Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

Der Mensch hat die Sprache beim Geschichtenerzählen erfunden. Geschichten erklären die Welt. Sie können uns Mut oder Angst, