausmaße an. Warum müssen damals Millionen Kinder in Fabriken schuften, durch enge Kohleschächte kriechen und Ziegel schleppen? Wie gefährlich ist das? Und wann wird es unterbunden? Um diese Fragen geht es in dieser Folge. Und ich möchte auch erzählen, warum das Mädchen Mattie im Alter von gerade mal zwölf Jahren eine Schlüsselrolle spielt, als es darum geht, Unfälle in Textilfabriken zu verhindern. Dafür müssen wir in der Zeit zurückreisen. Ins 19. Jahrhundert.

TC 04:12 – Geboren in die Wiege der Industrialisierung

ATMO Fabriken, Dampfmaschinen, Webstühle

Sprecher
Ein dichter schwarzer Qualm liegt über der Stadt. Die Sonne scheint hindurch als strahlenlose Scheibe. (…) Tausend Geräusche ertönen unablässig in diesem feuchten und finsteren Labyrinth, die Schritte einer geschäftigen Menge, das Knarren der Räder, die ihre gezahnten Ränder gegeneinander reiben, das Zischen des Dampfes, der dem Kessel entweicht, das gleichmäßige Hämmern des Webstuhles, das schwere Rollen der sich begegnenden Wagen.

Autorin 
So beschreibt der französische Publizist Alexis de Tocqueville 1835 in einem Reisebericht Manchester. Die englische Stadt gilt als Wiege der Industrialisierung.

Sprecher
Oben auf den Hügeln erheben sich dreißig oder vierzig Fabriken. Ihre sechs Stockwerke ragen in die Luft. (…) Um sie herum liegen wie willkürlich verstreut die kümmerlichen Behausungen der Armen; man gelangt zu ihnen auf zahlreichen gewundenen Pfaden. (…) Um dieses Asyl des Elends herum wälzt einer der Bäche langsam sein stinkendes, von den Industriearbeiten schwarz gefärbtes Wasser. Aus dieser stinkenden Kloake entspringt der stärkste Strom menschlichen Gewerbe-Fleißes, von hier aus befruchtet er die Welt.

Autorin 
Nachdem er Manchester besucht hat, will der amerikanische Unternehmer Samuel Blodget genau so eine Stadt auch in den USA errichten: Er spricht vom „Manchester of America“. Und dieser Traum – oder eher Alptraum – wird wahr. Im Bundesstaat New Hampshire an der Ostküste entsteht eine neue Stadt, deren Fluss genauso stinkt und wo die Schlote der Textilfabriken genauso die Luft verpesten wie in England. Diese Stadt erhält 1810 denselben Namen wie ihr Vorbild: Manchester. Und in dieser Stadt wächst Mattie auf.

MUSIK

Autorin 
Sie hat dunkle Haare und helle Augen. „Mattie“ – das ist ihr Spitzname. Ihre Familie und Freunde nennen sie so. Geboren wird sie 1838 als Margaret Eloise Knight.

Sprecherin 

Alles, was ich als Kind wollte, waren ein Klappmesser, ein Handbohrer und ein paar Holzstücke. Meine Freunde waren entsetzt. Man hat mich einen Tomboy, einen Wildfang, genannt, aber das hat mich nicht sonderlich beeindruckt. Manchmal seufzte ich, weil ich nicht wie die anderen Mädchen war, aber ich kam zu dem Schluss, dass ich nicht anders konnte und suchte Trost in meinen Werkzeugen.

Autorin 
Das hat Mattie 1872 einer Reporterin erzählt. Mattie erinnert mich total an die Bauerntochter Gertraud. Denn die war als Kind auch ein Tomboy, hat sich also nicht an Geschlechterrollen gehalten.

ZSP 24 Interview Gertraud
- Gertraud: Ich weiß! 14 war ich. Da habe ich zum Geburtstag Seidenstrümpfe gekriegt. Das war ja vorher nicht. Und da habe ich Seidenstrümpfe gekriegt, aber am Nachmittag bin ich dann mit den Seidenstrümpfen den Baum hochgestiegen, da waren sie kaputt. (Lacht)
- Autorin: (Lacht) Also Sie waren ein Wildfang!
- Gertraud: Lebendig.

