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Die Organisation der Digitalität: Zwischen grenzenloser Offenheit und offener Exklusion


Bild: Public Domain

Dieser Beitrag ist das Manuskript meiner am 24. Januar 2017 an der Universität Innsbruck gehaltenen Antrittsvorlesung. Es gilt das gesprochene Wort, das von der Manuskriptfassung in einigen Punkten abweicht und als Audio und Videofassung vorliegt. Die Folien zum Vortrag finden sich bei Slideshare (PDF-Download, ca. 16 MB).

Beginnen möchte ich mit einem Zitat aus dem Buch „Kultur der Digitalität“ meines Kollegen Felix Stalder von der Kunsthochschule Zürich, an dessen Buchtitel ich auch bei meinem Vortragstitel anleihen genommen habe. Er schreibt, dass „erst heute, wo die Faszination für die Technologie abgeflaut ist und ihre Versprechungen hohl klingen, die Kultur und Gesellschaft in einem umfassenden Sinne durch Digitalität geprägt wird.“ Wie sehr Stalder damit Recht hat, dass „die Faszination für digitale Technologien“ inzwischen abgeflaut ist, möchte ich mit einem kurzen Blick zurück auf die Anfänge der Internet-Euphorie deutlich machen.

Und zwar mit einem Dokument aus einer Zeit, als das Internet gerade dabei war Massenmedium zu werden, nämlich der von John Perry Barlow verfassten Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace aus dem Jahr 1996. Wer diese Unabhängigkeitserklärung heute liest, dem wird eindrücklich bewusst, wie lange 20 Jahre im Internetzeitalter sein können. Nur ein Beispiel, Barlow schrieb:

Wir erschaffen eine Welt, in der jeder Einzelne an jedem Ort seine oder ihre Überzeugungen ausdrücken darf, wie individuell sie auch sind, ohne Angst davor, im Schweigen der Konformität aufgehen zu müssen.

Ich zeige dieses Zitat aber keineswegs, um mich darüber lustig zu machen. Es soll nur die Vision, die Vielfalts- und Gleichheits-Utopie illustrieren, die mit dem Aufkommen der neuen digitalen Technologien in Form des Internets verknüpft wurden. Und das „Erschaffen einer Welt“ war und ist durchaus wörtlich zu verstehen.

Denn noch bevor es mit dem Internet überhaupt so richtig losging, war am MIT die Idee von Freier Software entstanden. Software, die „frei“ im Sinne von „Redefreiheit und nicht von Freibier“ war, wie der Gründer der Free Software Foundation Richard Stallman nicht müde wurde zu betonen. Was Stallman damit meint, ist, dass der Zugang zum Quellcode von Software frei sein soll, um vier Freiheiten sicherzustellen:

  • Freiheit 0: Das Programm zu jedem Zweck auszuführen.
  • Freiheit 1: Das Programm zu studieren und zu verändern.
  • Freiheit 2: Das Programm zu verbreiten.
  • Freiheit 3: Das Programm zu verbessern und diese Verbesserungen zu verbreiten, um damit einen Nutzen für die Gemeinschaft zu erzeugen.

Und Richard Stallman hat diese vier Freiheiten nicht nur postuliert, sondern eine Lizenz entwickelt, mit der diese Freiheiten dauerhaft rechtlich abgesichert werden und auch gleich damit begonnen, ein freies Betriebssystem zu programmieren, das heute Teil des Betriebssystem Linux ist, das zum Beispiel in jedem Android-Handy zum Einsatz kommt. Überhaupt basiert das Internet, wie wir es heute kennen zu einem großen Teil auf solch freier Software.

Prinzipien freier Software

Welch visionärer Überschuss mit dem Konzept von freier Software bisweilen verknüpft wird, lässt sich unter anderem mit dem Beispiel der Linux-Version Ubuntu illustrieren. Ubuntu ist in Südafrika gegründet worden und der Name, er stammt aus der Sprache der Zulu, wird bisweilen übersetzt als „universelles Band des Teilens, das alles Menschliche verbindet.“ Und da soll noch einer sagen, diese Hacker hätten keinen Sinn für Pathos.

