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Film Noir - Düsternis auf der Leinwand


Privatdetektive, die in Geschichten voller Gier, Lust und Mord gezogen werden, in denen gefährliche Frauen die Männer mit ihren Reizen in den Abgrund reißen und die Moral als erstes auf der Strecke bleibt - das ist Film Noir. Kein Genre, eher ein Gefühlszustand, der das US-Kino der 1940er und 1950er Jahre geprägt hat. Von Florian Kummert

Credits
Autor dieser Folge: Florian Kummert
Regie: Rainer Schaller
Es sprachen: Susanne Schroeder, Carsten Fabian
Technik:
Redaktion: Andrea Bräu

Im Interview:
Paul Duncan, Filmhistoriker und Autor, „Film Noir“ (Taschen Verlag)
Christian Keßler, Filmwissenschaftler und Autor, „Hollywood Blackout“ (Martin Schmitz Verlag)

Wir freuen uns über Feedback und Anregungen zur Sendung per Mail an radiowissen@br.de.

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Das vollständige Manuskript gibt es HIER.

Lesen Sie einen Ausschnitt aus dem Manuskript:

ERZÄHLERIN

Los Angeles. Die Stadt der Engel wird sie genannt, dabei steckt sie doch voller Teufel und Dämonen. Die Hügel von Hollywood versprechen das ganz große Geld und den ganz großen Ruhm. Und andere Verlockungen flüstern süßes Gift ins Ohr, das einen wie der Gesang der Sirenen ins Verderben stürzt. So wie den Versicherungsvertreter Walter Neff (engl.). 

(Musik ausfaden lassen…)

Mit Vollgas rast er durch Downtown L.A., rote Ampeln stoppen ihn nicht, ebenso wenig der Lastwagen, in den er beinahe kracht. Egal, der Mann hat nur ein Ziel: das Büro seiner Versicherung. Mit quietschenden Reifen bringt er das Auto vor dem Gebäude zu stehen. Mühsam schleppt sich Walter Neff über den Bürgersteig durch den Eingang zum Aufzug. Jeder Schritt eine Qual. Dafür sorgen die blutende Wunde und die Pistolenkugel in seiner Schulter. 

(SOUND Aufzugtür öffnet sich)

Das Büro ist zu dieser nächtlichen Stunde so gut wie leer. Nur Neffs Schatten zeichnet sich deutlich an der Wand ab, wie ein unheimlicher, stiller Gast, der Walter zu seiner letzten Reise begleitet. Die in dieser Julinacht 1938 vor dem Diktiergerät seines Chefs endet. Walter Neff nimmt das Mikrofon in die Hand und beginnt die Beichte.

ZITATOR

Der Versicherungsfall Diedrichson (SPRICH engl, Diidrikksn). 

Kein Unfall, sagten Sie? Richtig. 

Und Selbstmord auch nicht? Richtig. 

Sie meinten Mord. Richtig. 

Aber was Ihnen entgangen ist: Ich habe Diedrichson umgebracht. 

Ich, Walter Neff, Versicherungskaufmann, 35, ledig, keine sichtbaren Narben. Bis vor kurzem zumindest.

Ja, ich hab’ ihn umgebracht. Es ging um viel Geld und um eine Frau. 

Ich habe das Geld nicht bekommen. 

Und die Frau auch nicht.  

MUSIK Suite Double Indemnity

ERZÄHLERIN

Mit diesem Geständnis beginnt „Frau ohne Gewissen“ aus dem Jahr 1944. Regisseur Billy Wilder (AUSSPRACHE: 'Billi 'Waillde) schuf damit eines der Meisterwerke des so genannten „Film Noir“. Eine abgrundtief schwarze Geschichte über Gier, Lust und Mord, über einen Mann, der einer Frau verfällt, der das große Ding drehen will und am Ende scheitert. 

Alles, was Film Noir ausmacht, steckt hier drin. 

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 1

Film Noir is a state of mind. … what noir is about.

Film Noir ist ein Geisteszustand, eine Gefühlslage, die der Frage nachgeht: Kann ich den Menschen, die ich liebe, vertrauen? Allein diese Frage zu stellen, trifft den Kern von Noir. 

