Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0577: Nasubi, der echte Fernsehsklave


Reality-TV hat sich mittlerweile durchgesetzt. Da gibt es genug Voyeurismus auf der Zuschauerseite und genug blinden Ehrgeiz, es ins Fernsehen zu schaffen auf der anderen. Nichts kann besser demonstrieren, welche Auswüchse das annehmen kann, als die TV-Show „Nasubi“.

Download der Episode hier.
Opener: „Nasubi 2“ von Enrico Dandolo
Closer: „Nasubi 20“ von Enrico Dandolo
Musik: „Out of the blue (2008)“ von Ray Guntrip and Tina May / CC BY-NC-SA 3.0

Einer meiner liebsten Filme ist die Truman-Show. Mit Jim Carrey. Kennt ihr sicher. Wenn nicht: Kuckbefehl! Da lebt ein junger, sympathischer Mann in einer hübschen amerikanischen Kleinstadt sein spießiges Leben. Ohne auch nur im geringsten zu ahnen, dass das alles nur Kulisse ist und er von morgens bis abends live im Fernsehen gesendet wird. 24 Stunden.

Mittlerweile ist die Truman-Show ein Filmklassiker. Es gibt sogar eine psychische Störung – den Truman-Show-Wahn – der nach dem guten, alten Truman Burbank benannt ist. Daran erkrankte Menschen leiden an der Wahnidee, Hauptdarsteller in einer Truman-Show zu sein.

Ich muss sagen, manchmal habe ich schon so Gespräche geführt, wo ich dachte… „Also, irgendwo muss doch eine Kamera versteckt sein. Das kann doch sooo nicht richtig sein…“

Aber natürlich ist das ganze Szenario nur ein künstlerisches Gedankenspiel. Eine intelligente Medienkritik von Regisseur Peter Weir und Drehbuchautor Andrew Niccol. Eine Parabel darüber, wie auch der banale, stinklangweilige Alltag im Fernsehen ausgebeutet wird . Oder eine Art Fabel mit einem deutlichen Fingerzeig an Medienmanipulation, Konformismus und Kommerzialisierung.

Klingt gut, gell? Klingt intellektuell, gell? Habe ich auch aus der Wikipedia geklaut. Denn in Wirklichkeit hatte, für uns in Deutschland, die Realität gleich im Jahre nach Erscheinen der Truman-Show einen Riesenschritt in genau diese Richtung gemacht.

Die Produktionsfirma Endemol hatte den Blockbuster wohl als Inspiration verstanden und uns „Big Brother“ als Fernsehshow beschert. Das war der Aufreger im Jahr 2000! Was habe ich mich über diesen unmenschlichen Voyerismus entrüstet! Über dieses Billig-TV, diese Schmuddelsendung!

Ich habe natürlich die gesamte erste Staffel anschauen müssen. Um mir eine Meinung bilden zu können halt. Nur deshalb! Wirklich! Big Brother! So ein Mist!

In Japan hat man wahrscheinlich nur mit einem unverständigem Kopfschütteln auf die Diskussion in Deutschland oder in ganz Europa gekuckt. Denn noch während die Truman-Show gedreht wurde, war man da in Sachen zwischenmenschlicher Grausamkeit schon ein entschiedenes Stückchen weiter. Denn man hatte ja Aubergine. Oder, auf Japanisch: Nasubi.

So das Pseudonym eines kleinen, unbedeutenden Komikers aus Fukushima. Nasubi heißt Aubergine, aber auch Pimmel. Ist bekannt. So wie halt jeder auf der Welt das Auberginen-Emoji auf dem Handy nutzt halt, laut einer Studie von SwiftKeys zumindest.

Der war einer von vielen, vielen Kandidaten für eine Show mit Namen… Na ja, ‘was Japanisches halt. Drei so Zeichen halt. Übersetzbar mit „Preis, Wettbewerb, Leben“.

Wenn man daals Kandidat ausgewählt wurde – so hieß es — dann kam man in ein monatelanges Auswahlverfahren, so hieß es, und bekam dann die Chance, regelmäßig im Fernsehen aufzutreten. Ein Star zu werden – so hieß es.

Darum freut sich eben unser Nasubi auch wirklich sehr, als er gewählt wird! Die Chance seines Lebens! „Komm’ gleich mit, es geht sofort los!“ sagt man ihm, legt ihm eine Augenbinde an, fährt ihn in sein neues, winziges Einzimmerapartment und setzt ihn da ab. „Ach ja, vorher musst Du noch alle Klamotten ausziehen. Alle. Und mir geben. Danke!“ Und: Türe zu.

Tscha, da ist er nun. Nackt. Das Zimmer karg zu nennen, wäre eine Übertreibung. Es gibt genau:
Eine Dusche, ein Radio, ein Telefon – nur rein, einen Gaskocher, eine Spüle, einen Riesenstapel mit Illustrierten, einen Riesenstapel mit vorfrankierten Postkarten, eine Schachtel Bleistifte, einen kleinen Tisch, ein Kissen und… Ach nein, kommt nichts mehr. Das isses.