Neben der für viele Menschen gar nicht so klar in ihrer Bedeutung und Verbreitung erkennbaren freien Software gibt es dann aber noch andere Beispiele, wo digital-kollaborativ eine Welt erschaffen wird, die im Mainstream der Internetnutzerinnen und -nutzer von großer Bedeutung ist, wie beispielsweie die Online-Enzyklopädie Wikipedia, auf die ich später noch genauer eingehen werde. Denn auch die Wikipedia ist nach den Prinzipien freier Software, mit denselben vier Freiheiten entstanden und zu Beginn verwirklicht worden mit Hilfe einer Lizenz, die eigentlich für Handbücher freier Software entwickelt worden war.

Zentrales Versprechen der Wikipedia, das bis heute auf ihrer englischen Startseite steht, ist dabei eine freie Enzyklopädie zu schaffen, an der jeder und jede – anyone – mitschreiben kann. Und es gibt neue Formen politischen Engagements, wo auch jede und jeder – anyone – mitmachen kann, ohne sich zu erkennen geben zu müssen. Stattdessen versammelt man sich unter dem Label „Anonymous“ für kollektiv-politisches Handeln.

Gerade am Beispiel von Anonymous wird aber auch schon deutlich, dass es auch noch eine ganz andere Erzählung rund um Digitalität gibt. Eine, die von Angst getrieben ist. An Anonymous scheiden sich schon die Geister: Ist Anonymous eine soziale Bewegung, die die Freiheit des Internets verteidigt oder sind Anonymous eher gefährliche, anonyme Hacker, vor denen man Angst haben muss?

Ganz klar die Angst steht nämlich im Vordergrund, wenn es darum geht, Magazine und Bücher zum Thema Internet und Digitalität zu verkaufen. Da wird vor einem „Netz ohne Gesetz“ gewarnt. Und wenn nicht das Internet als Ganzes gefürchtet wird, dann wird bisweilen gleich ein ganzes Sammelsurium an möglichen Gefahrenherden beschworen. Dann wird die Angst vor Hackern und Passwort-Phishing mit der Furcht vor Piraten und dem lästigen E-Mail-Spam in einen Topf geworfen. Allerdings ist es keineswegs so, dass als dunkel wahrgenommene Aspekte der Digitalität nur im „Verborgenen“ der digitalen Unterwelt verortet werden.

Gerade in jüngerer Zeit werden vor allem Debatten rund um „Hass im Netz“ geführt. Zeitungen und Blogs kommen kaum nach mit dem Löschen von Beiträgen in ihren Kommentarbereichen. Falls der Eindruck entstehen sollte, dass es sich bei den besonders ungustiösen Äußerungen vor allem um solche unter dem Deckmantel der Anonymität handeln würde, dem lässt sich mit einer aktuellen Studie von OrganisationsforschungskollegInnen entgegenhalten, dass, es keineswegs so ist, dass dieser Hass nur anonym verbreitet wird. Rost und KollegInnen (2016) haben in einer Studie an Hand eines großen Datensatzes gezeigt, dass paradoxerweise gerade nicht-anonyme aggressiver als anonyme KommentatorInnen waren (siehe auch Abbildung). Sie erklären diesen Umstand damit, dass die Schimpfenden sich sehr im Recht und als Verteidiger sozial geteilter Normen wähnten – und diese Verteidigung ist mit Klarnamen einfach wirksamer.

Neigung zu aggressivem Kommentarverhalten von anonymen und nicht-anonymen NutzerInnen (aus: Rost et al, 2016)

Und als letztes Beispiel für mit Digitalität verknüpfte Ängste sei noch auf die tatsächliche oder vermeintliche Bedrohung durch sogenannte „Fake News“, gefälschte Nachrichtenbeiträge verwiesen, die sich digital rasch verbreiten und denen Mitschuld an politischer Polarisierung und Rechtspopulismus zugeschrieben wird.