ERZÄHLERIN

Sagt der britische Filmhistoriker und Film Noir-Experte Paul Duncan (SPRICH: engl. Poohl Dannkn). In mehreren Büchern für den Taschen-Verlag hat er das Phänomen Film Noir untersucht und dabei auch Listen der besten Noir-Filme erstellt. Immer ganz oben dabei ist für ihn „Frau ohne Gewissen“, der den Komödiendarsteller Fred McMurray (SPRICH: engl Mekk'Möhri) in einer für ihn ungewohnten dramatischen Rolle zeigt: Versicherungsvertreter Walter Neff, zu Beginn ein liebenswerter Charmeur, auf den der Abgrund wartet. 

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 2

He’s a bit cheeky… could do, but don’t. 

Er ist um keinen Spruch verlegen, witzig, intelligent. Aber er trifft eine Frau, die ihn zur Straße der Verdammnis führt. Soll heißen: Er ist per se kein schlechter Mensch, aber er ist verführbar. Er kann überredet werden. Und so sind wir doch eigentlich alle. Wir treffen auf bestimmte Leute und tun vielleicht Dinge, die gegen unsere Natur sind. Oder Dinge, die wir insgeheim gerne tun würden, aber davor zurückschrecken.

ERZÄHLERIN

Eigentlich will Walter Neff nur die Autoversicherung eines Kunden verlängern, doch dieser Mister Diedrichson ist nicht zu Hause. Stattdessen trifft er dessen Ehefrau, Phyllis (SPRICH engl, Fillis, Betonung vorne), gespielt von Barbara Stanwyck ('Bahrbre 'Stännwikk (S=scharf, w=engl.), mit blonder Perücke, Goldkettchen am Fußknöchel, und einem durchdringenden, selbstbewussten Blick. Ein Blick, für den Walter zum Mörder wird. Gemeinsam mit Phyllis arbeitet Walter einen perfiden Plan aus, den scheinbar perfekten Mord. Dazu jubelt er dem Ehemann eine Lebensversicherung unter. Die schüttet im seltenen Fall eines Eisenbahnunglücks die doppelte Versicherungssumme aus, eine „double indemnity“, wie der Film im englischen Original heißt. Also muss Diedrichson bei einer Bahnreise sterben, scheinbar durch einen eindeutigen Unfall, so dass die Kontrolleure bei der Versicherung nicht anders können, als die 100.000 Dollar auszuzahlen. Davon träumt Walter, von den Dollarnoten und von Phyllis.

OTON Christian Keßler 1 

Er stolpert über seinen eigenen Hochmut. Er sieht gut aus, ist sicherlich auch ein gewiefter Verkäufer. Nur er denkt irgendwie, er würde ganz groß rauskommen, würde den richtig großen Coup landen. Und damit übernimmt er sich. In dem Moment, wo man sieht, wie Barbara Stanwyck die verdammte Treppe herunterkommt, mit diesem tollen Kettchen am Fußknöchel, weiß man, was die Stunde geschlagen hat und dass der McMurray keine Chance hat.

ERZÄHLERIN

Analysiert der Bremer Filmwissenschaftler Christian Keßler, der die Welt des Film Noir liebt, und ihm ein Buch gewidmet hat: „Hollywood Blackout“.

((OTON Christian Keßler 2 

Beim Film Noir handelt es sich nicht um ein klar umrissenes Genre wie den Western oder Kriminalfilm oder Horrorfilm, sondern eher um eine filmische Tradition, die sich Ende der 30er, Anfang der 40er Jahre entwickelt hat im Hollywood-Kino und sowohl formal als auch inhaltlich sehr mit vorangegangenen Kriminalfilmen brach. Also eine besondere Form des Kriminal-Kinos.))