Nasubis Aufgabe ist es nun, alles zum Überleben und zur Unterhaltung mit dem zu bestreiten, was er mit den Wettbewerben und Preisrätseln in den Illustrierten gewinnen kann. Wenn er Preise im Wert von einer Million Yen – so an die 8000 Euro – angesammelt hat, so die Produzenten, dann wäre er nicht nur frei, sondern man hätte ein Tape seiner Irrungen und Wirrungen. Und die Zuschauer könnten dann entscheiden, wer der vielen Kandidaten eine zukünftiger Fernsehstar wird. Werden würden täte…

Er weiß also, dass er dauernd aufgezeichnet wird. Darum ist der Raum ja voller Kameras. Aber er weiß nicht, dass er von vorne bis hinten belogen wurde. Andere Kandidaten gibt es gar nicht. Die Show geht nur um ihn. Um „Preis, Wettbewerb, Leben“ eben. Und zwar nur in der Version „Truman“. Ach nee, „Nasubi“ – die Truman-Show gibt’s ja noch nicht.

„Preis, Wettbewerb, Leben“. Jeden Sonntag 10 – 12 Minuten vom Lächerlichsten, Traurigsten oder Verzweifeltesten, was der kleine, nackte Komiker so getan hat. Unterlegt mit einem fiesen Track voller hämischer Lacher, witzigen Soundeffekten, Pupsgeräuschen und kindischer Musik. Besonders wenn Nasubi leidet und verzweifelt ist, amüsiert sich das Publikum prächtig – sehr schwierig auszuhalten.

Er schreibt also so an1500 bis 2000 Postkarten die Woche, lange Arbeitstage voller Preisausschreiben und Rätsel. Aber trotzdem dauert es ganze zwei Wochen, bis der erste Preis eintrifft. Eine komische weiche Dose mit etwas Marmelade-Artigem! Paradiesisch!

Das erste Essen in zwei Wochen! Noch einmal zwei Wochen später gewinnt er 5 kg Reis! Davon erhitzt er in der komischen Dose jeden Tag eine halbe Tasse. Essen muss er mit zwei seiner Bleistifte. Als der Reis nach Wochen alle ist, lebt er weitere Wochen erst einmal von Hundefutter.

Natürlich ist Nasubi einsam. Verzweifelt. Deprimiert. Kaputt. Traurig. Aber er ist auch ungeheuer diszipliniert und freut sich über kleinste Dinge wie ein Schneekönig. Zum Beispiel als es im Mai – nach vier Monaten – an der Tür klingelt und ein Arzt da ist. Der stellt fest: Trotz Mangelernährung alles tippi toppi! Ihr könnt weitermachen!

Also macht der kleine Mann weiter. Mittlerweile hat er lange Haare und einen Bart und ein bisschen mehr Sach’ steht in der Wohnung ‘rum. Aber natürlich sind die meisten Preise völlig unnütz und Kleider sind nie dabei. 335 Tage wird er brauchen, um die eine Million Yen zu erwirtschaften. Aber man wird ihn zum Weitermachen überreden. 15 Monate lang.

Denn, ohne dass Nasubi die leiseste Ahnung davon hat, ist er in Japan schon längst ein Fernsehstar. Ein Held. Trotz heftigster Anfechtungen tapfer zu bleiben, durchzuhalten, das Gesicht zu wahren – das ist den Japanern ein sehr hohes Gut. Pimmel, der nackte Kreuzworträtsel-Samurai! 24 Millionen Japaner jeden Sonntag – das Doppelte von „Wetten, daß…“ zu seinen besten Zeiten.

Seine Tagebuchaufzeichnungen erscheinen nebenbei als Bücher und werden allesamt Bestseller.
Das geschieht natürlich auch ohne sein Wissen.

Nach einem halben Jahr wird seine Sendung 24 Stunden im Internet gezeigt. Aber das bleibt erst einmal ein Experiment. Es ist ja erst 1998 und mit der damaligen Technologie braucht es noch zuviele Personen – vier Stück – die ununterbrochen eine Comic-Aubergine über Nasubis bestes Stück retuschieren. Das ist ganz schön schwierig, wenn er z.B. einen Freudentanz aufführt, weil er ein Poster seiner Lieblings-Sängerin gewonnen hat.

Die ganze Geschichte klingt unglaublich, aber ich denke mir das nicht aus. Wie gesagt, ihr könnt selber auf YouTube nachkucken. Klar, die Produzenten werden ihn schon heimlich die Dinge gewinnen haben lassen, die nötig waren, dass der kleine Komiker nicht stirbt. Oder er hat im Kleingedruckten der Veröffentlichung seiner Bücher irgendwie zugestimmt.

Aber man kann deutlich zusehen, wie er nachweislich geistig abbaut und wie er bis auf die Knochen abmagert. Soviel ist sicher kein Fake.

Nach 15 Monaten Sklaverei für’s Fernsehen wird die Show abgesetzt. Es wurde selbst für einen Samurai wie Nasubi zuviel – so die Legende. Oder aber auch für die Produzenten zu riskant. Die letzte Schwelle wollten sie doch nicht übertreten. Selbst das japanische Fernsehen kennt Grenzen.

Truman-Show hin, Big Brother her: Mit Nasubi ist die wahre Welt wieder einmal absurder, als die menschliche Phantasie sich das überhaupt ausmalen kann. Reality-TV bis zu seinen Grenzen geführt. Fast. Wer wird wohl, bei bester Einschaltquote und geschickter Produktplatzierung die erste Suizid-Show produzieren?


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 December 13, 2016  16m