Euphorie und Angst

Letztlich haben wir es rund um Digitalität mit Euphorie und Angst zu tun. Und auch wenn die euphorischen Stimmen spätestens seit dem Ende der „New Economy“ Anfang der 2000er Jahre etwas leiser, die Stimmen der Warner seither wohl etwas lauter geworden sind, so lassen sich auch heute noch beide Erzählungen immer wieder vernehmen, wird auch heute noch von allen Seiten beschworen, die Chancen der Digitalisierung zu nutzen.

Paradoxerweise wurzelt jedoch beides, die Euphorie wie die Angst rund um Digitalität, zu einem großen Teil in unterschiedlich organisierter, digitaler Offenheit.

Dank Internet und digitalen Technologien werden heute Stimmen gehört und gesehen oder entstehen überhaupt erst, die vorher nicht öffentlich präsent waren. Heute kann sich jede und jeder mit einem Computer oder Smartphone per Blogeintrag oder Handyvideo an ein potentiell globales Publikum richten. Nie waren unsere Gesellschaften derart offen für Veröffentlichungen. Aber es ist nicht nur die Offenheit für Veröffentlichungen aller Art; es ist auch die algorithmisch vermittelte Verbreitung und Verstärkung über Plattformen wie Twitter, YouTube und Facebook, die diese Offenheit noch einmal verstärkt.

Wobei Facebook, Twitter & Co eben gerade keine klassischen Medien sind. Sie sind verglichen mit diesen klassischen Medien – wo Redaktionen nach journalistischen und/oder kommerziellen Regeln und Praktiken entscheiden – radikal offene Plattformen und als solche eben offen für Dinge, die in herkömmlichen Medien keinen Platz fanden – und das reicht eben von Katzenvideos bis hin zu „Hasskommentaren“ und „Fake News.“

Der Vergleich zwischen „Old Media“ und „New Media“ macht deutlich, welch grundlegender Wandel dieser gesteigerten Offenheit zu Grunde liegt. In klassischer Medienlogik stand gleich zu Beginn der redaktionelle Filter, auf den dann eine Veröffentlichung folgte und im Zuge von deren Rezeption Öffentlichkeit entstand. New Media hingegen zeichnet sich dadurch aus, dass zuerst einmal jede und jeder alles veröffentlichen kann. Damit ist jedoch noch keine Aufmerksamkeit und auch keine Öffentlichkeit verbunden. Diese entsteht erst durch das Zitieren, das Teilen, das Verlinken, das Liken und Kommentieren ausgewählter Veröffentlichungen. Es handelt sich also eher um einen Bottom-up-Filter, im Unterschied zum klassischen Top-Down-Filter (Benkler 2006). Und natürlich sind „Old“ und „New Media“ nicht unabhängig voneinander, werden häufig Inhalte traditioneller Medien geteilt und kommentiert bzw. schaffen es Netzphänomene letztlich auch in traditionelle Medien.

Quelle: eigene Darstellung Management von Offenheit: Praktizierte vs. intendierte Offenheit

Charakteristisch für die Offenheit des Internets und Plattformen wie Facebook und YouTube ist aber, dass diese Offenheit zwar praktiziert und wesentlicher Bestandteil, aber nicht notwendigerweise als Offenheit auch intendiert ist. Es geht also nicht in erster Linie darum, Offenheit herzustellen, obwohl natürlich die Folgen von größerer Offenheit bewältigt, gemanagt werden wollen. Das ist anders in jenen Fällen, denen ich mich jetzt im Besonderen widmen möchte. Denn der Ambivalenz digitaler Offenheit zum trotz stellt sie dennoch auch ein Ideal dar. Und zahlreiche Ansätze zur Organisation von Digitalität tragen deshalb auch Offenheit oder Openness im Namen. Man könnte also sagen, das sind jene Ansätze, die eine mit Digitalität notwendig verbundene, gesteigerte Offenheit nicht scheuen, sondern umarmen und organisieren wollen.

Bereits kurz nach Perry Barlows Unabhängigkeitserklärung hat seit 1997 „Open Source“ den Begriff „Free Software“ bzw. Freie Software weitgehend abgelöst und sicher zur Akzeptanz des Konzepts auch in Unternehmen beigetragen, weil man jetzt nicht explizit betonen und erklären musste, dass es nicht um „Frei“ im Sinne von „Freibier“ geht. Stattdessen stand auch in der Bezeichnung schon der offene Zugang zum Software-Quellcode im Vordergrund.

