Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0601: Der König von Araukanien


So langsam bezweifele ich, dass das mit der Weltherrschaft noch klappt in diesem Leben. Vielleicht sollte ich kleinere Brötchen backen. So ein Königstitel, das wäre ja auch schon ‘was. Dachte sich auch Orelie-Antoine de Tounens, fuhr nach Chile und wurde König.

Download der Episode hier.
Closer: „Clip “Ich bin der König der Welt!” – TITANIC von FoxKino
Musik: „Himno a Orelie-Antoine de Tounens“ von Daniel Morrison

Im Perigord, einem Landstrich in Frankreich, da leben nur dumme Bauern. Der Inzest hat sie alle doof gemacht und gäbe es keine Trüffel, könnte man die gesamte Region auch einfach platt machen. Nirgendwo könnte das Leben langweiliger sein als im Perigord. So denken auf jeden Fall viele Franzosen.

Im Perigord liegt auch das Dorf Échaugnac. Das hat ganze 418 Einwohner und ist bekannt für… Nein, das kann man so nicht sagen. Es gibt da eine Käsespezialität. Ein Trappistenkäse, der beim Reifen mit Walnußöl massiert wird.

Hier wird im Jahre 1825 der kleine Orelie-Antoine geboren. In einem kleinen Weiler namens La Chéze. Bei Échaugnac, das bei Tourtoirac ist, das wiederum bei Perigueaux ist, das ist nur einen Katzensprung von Brive-la-Gaillarde, von wo man zu Fuß bequem Clermont-Ferrand erreichen kann. Höchstens 10 Tage straffer Marsch.

Seine Eltern waren – siehe oben – einfache Bauern und der kleine, verträumte Orelie hatte noch sieben Geschwister über sich und eine Schwester war bereits unterwegs. Statt die Landluft zu genießen, nach Trüffeln zu suchen oder Käse zu massieren, schmökerte er lieber in Büchern.

Bücher über die Geschichte, über fremde Gegenden, über mutige Erfinder und über die Abenteuer der großen Entdecker. Die kleine Leseratte, die muss studieren, dachten sich seine Eltern, denn für das Erbe des Hofs gab es ja schon einen Anwärter. Mit mehrfachem Backup noch obendrein.

Und so wird Orelie-Antoine de Tounens halt Rechtsanwalt. Drei Jahre lang arbeitet er nach dem Studium in einer Kanzlei und macht sich dann in Perigueaux selbstständig. Aber, obwohl sein Geschäft ganz gut läuft, plant er andere Dinge mit seinem Leben anzufangen, als zu vermitteln, ob die Eiche bei Piris auf dem Grundstück steht oder doch bei Deschamps.

Warum gibt es eigentlich keinen Fährverkehr zwischen Frankreich und der Neuen Welt? Das sollte man einfach mal machen, da gäbe es richtig ‘was zu erleben! Und warum hat es hier im Perigord nicht eine einzige Zeitung, die vernünftig ist? Ich sollte das in die Hand nehmen. Wie? Das ist Träumerei? Das ist unvernünftig? Lächerlich? Pah! Ich kann alles erreichen, was ich will! Ich werde König, ihr werdet sehen!

32 Jahre ist Orelie alt, als er seine Kanzlei wieder verscherbelt, sich weitere 25.000 Francs von seiner Familie leiht und aufbricht nach Südamerika. Wenn es irgendwo noch etwas zu entdecken gibt, wenn noch irgendwo Abenteuer lauern, dann dort! Hoppla, jetzt komm’ ich!

Während also Orelie pfeifend seine Reisekoffer packt, verlassen wir den Westen Europas und machen einen Schwenk in den Westen Südamerikas. Nach Chile. In den Westen von Chile. Wie wir wissen, ist ja ganz Südamerika von den Spaniern erobert worden. Nur ein kleines Dorf leistete den Eroberern erbitterten Widerstand. Die Mapuche sind die einzige ethnische Gruppe in Amerika, die nie vom weißen Mann bezwungen wurde. Und die leben in einer Gegend, die man damals Araukanien nannte.

Im Gegensatz zu vielen anderen indigenen Bevölkerungen waren die Mapuche-Kaziken wief genug, sich die Militärtaktiken der Spanier zu eigen zu machen. Sie klauten Pferde und Musketen und hielten ihren Staat gegen die Europäer. Man hatte Erfahrung, denn auch von den Inkas hatte man sich nicht den Schneid abkaufen lassen.

Die Spanier verloren bald die Geduld mit den „Menschen der Erde“ – so die Wortbedeutung von Mapuche – und gaben 1641 genervt auf. Die Mapuche-Nation hatte ihren eigenen Staat. Sie waren souverän. Ein in der Geschichte Amerikas einzigartiger Vorgang.