MUSIK Audrey’s Dance - Twin Peaks

ERZÄHLERIN

Film Noir - französisch für „schwarzer Film“, denn der Begriff wird von der französischen Filmkritik geprägt, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg. Frankreich war zuvor, ab 1940, von Nazi-Deutschland besetzt; während der Kriegsjahre waren amerikanische Filme von den Leinwänden verbannt. Nach Kriegsende laufen dann die cineastischen Höhepunkte gleich mehrerer Jahrgänge dichtgedrängt in den französischen Kinos an, darunter US-Filme wie „Frau ohne Gewissen“, „Die Spur des Falken“ oder „Murder, My Sweet“. Eine Flutwelle der Finsternis, von der der Filmkritiker Nino Frank (dt. ausgesprochen!) nachhaltig beeindruckt ist. „Kriminelle Abenteuer“ betitelt Frank seinen Artikel über die Werke, die sich deutlich von den Kriminalfilmen unterschieden, die er vor dem Krieg gesehen hatte. 

ATMO Maschinengewehr

ERZÄHLERIN

Die Gangsterfilme der 1930er Jahre waren auch Geschichten voller Mord und Totschlag, aber mit einer eindeutigen Moral, einem klar gezeichneten Gut-Böse-Schema und einem Fokus auf die Handlung. Nun aber schiebt sich die Atmosphäre in den Vordergrund, Landschaften voller nebelverhangener Häfen, einsame, nasskalte Straßen, in denen sich das wenige Licht der Laternen in Pfützen und Schlaglöchern spiegelt. Die Handlung selbst ist oft ein verworrenes Labyrinth, durch das Privatdetektive in Trenchcoats stolpern. Die Auflösung, wenn überhaupt, ist zweitrangig. Es dominiert die Charakterzeichnung der Figuren, die im Off-Kommentar von ihren unmoralischen Taten und Gefühlen erzählen. Das Publikum wird in die Psychologie des Verbrechens eingeführt und geht so gezwungenermaßen eine Mittwisser- oder Komplizenschaft mit korrupten Polizisten, psychopathischen Killern, Außenseitern auf der Flucht und verlorenen Großstadtseelen ein. Erpressung, Bespitzelung, Drogenhandel: diese klassischen Krimi-Themen werden in Abenteuergeschichten verwebt, mit Anti-Helden, auf die der Tod wartet. Für diese Art von „kriminellen Abenteuern“ prägt Nino Frank 1946 den Begriff „Film Noir“. Denn das Schwarz der Nacht wird das bestimmende Element. Paul Duncan über die Welt der Schatten:

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 3 

The best, the most intelligent … the pits of hell.

Die besten, intelligentesten Noirs wussten, dass sie mit dieser Idee der Schatten spielen konnten, und dass die Dunkelheit die Abgründe im Inneren der Figuren symbolisieren. Diese Filme malen mit Licht und Schatten und schaffen dabei eine Atmosphäre, die sich deutlich von anderen Filmen der Zeit abheben. 

Ein gutes Beispiel ist das Finale von „Die Macht des Bösen“. Dort geht Hauptdarsteller John Garfield (Dschonn 'Gahrfihld) eine Treppe nach der anderen hinunter. Sie scheint gar kein Ende zu nehmen. Unten am Ufer liegt der Leichnam seines Bruders. Die Szene spielt in New York, aber so wie das Ganze gefilmt ist, hat man das Gefühl, er steigt hinab in den Schlund der Hölle. 

MUSIK subtil, dissonant, z.B. Night Life in Twin Peaks

ERZÄHLERIN

Die Gangsterfilme der 1930er Jahre, oft leichtfüßig, eher oberflächlich. Sie transformieren sich in den 1940er Jahren in die psychologisch düsteren, vielschichtigen Film Noirs. Und greifen dabei den Wandel der Gesellschaft auf. Amerika, Japan und Europa sind im Würgegriff des Zweiten Weltkriegs. All die Entwurzelten und Fliehenden, all die Toten und schließlich das Grauen des Holocaust. Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen, und zu einem eigenartigen, dunklen Fleck im Universum zu werden. Zudem sind die Nachwehen der Großen Depression immer noch zu spüren. Diese Ängste und der düstere Weltblick manifestieren sich auf der Leinwand. Etwa die Angst, die Kontrolle zu verlieren. Die Furcht, von der Vergangenheit eingeholt zu werden. Oder die Paranoia vor Mächten, die sich gegen einen verschwören. Der Typus der Heldenfigur, die Ordnung ins Chaos bringt, verschwindet dabei, sagt Filmwissenschaftler Christian Keßler. 