Kurz darauf hat sich auch in der Wissenschaft die Bezeichnung „Open Access“ für jene Bewegung durchgesetzt, die darauf pocht, öffentlich finanzierte Forschung auch frei öffentlich zugänglich zu machen. Und ganz im Sinn der Einheit von Forschung und Lehre wurde wenig später unter dem Label der „Open Educational Resources“, für Lehr- und Lernunterlagen Offenheit nicht nur gefordert, sondern auch praktiziert. Im Idealfall erleichtert das Lehrenden nicht nur die Arbeit, sondern macht auch Schul- und Universitätsunterricht besser.

2003 schließlich sorgte Henry Chesbrough mit seinem Bestseller zu „Open Innovation“ dafür, dass das bis dahin stark universitär geprägte Offenheits-Ideal auch Eingang in den betriebswirtschaftlichen Diskurs fand. Sein Kerngedanke war jener, dass Unternehmen um innovativ sein zu können, immer auch auf externes Wissen zurückgreifen müssen. Das war schon immer so. Das Neue bei „Open Innovation“ ist, diese Offenheit nicht nur hinzunehmen, sondern aktiv zu suchen, zu managen, zu organisieren, und sich dabei bisweilen digitaler Werkzeuge wie Crowdsourcing zu bedienen.

Quasi als Synthese von Open Access und Open Innovation entstand dann Open Data, die Forderung öffentlich finanzierte Datenbestände offen lizenziert zugänglich zu machen und auf diese Weise mehr Menschen, Organisationen und Unternehmen die Möglichkeit zu geben, mit diesen Daten innovativ zu sein. Einen Schritt weiter gehen dann noch Ansätze von Open Government, die Transparenz und BürgerInnenbeteiligung als zentrale Aufgabe digitalen Regierungs- und Verwaltungshandeln begreifen.

Als letztes Beispiel für diesen Trend, um nicht zu sagen „Hype“ um Offenheit als digitale Organisationsmaxime möchte ich noch „Open Strategy“ erwähnen, das Offenheit auch für strategisches Management einfordert. Ähnlich wie bei Open Innovation sollen auch bei Open Strategy mehr Informationen über strategische Überlegungen geteilt und mehr Menschen in Strategiefindung einbezogen werden, um für bessere Strategien und deren effektivere Implementierung zu sorgen.

Hype um Offenheit als Organisationsmaxime der Digitalität

Was erklärt aber diesen Hype rund um Offenheit als Organisationsmaxime für den Umgang mit Digitalität? Denn alle hier angeführten Open-Phänomene sind maßgeblich beeinflusst von neuen digitalen Möglichkeiten. Diese Frage stellt sich gerade auch angesichts dessen, dass Offenheit in digitalen Kontexten keineswegs nur positive Folgen zeitigt, wie wir Eingangs gesehen haben. Ich möchte zwei sich durchaus ergänzende Erklärungen dafür anbieten:

1.) Der (unwahrscheinliche) Erfolg von „Open Source Software“: Die erste Erklärung ist der (unwahrscheinliche) Erfolg von Open Source Software. Unwahrscheinlich deshalb, weil er eine zumindest teilweise De-Kommodifizierung in Märkten mit bereits etablierter Warenlogik bedeutet hat. Mehr noch: Open Source entstand und setzte sich durch gerade in einer Zeit, in der Bill Gates dank des Verkaufs von Windows- und Office-Lizenzen zum reichsten Menschen der Welt geworden war.

Und in dieser Phase einer verschärften Ausbreitung von Markt- und Wettbewerbslogiken in diverse Teilbereiche der Gesellschaft, wurde mit Open-Source-Software und später auch der Wikipedia eine digitale Allmende- bzw. Gemeingut-Logik etabliert. Es gibt keinen unmittelbar-reziproken Austausch von Gegenleistungen zwischen jenen, die von Open-Source-Software oder freiem Wissen in der Wikipedia profitieren und jenen, die zu dem digitalen Gemeingut in Form von offen lizenziertem Softwarequellcode bzw. Wissen beitragen.

