Treffpunkt Klassik

Hier dreht sich alles um Klassik: im Treffpunkt Klassik von SWR2 sprechen wir mit Künstler*innen, berichten über Konzerte und Festivals im Sendegebiet, kommentieren aktuelle Ereignisse im Musikleben, und stellen neue Musik vor. Zur ARD Audiothek: https://www.ardaudiothek.de/sendung/swr2-treffpunkt-klassik/8758432/

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Eine Rezeptionsgeschichte


Ein bedeutendes, unverstandenes Werk Wien, 7. Mai 1824. Im Theater am Kärntnertor steht eine neue Sinfonie von Ludwig van Beethoven auf dem Programm: seine Neunte. Vielleicht wundert sich der eine oder andere im Publikum, warum da ein Chor auf der Bühne Platz genommen hat. Denn eine Sinfonie ist damals eigentlich ein reines Instrumentalwerk. Drei Sätze lang läuft alles wie gewohnt. Doch dann kommt das Finale und ein Bariton erhebt plötzlich mahnend seine Stimme: „Oh, Freude!“ „Bei der Uraufführung hat man in Wien 1824 sehr wohl erkannt, dass das ein besonderes Werk ist, ein bedeutendes Werk“, erklärt die Musikwissenschaftlerin Beate Angelika Kraus vom Bonner Beethovenhaus. „Man hat gesagt, dass Beethoven diesen Tag als einen ganz besonderen in seinem Leben feiern kann. Gleichwohl hat man zu verstehen gegeben, dass man eigentlich nicht versteht, was er damit will.“ Wagner setzt sich sein Leben lang mit der Sinfonie auseinander Dennoch: das Publikum ist nach der Uraufführung begeistert. Einige fühlen sich allerdings von der Länge der Musik überfordert. Gerade einmal zwölf Aufführungen gibt es noch zu Beethovens Lebzeiten. Der große Aufwand verhindert oft die Einstudierung des langen, sperrigen Werkes mit seinem Chorfinale. Wenn die Neunte mal aufgeführt wird, dann sind die Zuhörerinnen und Zuhörer ziemlich beeindruckt. Das gilt auch für den jungen Richard Wagner. Er selbst habe die Neunte zuerst in Paris am Conservatoire gehört, so Kraus. „Er hat sich mit dem Werk praktisch sein Leben lang auseinandergesetzt, 1830 selbst einen Klavierauszug geschrieben und hat sie 1846 in Dresden aufgeführt.“ In der Zeit des Vormärz identifiziert sich das aufstrebende Bürgertum vor allem mit der Textzeile „Alle Menschen werden Brüder“ aus dem Finale der Neunten. Für manchen schwingen dabei im inneren Ohr aber noch die nicht vertonten Strophen aus Schillers Ode „An die Freude“ mit. Vom Gedicht verwendet Beethoven jedoch nur weniger als die Hälfte. Das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR spielt die Neunte unter Roger Norrington Beethovens Neune als „Zukunftsreligion“ „Bei dieser Textauswahl findet bereits ein starker Bedeutungswandel statt“, sagt Beate Angelika Kraus. „Beethoven hat alles ausgeklammert, was wirklich revolutionär war im Sinne von politischer Revolutions-Lyrik. Und er hat ausgeklammert, was dieses ‚An die Freude‘ zu einem Trinklied macht.“ Nachdem der Traum des Bürgertums von politischer Teilhabe vorerst geplatzt ist, ist wieder Platz für neue Deutungen. Beethovens Neunte und ihre Botschaft von der Gemeinschaft aller Menschen wird im Lauf des 19. Jahrhunderts endgültig in die Sphäre des Kultischen erhoben. Der Geiger und Dirigent Joseph Joachim erklärt die Musik sogar zu einem religiösen Glaubensbekenntnis und spricht in einem privaten Brief sogar euphorisch von „Zukunftsreligion“. Ein Deutscher vor dem schrecklichen Deutschland Beethoven und seine göttliche Musik gehören allerdings nicht dem Bürgertum allein: Auch die aufstrebende Arbeiterbewegung des späten 19. Jahrhunderts reklamiert das Werk für sich. „Alle Menschen werden Brüder“ – diese Textzeile passt schließlich wunderbar zum Solidaritäts-Ideal des Sozialismus. Doch dann bricht der Erste Weltkrieg aus. In Frankreich fragt sich der Schriftsteller Camille Mauclair, wie man jetzt noch Beethovens Neunte aufführen könne angesichts der Gräuel des Krieges. Er findet eine Lösung: „Beethoven ist ein Deutscher, aber ‚un Allemand d‘avant l’Allemagne horrible‘, also ein Deutscher vor dem schrecklichen Deutschland“, sagt Expertin Kraus. „Man kommt zu dem Fazit: Die Neunte würde nach dem Sieg der Alliierten angesichts der Befreiung als ein Gesang der Brüderlichkeit die geeignete Dankesmesse abgeben praktisch für den Sieg über Deutschland.“ Eine Sinfonie, die allen Weltanschauungen offensteht Zu dieser Aufführung kommt es nicht. Aber zu einer erstaunlichen Verirrung in der Rezeptionsgeschichte der Neunten. Ausgerechnet Beethovens sinfonisches Plädoyer für Humanismus und Brüderlichkeit gerät in die Hände der nationalsozialistischen Machthaber in Deutschland. An Hitlers Geburtstag im Jahr 1937 erklingt die Neunte in Berlin unter Leitung von Wilhelm Furtwängler. Sicher ein Tiefpunkt in der Geschichte der Missverständnisse und des Missbrauchs von Beethovens Musik. Die Neunte Sinfonie ein Werk, das quasi auch allen Weltanschauungen offensteht.

Quelle: Beate Angelika Kraus, Musikwissenschaftlerin am Beethovenhaus Bonn

Zwischen Sozialismus und Bürgertum So kann die Sinfonie ihren Siegeszug durch die ganze Welt antreten: die Neunte erklingt in Asien, in Afrika, auf dem amerikanischen Kontinent. Sie überwindet sogar den Eiserne Vorhang nach dem Zweiten Weltkrieg. Ost wie West identifizieren sich gleichermaßen mit der Message der Neunten. Beethoven wird munter vor jeden politisch-ideologischen Wagen gespannt. Sowohl in der DDR als auch in der Bundesrepublik wird die Neunte gefeiert: „Das war quasi eine Ikone der jeweiligen Kultur. Und es gab eine spezielle Interpretation des Sozialismus.“, erklärt Kraus. „Man hat diese ‚sozialistische Neunte‘ ins Feld geführt gegen die ‚bürgerliche Neunte‘ des bürgerlichen Musiklebens im Westen. Bernstein dirigiert das Finale der Sinfonie 1989 in Berlin Erst mit dem Fall der Berliner Mauer und dem legendären Freiheits-Konzert mit Leonard Bernstein bekommt die Neunte wieder ihren universell-humanistischen Charakter zurück. Seit 1985 ist „Freude schöner Götterfunken“ sogar offiziell die Hymne der Europäischen Union. Ist das nun gut oder schlecht für die Neunte und für Beethoven? MIt dem Thema des Missbrauchs von Beethovens Musik werde man sich auch weiter beschäftigen müssen, meint Beate Angelika Kraus, wann immer die Neunte aufgeführt wird.


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