OTON Christian Keßler 3 

Diese Ordnung wird zu Anfang durch einen Mord oder eine Entführung, einen Banküberfall oder so in Schieflage gebracht. Dann kommt der Ermittler, also ein Privat- oder Polizeidetektiv, und mit Hilfe seines Intellekts oder seiner Muckis rückt er das dann alles wieder gerade. Das waren dann so unfehlbare Helden, Tausendsassas. Und naja, ab den 30er-Jahren glaubten die Leute nicht mehr so richtig an solche alleskönnenden Helden. Das war die Zeit, in Folge der Weltwirtschaftskrise, als immer mehr im Kinopublikum aus dem Alltag eigentlich die dauernde Niederlage gewöhnt waren, teilweise auch an Armenspeisungen anstehen mussten, hinter Jobs her waren, die es nirgendwo gab. Und in den 40er-Jahren, als halt eben auch das Kriegserlebnis noch hinzu kam, entwickelte sich dann diese düstere Thriller-Form.

((ERZÄHLERIN

Existentialistische Krisengeschichten auf Zelluloid. Über eine Welt voll Pessimismus, in der das Vertrauen in die Mitmenschen schwindet. Man weiß nie, wer ein Messer hinter seinem Rücken versteckt hält. Und das Schicksal? Das schlägt sowieso gnadenlos zu, mögen die Träume noch so groß sein. Das ewige Leid der Film Noir-Figuren. 

OTON Christian Keßler 4

Sie sind eher so ein bisschen existenzialistische Wassertreter, also Leute, die einige Niederlagen im Leben gehabt haben, einen Knick in der Vita. Und dann passieren irgendwelche tollen Sachen. Teilweise wie eine Flipperkugel werden die dann durch die Gegend geschossen. Das hat ja auch immer sehr viel mit realem oder eingebildetem Schicksal zu tun. Also diese Schicksalshaftigkeit, die ist gerade in den 40er-Jahre-Noirs sehr deutlich drin.))

MUSIK, melancholisch, Saxofon, z.B. Theme from Twin Peaks - Film

ERZÄHLERIN

Viele Noirs beginnen mit dem Ende. Die Figuren sind geschlagen, gescheitert, desillusioniert und blicken dann zurück, auf die vergebene Zeit der Hoffnung. So wie Walter Neff in „Frau ohne Gewissen“, der Versicherungsmakler, der sich nach dem Mord am Mann seiner Geliebten selbst wie ein Todgeweihter fühlt. Rückblickend beichtet er: 

ZITATOR

Der Plan war perfekt. Nichts war schiefgegangen, nichts wurde übersehen, nichts konnte uns verraten. Und dennoch… als ich die Straße hinunterlief, hatte ich das Gefühl, dass alles scheitern würde. Es klingt verrückt, aber es war so, tatsächlich. 

Ich konnte meine eigenen Schritte nicht mehr hören. 

Es war der Gang eines Toten. 

Aufblende SOUND Schreibmaschine, blendet über in…

ERZÄHLERIN

Sätze aus der Feder von Raymond Chandler ('Räimmennd 'Tschänndlerr (sch=stl.), der das Drehbuch zu „Frau ohne Gewissen“ mit seiner abgebrühten Poesie und doppeldeutigen Anspielungen anreichert, gemeinsam mit Billy Wilder. Das Ganze basiert auf einer Geschichte des Journalisten und Autoren James M. Cain ('Dschäimms Emm 'Käinn), der mit dem Roman „Wenn der Postmann zweimal klingelt“ berühmt-berüchtigt wurde. Billy Wilder will erst mit Cain direkt arbeiten, aber der ist bereits bei einem anderen Studio unter Vertrag. Also fällt die Wahl auf Raymond Chandler. Wilder ist begeistert von dessen Roman „The Big Sleep“, der unter dem Titel „Tote schlafen fest“ mit Humphrey Bogart erfolgreich verfilmt werden wird. 