Angesichts dieses Phänomens ist es nicht verwunderlich, dass dieses Phänomen auch als neue Form des Wirtschaftens, als Wikinomics bei Tapscott und Williams (2008) oder Allmende-basierte Peer-Produktion bei Benkler (2006) beschrieben wurde: als neue Produktionsweise jenseits von Markt und Hierarchie, die erst mit digitalen Technologien praktikabel geworden ist.

2.) Die Offenheit von „Open“: Der zweite Grund für die Attraktivität des Offenheitsideals ist aber wohl auch die Offenheit bzw. Unbestimmtheit des Begriffs „Open“. Das lässt sich gut an Hand des Beispiels von Open Strategy illustrieren. In einem der ersten wissenschaftliche Aufsätze, der sich mit Open Strategy auseinandersetzt, definieren Richard Whittington und Kolleginnen (2011) Open Strategy als offene Formen der Strategiefindung mit mehr Transparenz nach innen und Außen sowie mehr Inklusion von internen und externen AkteurInnen.

Das bedeutet also, dass sich Unternehmen das Label „Open Strategy“ auf die Fahnen heften können, wenn sie verstärkt über ihre Strategien informieren, wenn Sie MitarbeiterInnen oder KundInnen über Umfragen in Strategiefindung einbeziehen, wenn sie mit ihnen in einen echten Dialog treten oder sie sogar in Entscheidungsprozesse miteinbeziehen. Das ist eine enorme Bandbreite und es bleibt den Organisationen überlassen, wie sie den Begriff „Open“ letztlich füllen.

Diese Offenheit des Open-Begriffs war dann auch der Fokus jener Frage, die ich in einer Schwerpunktausgabe des Harvard-Business-Managers als zentrale Führungs- und Managementaufgabe im Zeitalter digitaler Transformation beisteuern durfte. Die Frage lautet: „Wie offen wollen Sie sein? Vor allem aber: wie wollen Sie offen sein?“

Beide Fragen zusammen greifen auf, dass mit Digitalisierung immer ein größeres Maß an Offenheit verbunden ist, ein gewisser Kontrollverlust. Aus Managementsicht stellt sich dann aber die Frage, wie ich diese Offenheit organisieren möchte. Und das bringt mich zurück zum Beispiel der Wikipedia und deren Inklusionsversprechen, dass jede und jeder mitmachen kann und so Wikipedia zu einer vermeintlich grenzenlosen Organisation macht.

Wikipedia als grenzenlose Organisation?

Und um genauer untersuchen zu können, wie Wikipedia diese Offenheit organisiert, lassen Sie mich zuerst einmal genauer spezifizieren, wie sich Wikipedia als Organisation fassen lässt. Denn eigentlich geht es bei Wikipedia ja um mindestens zwei organisationale Formationen: eine formale Trägerorganisation und eine organisierte Informalität, die Gemeinschaft oder Community der freiwilligen AutorInnen. Denn ursprünglich ist die Wikipedia im Umfeld eines kleinen US-Start-ups mit Namen Bomis.com entstanden. Das Hauptprodukt von Bomis war eine anzeigenfinanzierte Suchmaschine mit einer männlichen Zielgruppe, die auf erotische Inhalte spezialisiert war. Dieser Umstand hat nun in den Anfängen der Wikipedia unter den Beitragenden die Befürchtung gefördert, Bomis könnte versuchen, auch auf der Wikipedia Anzeigen zu schalten, weshalb beispielsweise ein großer Teil der spanischen Wikipedia-Gemeinschaft eine Abspaltung unter dem Namen „Enciclopedía Libre Universal en Español“ startete. Und die Bedrohung für die Wikipedia war durchaus real, zum Zeitpunkt der Abspaltung wuchs die spanische Wikipedia langsamer als die Enciclopedía Libre. Um weitere Abspaltungen zu vermeiden und das Vertrauen der Community wiederzugewinnen, wurde deshalb 2004 die gemeinnützige Wikimedia Foundation gegründet.

