Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

https://morgenradio.de

subscribe
share






Expl0594: Carl Sagan, Prophet


Heute habe ich Gnocchi gekocht und morgen gibt es ein leckeres Fischrisotto! Obwohl, wer kann schon in die Zukunft sehen? Vielleicht mache ich auch noch einmal die Reste von heute warm. Carl Sagan aber konnte wohl in die Zukunft sehen. Das behauptet auf jeden Fall ein viraler Tweet über diesen berühmtesten aller Fernsehwissenschaftler.

Download der Episode hier.
Opener: „Carl Sagan Cosmos Intro“ von The Cosmos Is Also Within Us
Closer: „Bevis and Butt-head: Science Sucks“ von MRxAmazing
Musik: „Carl Sagan – ‘A Glorious Dawn’ (Symphony of Science)“ von melodysheep

Einst waren populärwissenschaftliche Sendungen im Fernsehen eine große Sache. Weil Wissenschaft auch eine große Sache war. Das war in meine Jugend. Als es nur Fakten gab und nicht auch noch alternative Fakten obendrauf.

Ich war ein großer Fan von Professor Grizmek und von Heinz Sielmann, aber auch besonders von Horst Stern. Diese drei Großen und Konrad Lorenz und Irenäus Eibl-Eiblsfeld gründeten 1972 eine Protestgruppe gegen das mangelnde ökologische Bewusstsein in unserer Industriegesellschaft – stellt euch das heute vor.

Heutzutage ist es leider etwas dünner geworden um die Wissenschaft im Fernsehen. Es ist eher Emotion angesagt. Lieber „Bauer sucht Frau“ als „Mensch sucht Erkenntnis“. Klar, es gibt noch Rana Yogeshwar, der das Wappen noch hochhält. Oder vielleicht Harald Lesch und Joachim Bublath.

Aber meistens, wenn Menschen etwas in einer „Wissenschaftssendung“ gehört haben, bezieht sich das auf Galileo. Traurigerweise, denn das ist ein Oxymoron. Galileo, das ist die Sendung, laut derer sich die Magnetnadel im Kompass in Nord-Süd-Achse ausrichtet, weil es am Nordpol große Eisenvorkommen gibt. Mhm.

Bei Galileo ist der Mond ein Planet, Natriumhydroxid ist hochgiftig, Helium ist Lachgas, die Farbe von Hühnereiern hängt mit der Gefiederfarbe der Henne zusammen und das Goldvorkommen auf der Erde kommt vom Zusammenstoß zweier Meteoren.

Wissenschaftssendungen sind nicht mehr das, was sie einmal waren. Eine der weltberühmtesten Wissenschaftssendungen aller Zeiten ist das amerikanische Format „Cosmos: A Personal Voyage“. Für zehn Jahre nach der Erstausstrahlung 1980 war „Cosmos“ die erfolgreichste Fernsehserie überhaupt, so groß war das Interesse.

Carl Sagan und sein Team haben das Format „Wissenschaftssendung“ völlig neu gestaltet. Mit riesigen Modellen, durch die der Erzähler – Carl Sagan – läuft. Oder der Musik von „Vangelis“, der durch „Cosmos“ international erfolgreich wurde.

Auch heutige TV-Scientists wie Bill Nye, Brian Cox oder Neil Degrasse Tycoon verehren diesen Quasiheiligen der Fernsehwissenschaft. Sein Wort ist Wahrheit. Als ob das nicht schon fragwürdig und unwissenschaftlich genug wäre, letzte Woche geisterte der Heilige Sagan wieder durch Twitter. Aus dem Grab heraus.

Das Zitat lautet, frei übersetzt, ungefähr so: „Ich habe eine Vorahnung für die Zeit, in der meine Kinder oder Enkel leben werden. Die USA wird eine Dienstleistungs- und Informationsgesellschaft sein, fast alle Fabriken werden das Land verlassen haben, atemberaubende Technologien nur wenigen Menschen zur Verfügung stehen und niemand in einem öffentlichen Amt wird nur im geringsten die anstehenden Probleme verstehen. Die Menschen werden verlernt haben, ihr Leben in den Griff zu bekommen oder den Autoritäten sachkundige Fragen zu zu muten. Wir werden uns an unsere Kristallkugeln klammern und nervös unsere Horoskope studieren und während unsere Kritikfähigkeit stetig abnimmt, werden wir nicht mehr unterscheiden können zwischen dem was sich einfach gut anfühlt und dem, was faktisch wahr ist. Wir rutschen, ohne es zu bemerken, zurück in ein Zeitalter des Aberglaubens und der Dunkelheit.“

Wow. Da steht es. Carl Sagan hat es gewusst. Und das ist ja der Heilige Sagan. Der wissenschaftliche Oberchecker. Wie der das im Jahre 1995 schon wusste? Oder hatte er heimlich eine Zeitmaschine gebaut? Weil, das stimmt ja so genau, das ist der Hammer! Gleich einmal retweeten. Damit etwas von diesem Glanz, dieser Weisheit auch auf mich abstrahlt! Tss. Wie cool ist das denn?