MUSIK z.B Miles Davis, „Fahrstuhl zum Schafott“ 

ERZÄHLERIN

Persönlich hassen sich die beiden so gegensätzlichen Typen. Billy Wilder, der leutselige Österreicher, bringt mit seiner wuseligen Art den introvertierten Raymond Chandler zur Weißglut. Chandler flutet die Paramount Büros mit Beschwerdebriefen und beginnt wieder zu trinken. Eine Sucht, der viele Noir-Autoren verfallen, etwa Dashiell Hammett. Sie trinken, wie ihre literarischen Geschöpfe, Whisky, Bourbon, und anderes Hochprozentiges und rauchen stangenweise Zigaretten, aber sie bringen auch den Sound der Straße in die amerikanische Literatur und Filmwelt. 

ZITATOR

Wir beide gehören zusammen. Ich weiß nicht, wie. Vielleicht so, wie Kanonen und Munition zusammengehören. 

ERZÄHLERIN

Knappe Dialoge, wie hier aus „Gefährliche Leidenschaft“, die nur ein Minimum an Gefühlen zur Schau stellen, Gefühle, die sich stattdessen in inneren Monologen Bahn brechen. Für Noir-Fan Paul Duncan bis heute große schriftstellerische Kunst. 

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 4

These voiceovers, … coming into the world.

Diese innere Monologe stammen aus den Vorlagen, den Kurzgeschichten und Romanen, von Autoren wie Raymond Chandler und Dashiell Hammett, 

'Däschell (sch=stl.) 'Hämmitt, (im Vornamen KEIN i sprechen)

die oft aus der Sicht von Privatdetektiven erzählen. Es gibt so viele tolle Romane, etwa von Horace McCoy,('Horress Me'koi)

Jim Thompson, (Dschimm (sch=sth.) 'Tommsenn (s=scharf))

David Goodis, ('Däiwwidd 'Guddiss (ss=scharf))

die auch heute noch fantastisch zu lesen sind, da man wirklich in die Gedanken der Figuren eintauchen kann. Wie bei „Der Fremde“ von Albert Camus (All'bähr Ka'mü) passen die Noir-Romane philosophisch zum Existentialismus und auch zu einer nihilistischen Stimmung, die immer mehr um sich griff. 

ZITATOR

Ich sah sie nie im Tageslicht - wir schienen bei Nacht zu leben. Was vom Tage übrig blieb, verflog wie der Rauch einer Schachtel Zigaretten.

MUSIK düster, z.B. Can’t Sleep 2, Thomas Newman, Soundtrack „In the Bedroom“

ERZÄHLERIN

Stilistisch blickt der Film Noir zurück in die deutsche Filmgeschichte und orientiert sich am expressionistischen Film der Weimarer Republik, an Werken wie „Das Cabinet des Dr. Caligari“ oder die Dr. Mabuse-Filme von Fritz Lang. Der wandert nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten nach Amerika aus, und dreht in Hollywood düstere Noirs, wie auch seine Regiekollegen Billy Wilder und Robert Siodmak (dt. gesprochen).

MUSIK düster, z.B. Beginn „North on 73“, Thomas Newman

ERZÄHLERIN

Den inneren Aufruhr der Figuren extern darstellen, durch klaustrophobische, verzerrte Kulissen, extreme Licht- und Schattensetzung, durch schräge, fallende Winkel und ungewöhnliche Perspektiven. Diese Standards des Expressionismus entfalten ihre Wirkung wieder im Film Noir. Wenn Walter Neff in „Frau ohne Gewissen“ zum ersten Mal die Wohnung von Phyllis Diedrichson betritt, erstrahlen die Räume noch im Tageslicht, doch von Mal zu Mal verfinstert sich das Haus, so wie die Seelen des mörderischen Paares. 

ZITATOR

Es war ein heißer Nachmittag und ich wundere mich heute noch über den Jasmin-Duft, der über den Gärten lag. 