Während sich der Staat Chile von den Spaniern befreien will, beginnt zeitgleich ein weiterer Versuch, das Gebiet der Indianer hinter dem Bio-Bio-Fluss zu erobern. Und der weise, greise Kazike, der die Mapuche in diesem Kampf leitet, hieß – während Orelie gerade seine Koffer packt – Manil.

1860 bekommt Manil dann einen Brief. Von Orelie-Antoine, der mittlerweile nicht nur in Chile angekommen war und Spanisch gelernt, sondern auch von dem Freiheitskampf der Mapuche gehört hatte. Der Romantiker war natürlich auf Seiten der Unterdrückten, gegen die chilenischen Nachfahren der spanischen Eroberer. Auch wenn die wiederum ihren eigenen Freiheitskampf gegen die Spanier führten.

1860 gelingt es den Mapuche, einen Waffenstillstand mit der chilenischen Armee zu erreichen und ihre Unabhängigkeit zu wahren. Wieder einmal.

1860 ist es auch, als Manil Orelie schließlich erlaubt, die Mapuche zu besuchen. Ein Besucher aus Europa, der sich für die Indianer stark macht – was kann es schon schaden? Bei der Ankunft des französischen Bauernsohns ist Manil selber aber leider schon verstorben.

Darum spricht er vor dem Rat der Kaziken ganz alleine. Der erste Weiße, den die kleineren Mapuche je gesehen haben. Schneid hat er schon, der kleine Franzose aus dem Kuhdorf. Und außer Schneid hat er wohl auch eine gehörige Portion an Charisma. Er, der Anwalt aus Europa, er könne die Interessen der Ureinwohner am besten vertreten. In Chile. Und Frankreich würde der Sache sicher auch helfen.

Am 20. November 1860 wird Orelie-Antoine de Tounens der erste König des neu gegründeten Königreichs von Auraukanien. Und von Patagonien, die Nachbarn hatten sich gleich mit angeschlossen. Er ist 35 Jahre alt und er hatte recht behalten. Er war König. Gut, dass er die Verfassung, die Nationalhymne und die Flagge schon vorbereitet hatte. Blau, weiß, grün.

Zwei Jahre lang, das könnte man schon so behaupten, gab es dieses kleine Königreich auch wirklich. Die Chilenen waren zu sehr mit den Spaniern beschäftigt, um sich um diese abgelegene Region ihres neu zu gründenden Staats zu kümmern.

1862 aber ergreifen sie Orelie, erklären ihn für geisteskrank und schieben ihn ab nach Europa, ist ja ein sicheres Herkunftsland. Zurück in Paris hält er Hof und lässt sich Majestät nennen. Seine Minister verfassen Dekrete und Beschlüsse. Sie heißen Lachaise and Desfontaines. Und entstammen natürlich nur seiner Fantasie, nicht umsonst heißen sie genau wie sein Heimatdorf und wie das daneben.

Doch der Kaiser interessiert sich nicht die Bohne für den kleinen Landstrich in Südamerika. Er erkennt das Königreich nicht an. Zwar war Napoleon III angetreten, um Frankreich wieder great zu machen, nachdem man nach Napoleon I. international nicht mehr groß von Bedeutung war. Aber er unterstützte lieber den Freiheitskampf der Mexikaner und ignorierte den self-made-König aus diesem Bauernkaff. Das Perigord, ausgerechnet.

Bald ging unserem König aber das Geld aus. Trotzdem wird er noch dreimal in seinem Leben eine Reise in sein Königreich unternehmen, aber immer schneller auch wieder nach Frankreich zurück expediert werden.

Er kommt schließlich bei einem Cousin unter und verbringt seine letzten Tage über dessen Metzgerei in Tourtoirac in seiner Heimat. Er arbeitet als Laternenanzünder. 1878 stirbt er entkräftet an einer Lungenentzündung. Seinen Königsthron hatte er einem Kumpel aus Kindertagen verkauft. An Gustafson-Acille Laviarde, der damit zu König Acille I. wurde.

Seit 2014 ist der Sozialarbeiter Jean-Michel Parasiliti di Para der neue König, der sich den Namen Antoine IV. Selbst verliehen hat. Die französische Regierung erkennt den Titel mittlerweile an, aber ohne jegliche diplomatische Folgen. Mehr eine bourgeoise Kuriosität, wenn man so will. Die Chilenen und besonders die Mapuche ignorieren aber alle dieser neuen Könige.

Ihr einziger König, für zwei Jahre, das war unser Träumer aus dem langweiligen Perigord. Der König ohne Gewalt, ohne Unterdrückung undm leider ohne finanzielle oder sonstige Ressourcen. Unser König Orelie-Antoine I. von Araukanien und Patagonien. König der Träumer. Träumer der Könige. Er lebe hoch!


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 February 15, 2017  14m