Gleichzeitig hat man aber an einer strikten Arbeitsteilung zwischen Organisation und Community festgehalten. Wikimedia kümmert sich um Markenrechte, Serverinfrastruktur und Softwarentwicklung, die Community um Erstellung und Löschung von Inhalten. Das hat den Vorteil, dass Wikimedia bei Streitigkeiten immer auf die Community verweisen kann. Community bedeutet aber keineswegs, dass alle in der Community völlig gleich sind.

Ganz im Gegenteil, in der Wikipedia gibt es ein ausgeklügeltes und in der Wiki-Software implementiertes System abgestufter Berechtigungen, das von nicht angemeldeten BenutzerInnen bis zum „Oversighter“ reicht. Die Offenheit der Wikipedia besteht aber nun darin, dass selbst ein nicht angemeldeter Benutzer oder eine nicht-angemeldete Benutzerin Änderungen vornehmen, ja sogar neue Artikel anlegen darf. Das heißt, diese „nicht angemeldete BenutzerInnen“, das sind diese „anyone“, die Wikipedia editieren dürfen.

Jedoch wird schon auf den zweiten Blick deutlich, dass die technische Beitragsmöglichkeit längst nicht mit der Wahrnehmung dieser Möglichkeit einhergeht. So gibt es unter den freiwilligen Autorinnen und Autoren einen enormen Männerüberhang, Schätzungen bewegen sich zwischen 10 und 16 Prozent weiblicher Autoren. Hinzu kommt, dass auch Wikipedia – so wie ihre historischen Vorläufer-Enzyklopädien – vom westlichen Blickwinkel aus verfasst ist. In der Wikipedia selbst steht zum Thema „Systematic Bias“, also struktureller Schlagseite, dass der durchschnittliche Wikipedianer männlich, technisch versiert, formal ausgebildet, zwischen 15 und 49 Jahre alt, aus einem mehrheitlich christlichen Industrieland der nördlichen Hemisphäre stammt und einer Angestelltentätigkeit nachgeht. Das ist weit weg vom durchschnittlichen Erdenbürger bzw. der durchschnittlichen Erdenbürgerin. Bleibt die Frage, ob das bloß ein Anfangsphänomen ist, begründet in den Ursprüngen der Wikipedia in der Open-Source-Szene – löst sich das Problem also vielleicht von selbst?

Leider ist auch das sehr unwahrscheinlich, denn bereits seit Jahren schrumpft die Zahl der regelmäßig Beitragenden. Seit 2007 geht deren Zahl kontinuierlich zurück.

Fehlende Vielfalt trotz oder wegen radikaler Offenheit?

Was sind also die Erklärungen für die fehlende Vielfalt trotz radikaler Offenheit? Oder ist es vielleicht sogar so, dass die Vielfalt genau wegen dieser radikalen Offenheit fehlt? Nun gibt es eine ganze Reihe an Erklärungsansätzen für den Autorinnen- und Autorenschwund in der Wikipedia, auf die ich hier nicht alle eingehen kann. Lassen Sie mich im folgenden deshalb exemplarisch vier Ursachen fokussieren, die es mir erlauben, die Rolle von Offenheit in diesem Zusammenhang zu diskutieren.

Denn eine Folge radikaler Offenheit ist natürlich, gesellschaftliche Spaltungen und Ungleichheiten eins-zu-eins in die Organisation zu importieren. Schlechterer Zugang zum Internet in ärmeren Ländern wirkt sich so eins-zu-eins in Form von weniger AutorInnen aus diesen Regionen aus. Mit Wikipedia Zero versucht die Wikimedia Foundation hier gegenzusteuern und in Kooperation mit Netzbetreibern den Zugang zu Wikipedia auch bei verbrauchtem Datenvolumen weiterhin zu ermöglichen. Ein Ansatz, der allerdings auch wieder umstritten ist, weil er mit einer Verletzung von Netzneutralität einhergeht.