Wie sollte ich ahnen, dass Mord zuweilen nach Jasmin duftet? 

ERZÄHLERIN

Mord duftet nach Jasmin und dem Parfum von Phyllis Diedrichson. Die Frau, die Walter um den Finger wickelt. Die zentrale Figur vieler Film Noirs: die Femme Fatale. 

MUSIK, z.B. Ava, Soundtrack Sin City 2 - A Dame to Kill for

OTON Christian Keßler 5

Die böse Frau, die klassische Femme Fatale, die Männer in den Untergang lockt, die den Femme Fatales dann folgen wie die Motte dem Licht und die dann quasi wie Lemminge über die Klippe springen, dem eigenen Selbstzerstörungsdrang folgend. Den grundsätzlichen Femme Fatale-Gedanken finde ich relativ sexistisch eigentlich. 

ERZÄHLERIN

Denn - so Christian Keßler - er ist ein Männer-Konstrukt und dämonisiert das Weibliche. 

(MUSIK Ava langsam ausfaden)

Im Zweiten Weltkrieg wandeln sich in den Vereinigten Staaten die traditionellen Familienwerte. Frauen müssen in Abwesenheit der Männer arbeiten gehen, werden die Brotverdienerinnen, werden zu wichtigen Stützen der Gesellschaft, und verspüren ein Gefühl der Freiheit und der Macht. Female Empowerment… 

All das führt zur Femme Fatale. In ihr spiegeln sich die Ängste der bislang männlich dominierten Gesellschaft wider: die klassischen Machtstrukturen zwischen Männern und Frauen werden untergraben. 

OTON Christian Keßler 6 

Filmisch war ja so die Norm, dass es sich bei Frauen um das schöne Beiwerk handelt, die dem männlichen Charakter dann am Schluss als Preis sozusagen in die Arme fliegen. Da gab es zwar auch Ausnahmen, aber meistens war das wirklich so, dass die halt nett Kaffee gemacht haben, in irgendwelche fürchterlichen Situationen geraten, wo die Helden sie dann rausboxen müssen. Im Noir Kino hingegen sieht das nicht so aus. Da sind die Frauen häufig deutlich die stärkeren Charaktere als die Männer. Double Indemnity ist ein perfektes Beispiel dafür. Die nimmt die Sache selber in die Hand, ist nicht nur ein schönes Anhängsel, wie das die traditionelle Frauenrolle damals vorgesehen hätte, im Kino und auch anderswo. Sondern sie schlägt die Männer auf ihrem eigenen Terrain sozusagen. 

ERZÄHLERIN

Die Femme Fatale ist dabei weit mehr als eine Männerfantasie, als ein bösartiges, mordendes Spinnenwesen, das die Opfer kaltherzig ausnutzt. Femme Fatales wie Phyllis Dietrichson kann man auch als starke Frauen interpretieren, die in einer von Männern beherrschten Welt gefangen sind, und für Chancengleichheit sorgen wollen. Dazu sind sie willens, jede Waffe einzusetzen, ihre Sexualität und Schusswaffen. 

PISTOLENSCHUSS

ERZÄHLERIN 

Phyllis schießt in „Frau ohne Gewissen“ tatsächlich auf Walter, trifft ihn aber nur an der Schulter. Doch als er näher kommt, schafft sie es nicht, nochmals auf ihn zu schießen. Erst jetzt - so gesteht sie - habe sie wahre Gefühle für ihn verspürt, lässt die Pistole sinken und umarmt ihn. Doch Walters Blick ist zu Eis erstarrt. Jetzt hat er die Waffe in der Hand.

ZITATOR

Leb wohl, Baby!

zwei PISTOLENSCHÜSSE, schnell hintereinander

dann MUSIK Ende Double Indemnity, darüber:

ERZÄHLERIN 

Das Ende von Phyllis Diedrichson läutet auch das Ende von „Frau ohne Gewissen“ ein. Walter Neff kehrt in sein Büro zurück und beginnt seine Beichte. Der Bogen zum Filmbeginn schließt sich. 