Autorin 
Vielleicht hätte Mattie das an Gertrauds Stelle auch gemacht. Bei ihr selbst, rund 100 Jahre früher, hat das Geld vermutlich nie für teure Seidenstrümpfe gereicht. Als sie sechs ist, stirbt nämlich ihr Vater und ab da ist das Geld noch knapper als ohnehin schon. Ihr Vater war Schreiner. Und auch Mattie hat handwerkliches Talent, das wird später noch wichtig werden. Aber schon als sie klein ist, macht dieses Talent ihr Leben schöner – und das ihrer beiden älteren Brüder auch: 

Sprecherin
Ich habe ständig etwas für meine Brüder gebastelt; wenn sie etwas zum Spielen brauchten, haben sie immer gesagt: „Mattie macht das für uns.“ Ich war berühmt für meine Drachen, und wegen meiner Schlitten haben mich alle Jungs in der Stadt beneidet und bewundert.

Autorin 
Aber mit dem Tod des Vaters verändert sich das Leben der Kinder: Erst müssen die beiden älteren Brüder von der Schule abgehen und in der Textilfabrik malochen. Und dann auch Mattie. Mitte des 19. Jahrhunderts gehen in den USA nur die Hälfte der Kinder überhaupt zur Schule – bei den Mädchen nochmal weniger und bei nicht-weißen Kindern sind es sogar nur 17 Prozent. Um in den Fabriken die Maschinen zu bedienen, brauchen sie keine Ausbildung. Und eine allgemeine Schulpflicht, wie wir sie heute kennen, gibt es damals noch nicht. Die setzt sich in den USA genau wie in Deutschland erst durch, nachdem 1918 der Erste Weltkrieg endet:

ZSP 25 Philipp Scheidemann (SPD) ruft die Republik aus
Arbeiter und Soldaten, der unglückselige Krieg ist zuende! … Es lebe das Neue, es lebe die deutsche Republik!

ATMO Fabrik

TC 08:52 – Ein Tag mit 16 Stunden

Autorin 
Für Mattie auf der anderen Seite des Atlantiks kommen die neuen Gesetze zu spät. Die Grundschule kann sie zwar noch beenden, aber als sie etwa zehn Jahre alt ist, 1848, muss auch sie in die Fabrik. Genau wie ihre Brüder und ihre Mutter arbeitet sie nun für die Amoskeag Manufacturing Company– das ist zwischenzeitlich die größte Textilfabrik der Welt. Und ein Ort, der vielen von uns vertrauter ist, als wir denken: Denn hier weben Ende des 19. Jahrhunderts Kinderhände den Stoff für ein legendäres Kleidungsstück: die ersten Levi’s-Jeans. Die roten Backsteingebäude der Company erstrecken sich damals über die gesamte östliche Flussseite von Manchester in New Hampshire.

Sprecher
Jede der Fabriken hatte ihren eigenen Glockenturm. (…) Wenn die Glocken läuteten, war es Zeit, nach Hause zu gehen. Die Leute strömten durch die Fabriktore auf die Canal Street und über die Brücke. 9.000 Leute, die durcheinander wuselten, scherzten und versuchten, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen.

Autorin 
So beschreibt es ein Arbeiter später. Unter diesen Tausenden von Menschen sind viele Kinder. Kinder wie Mattie. Von ihr selbst gibt es aber keinen Bericht darüber, wie es ist, in der Baumwollspinnerei zu arbeiten. Und das ist damals leider ein generelles Problem: Kinder schuften täglich bis zu 16 Stunden, fallen ins Bett, nur um am nächsten Morgen gleich wieder arbeiten zu gehen. Wer schafft es da noch, zum Beispiel Tagebuch zu schreiben? Und es können ja noch nicht mal alle schreiben.

MUSIK

Dass es überhaupt Zitate von Mattie gibt, kommt daher, dass sie ein paar Mal interviewt wurde. Vor dieser Recherche kannte ich sie zwar noch nicht, aber in den USA ist sie relativ berühmt. Warum – dazu kommen wir noch.

ATMO Fabrik

Autorin 
Mattie geht ab 1848 also nicht mehr zur Schule, sondern in eine Fabrikhalle. In Hallen wie diesen ist es heiß, stickig und so laut, dass man nicht mal sein eigenes Wort versteht.