Das gleiche gilt natürlich für ungleiche Geschlechterverhältnisse, die so auch einfach importiert werden: solange Frauen immer noch den größeren Teil unbezahlter Arbeit erledigen, hätten Sie demnach weniger Zeit, an einer Enzyklopädie mitzuschreiben. Hinzu kommen Themen wie die Usability der Wikipedia, die lange Kenntnisse der Wiki-Syntax voraussetzte, um beitragen zu können, und so eher technisch versierte AutorInnen anzog. Schließlich geht die radikale Offenheit der Wikipedia auch mit einer Offenheit für exkludierende Kommunikation einher. Oder, wie es Valerie Aurora an Hand des Beispiels von Open-Source-Gemeinschaften auf den Punkt gebracht hat:

„Wenn Deine Gruppe aus neun hilfreichen und höflichen Mitgliedern und einem unhöflichen, sexistischen und lauten Mitglied besteht, dann werden die meisten Frauen wegen dieses einen Mitglieds fernbleiben.“ (meine Übersetzung)

Wenn man jetzt versucht, die Gründe für Exklusion in Wikipedia systematisch zu ordnen, dann gibt es einige Gründe, die eher gesamtgesellschaftliche Strukturen widerspiegeln, und es gibt Gründe, die stärker Wikipedia-spezifisch sind. Und wie man sieht, kann sowohl Offenheit als auch Geschlossenheit zu Exklusion führen. Hohe Hürden in Sachen Usability oder fehlender Internetzugang sind technische Einschränkungen der proklamierten Offenheit. Die Offenheit für exkludierende Kommunikation einer destruktiven Minderheit von AutorInnen wiederum hat ebenfalls exkludierende Folgen für betroffene Gruppen.

Systematisierung ausgewählter Gründe für Exklusion in Wikipedia

Wenn man sich jetzt ansieht, wie Wikimedia, die Organisation hinter Wikipedia in den letzten Jahren versucht hat, den AutorInnenschwund zu bekämpfen, dann waren das vor allem Strategien, noch verhandene Geschlossenheit zu verringern. Neben dem bereits erwähnten Wikipedia Zero wurde unter anderem ein Visual Editor entwickelt, um ein Beitragen auch ohne Kenntnis der Wiki-Syntax leichter möglich zu machen.

Es wurde also vor allem an technologischen Lösungen für technologisch gefasste Probleme gearbeitet, um die Offenheit der Wikipedia noch weiter zu erhöhen. Umgekehrt wurden jene Probleme eher weniger adressiert, die sich auf ein Zuviel an Offenheit zurückführen lassen. Denn das würde erfordern, dass Wikipedia und Wikimedia sich von dem Gedanken verabschieden müssten, dass mehr Offenheit immer gut ist und sie die Art und Weise ändern müssten, wie sie derzeit Offenheit organisieren.

Vor allem müsste man an der Arbeitsteilung zwischen Foundation und Community rütteln und die strikte Abgrenzung zwischen Wikimedia Foundation und Wikipedia-Community etwas aufweichen, nicht zuletzt um die Durchlässigkeit der Community für destruktive Mitglieder einzuschränken und paradoxerweise dadurch letztlich inklusiver zu werden. Es geht also um eine Einschränkung von Offenheit zum Zwecke der Offenheit.

Konkret würde das bedeuten, dass irgendwo in der Wikipedia-Hierarchie aus ehrenamtlichen Adminstratorinnen und Adminstratoren vielleicht doch hauptamtliche Community-ManagerInnen ergänzt werden sollten. Das Geld dafür wäre da, die Wikimedia Foundation sitzt auf Barreserven von über 100 Millionen Dollar. Allein, es wäre ein Tabubruch, man müsste sich eingestehen, dass das „anyone“ im Offenheitsversprechen mit einem Sternchen versehen werden sollte.

Fazit

Das bringt mich zu meinem Fazit: Das Management von Offenheit ist zentral für Segen wie Fluch digitaler Transformation und Organisation, kurz: für die Organisation von Digitalität. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass sich informale Grenzen bisweilen als unüberwindlicher erweisen können und eine Organisation weniger offen machen, als es ihre formalen Grenzen vermuten lassen würden. Letztlich ist es gerade für inklusive Formen von digitaler Offenheit notwendig, organisationale Grenzen zu ziehen.

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 February 1, 2017  n/a