MUSIK hoch bis Ende

ERZÄHLERIN

Der finanzielle Erfolg von Billy Wilders Film, ebenso wie lukrative Werke wie die Humphrey-Bogart-Detektivgeschichten „Die Spur des Falken“ und „Tote schlafen fest“ führen zu einer Welle an Noirs von großen und kleinen Studios, mal aufwendig, mal schnell heruntergekurbelt, von den 1940er bis in die späten 1950er Jahre hinein. Orson Wells’ „Im Zeichen des Bösen“ von 1958 gilt oft als Endpunkt der klassischen Film-Noir-Phase in Hollywood, die aber auch in anderen Ländern Widerhall findet, etwa in Frankreich, wo François Truffaut 1959 „Schießen Sie auf den Pianisten“ dreht. 

MUSIK Georges Delerue, Rencontre (Soundtrack Schießen Sie…)

ERZÄHLERIN 

In den 1960ern dominiert farbenprächtiger Technicolor die Kinokassen: Epen wie „Lawrence von Arabien“, exotische, augenzwinkernde Action wie die James-Bond-Reihe und Musicals wie „My Fair Lady“. Noir-Krimistoffe wandern ins Fernsehen ab, in Form von Polizeiserien wie „Stahlnetz - Dragnet“. Doch die Noir-Sensibilität bleibt der großen Leinwand erhalten, denn sie hat viele Genres infiziert, sagt Paul Duncan. 

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 5

You can have noir westerns… in us as well.

Es gibt Noir-Western, Noir-Kriegsfilme, Noir-Musicals, Noir-Melodramen, denn Noir selbst dreht sich um die zwiespältige Gefühlslage, ob man seinen Mitmenschen trauen kann, oder ob sie einen hintergehen. Das macht Noir so zeitlos gültig. Es spricht Bereiche unseres Lebens an, die schmerzhaft sind, über die wir nur schwer reden können. Doch in diesen Filmen werden sie auf besondere Weise thematisiert und geben uns zu verstehen: die Abgründe der Noir-Figuren stecken in uns allen drin. 

MUSIKBETT Soundtrack Sieben

ERZÄHLERIN

So bleibt die Düsternis im Kino erhalten, besonders in Form der Neo-Noir-Filme, die mal mehr, mal weniger unverhohlen, eine Hommage an die Klassiker sind. 

ZITATOR

Das wird ganz sicher kein Happy End geben. 

ERZÄHLERIN

Sagt Detective Somerset (SPRICH engl. Sammaset) zu seinem Partner Mills im Thriller „Sieben“. Im Dauerregen einer gnadenlosen, unmenschlichen Großstadt müssen sie Morde nach Art der sieben Todsünden aufklären. 

MUSIK Vangelis, Blade Runner (kurz, als Trenner)

ERZÄHLERIN

Es können düstere Zukunftswelten sein, wie im Science-Fiction-Noir „Blade Runner“, oder der Blick zurück ins Hollywood der späten 1930er Jahre wie in Roman Polanskis „Chinatown“. 

MUSIK Twin Peaks Theme

ERZÄHLERIN 

Oder die albtraumhaften Visionen eines David Lynch, der in „Twin Peaks“, „Blue Velvet“, oder „Mulholland Drive“ (Mall'hollennd 'Draiww) die Schattenseiten im Unterbewusstsein erforscht. 

(kurz Musik frei)

Ob in Schwarz-Weiß oder in Farbe, die Schattierungen des Film Noir sind noch längst nicht alle filmisch erforscht. 

OTON VOICEOVER PAUL DUNCAN 6

It’s not the black…there will always be noir.

Bei Noir denken viele an schwarz-weiß Bilder, an extreme Gegensätze, dabei sind gerade die Graubereiche die spannendsten. Vor allem die psychologischen Graubereiche. Die lassen einen nicht mehr los. 

Die Macht des Noir: So lange Menschen Probleme haben oder Albträume, sie um ihr Leben fürchten oder glauben dass die Liebe ihres Lebens sie nicht zurückliebt, so lange wird es Noir geben. 



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