Uncool. Das ist richtig uncool. Sorry. Einige der Vorhersagen waren schon 1995 nicht so schwer zu erraten. Und andere stimmen einfach auch nicht. Horoskope oder Astrologen bekommen bei uns schon lange nicht mehr abendfüllende Fernsehshows, sondern sind eher Lückenfüller im Frühstücksfernsehen.

Auf die hatte der Heilige Sagan ja als Astronom einen ganz besonderen Hass. Darum ist es besonders ironisch, dass dieses Zitat psychologisch gesehen aus den gleichen Gründen auf Twitter trendet, aus denen uns auch Horoskope direkt ansprechen.

Wir beziehen Dinge lieber zu oft als zu selten auf uns, das nennt man eine sensitive Beziehungsstörung. Aber viel entscheidender für Horoskope und den Erfolg dieses Zitats ist ein anderer Wahrnehmungsfehler. Der Optimismusfehler oder, auf englisch optimism bias.

Das ist eine emotionale Störung der Wahrnehmung, die uns z.B. im großen und ganzen für statistische Erkenntnisse immun macht. Schon klar, dass 50% aller Ehen geschieden werden, aber doch nicht wir! Klar, Rauchen, führt zu Lungenkrebs, aber doch nicht bei mir! Oder, und hier liegt die Wurzel der Spielsucht: Klar, die Wahrscheinlichkeit sechs aus 49 Zahlen richtig zu erraten, liegt bei 1:14 Mio. Also her mit dem Lottoschein!

Und so können wir uns als Gesellschaft in Pessimismus suhlen und privat in eine strahlende Zukunft blicken. Das scheint ja ungefähr auch das Lebensgefühl in Deutschland zu sein, wenn man den Umfragen traut. Trump, ISIS, Klimaerwärmung, Syrien, Ukraine, aussterbende Giraffen: Noch nie war die Welt dem Untergang näher. OMG, OMFG! Aber das persönliche Schicksal betreffend, blickt keiner in Europa optimistischer in die Zukunft wie wir Deutschen.

So eben auch bei Carl Sagans Prophezeiung. Eigentlich ist das ein schrecklicher Blick auf unsere Gesellschaft, wenn wir sie darin erkennen. Das müsste Entsetzen auslösen und Wut. Gar Demonstrationen von fassungslosen Astronomen oder um ihre Rente bangender Fernsehwissenschaftler.

Aber weil uns persönlich die Verdummung ja nicht betrifft, teilen wir das lieber und gruseln uns gemeinsam. Denn unser Konsens ist: Heutzutage ist alles scheiße, nur ich und meine Timeline, ich und meine Online-Community, wir sind anders. Besser.

Das würde den Heiligen Sagan wahrscheinlich ärgern. Er auf einer Stufe mit Horoskopen. Twitter, Du bist nicht gut zur Wissenschaft. Du, du du!

Es würde ihn vielleicht auch ärgern, dass das Zitat ein bisschen aus dem Zusammenhang gerissen ist. Denn Carl Sagans Problem war: Das Fernsehen. Das Fernsehen ist es, was die Leute dümmer macht. Er schreibt nämlich im übernächsten Absatz: „ Während ich das hier schreibe, ist in den Videotheken der Nummer-Eins-Titel „Dumm und dümmer“. Auch „Beavis und Butthead“ sind immer noch populär bei jungen Fernsehzuschauern. Deren offensichtliche Botschaft ist es, dass sich Studieren und Lernen – nicht nur der Wissenschaften, sondern überhaupt – nicht nur vermeiden lassen, sondern allgemein unerwünscht sind“

Der Wissenschaftler, der durch das Fernsehen berühmt wurde, verdammte dieses Medium also auf dem Totenbett.

Aber im Ernst: „Beavis und Butthead“ reißen unsere Zivilisation also in die Verdummung? In ein neues dunkles Zeitalter? Das ist unser Problem? Ein Jahr nach dieser düsteren Weissagung verstarb Carl Sagan. Zwei Jahre nach der „Prophezeiung“ wurde „Volltrottel und Arschgesicht“, um „Beavis und Butthead“ einmal zu übersetzen, wegen schlechter Quoten abgesetzt. Und jeder, der Jeff Daniels oder Jim Carrey mag, redet nicht über den zweiten Teil von „Dumm und Dümmer“. Den gibt es nicht. Sie waren alt und brauchten das Geld nicht.

Vielleicht sollte man als Astronom keine soziologischen Zukunftsprognosen abgeben. Oder als Wissenschaftler da sowieso zumindest äußerst vorsichtig sein. Vielleicht sollten wir aber auch keinem Wissenschaftler einen Heiligenstatus zumessen, das ist irgendwie… unpassend. Oder… vielleicht… nur vielleicht… sollten wir nicht alles spontan retweeten?

Darüber morgen noch mehr, ich muss jetzt erst einmal Welpenvideos auf Facebook stellen. Das bringt Hits, das könnt ihr euch nicht vorstellen! Katzen sind so 2016. Welpen, das isses! SEO at its best!


fyyd: Podcast Search Engine
share








 January 30, 2017  15m