Sprecher 
„Kinder von 5 Jahren an sitzen in der unbequemsten Lage, mit zusammengezogenen Beinen und gebücktem Rücken in überfülltem Raume am Spulrad. (...) Schwächlinge, übermüdet, der Kopf grindig, die Augen triefend, die Brust schwindsüchtig, der Magen leidend; zum Militärdienst taugten sie nicht, in die Schule kamen sie nicht, und verirrte solch ein Geschöpf sich einmal dahin, so fand es wenigstens auf einige Augenblicke Schlaf und die Ruhe, welche ihm sonst die schreckliche Stimme des Werkmeisters raubten.“ 

Autorin 
Wie es in den neu errichteten Fabriken zugeht, schildern, wie in dem eben gehörten Bericht über deutsche Textilfabriken, meist Erwachsene. Vor allem Beamte, Mediziner oder Intellektuelle. Kinder kommen nicht zu Wort, haben keine Stimme. Auch auf meiner Suche nach Quellen von Kindern in Fachbüchern und Katalogen historischer Ausstellungen bleibe ich lange erfolglos. Aber dann werde ich doch noch fündig! Auf einer Plattform mit Arbeitsblättern für den Geschichtsunterricht lese ich zum ersten Mal den Namen Ellen Hootton. Ein Mädchen aus Großbritannien. Von ihr gibt es Zitate! Denn sie sagt 1833 vor der Königlichen Untersuchungskommission für Fabriken aus. Und zwar auf Initiative von Aktivisten aus der britischen Mittelschicht, die sich gegen Kinderarbeit einsetzen. Wie die zehnjährige Ellen ihre Arbeit beschreibt, könnte genauso gut von Mattie kommen:

Sprecherin
Mein Arbeitstag beginnt morgens um halb sechs und endet abends um acht. Ich bin Flicker an der Drosselspinnmaschine.

Autorin 
Ein ähnlicher Job, wie ihn auch Mattie übernehmen muss:

Sprecherin
Ich arbeite in einem Raum mit 25 anderen: drei Erwachsene, der Rest sind Kinder. Ich knote gerissene Fäden wieder zusammen.

Autorin 
Die Fäden, die auf den Spulen der Spinnmaschinen aufgezogen werden, reißen oft mehrmals pro Minute. Die Kinder haben also nur Sekunden, um sie wieder zusammenzuknoten.

Sprecherin
„Ich schaff das nicht“, das habe ich meiner Mutter gesagt. Aber die schickt mich trotzdem in die Fabrik. Ich bin deshalb schon mehrmals weggelaufen.

Autorin 
Familien wie die von Ellen oder Mattie sind in so einer Geldnot, dass sie auf den Lohn der Kinder angewiesen sind, und sei der noch so klein. In einem deutschen Bericht über Kinderarbeit heißt es damals, Kinder unter zwölf bekämen nur etwa zehn Prozent des Arbeitslohnes eines Erwachsenen. Kinder sind also verdammt billige Arbeitskräfte und steigern so den Profit der Unternehmer. Die freuen sich auch, dass Kinder weil sie so klein sind, sogar durch die niedrigsten Stollen kommen. Oder dass ihre winzigen Hände so „flink“ Fäden zusammenknüpfen.

Sprecherin 
Wenn ich einen Fehler mache, schlägt mich der Aufseher Mister Swanton – oder er nimmt einen Lederriemen und peitscht mich aus. Das passiert alle paar Tage. Mit seinen Händen macht er, dass mein Kopf wehtut.

Autorin 
Das erzählt die zehnjährige Ellen Hootton vor dem Fabrikausschuss.

Sprecherin 
Einmal, als ich zu spät gekommen bin, hat mir der Aufseher Eisengewichte umgehängt. Ich musste damit in der Fabrikhalle auf und ab laufen. Das ging nur gebückt, so schwer waren die. Die anderen Arbeiter haben sich über mich lustig gemacht. Sie haben mich im Vorbeigehen beschimpft und gezwickt, bis ich hingefallen bin.

Autorin 
Kinder wie Ellen und Mattie sind in der Industrialisierung grauenhafter, für uns heutzutage unvorstellbarer Gewalt und Willkür ausgesetzt.

TC 14:30 – „Wer nicht hören will, muss fühlen“?

MUSIK

Autorin 
Über 100 Jahre später, in den fünfziger Jahren. Im schwäbischen Dorf Motzenhofen – darf auch die Bauerntochter Gertraud auf keinen Fall zu spät zu kommen:

ZSP 27a Interview Gertraud
- Autorin: Wissen Sie noch, wovor Sie als Kind Angst hatten?
- Gertraud: Ja, dass man einfach, wenn man nicht rechtzeitig zum Essen gegangen ist, dass man da… da hat es dann Schimpfe gegeben, wenn man nicht gekommen ist. Da hat dann Mama zur Tür rausgeplärrt, da sind wir gerannt. Vor was habe ich noch Angst gehabt? (Wird leiser, wirkt bedrückter) In Keller bin ich nicht gern gegangen, denn bei uns ist man, wenn man was angestellt hat, in den Keller gesperrt worden. Und da war ich mehrmals drunten. Keller habe ich gar nicht mögen!

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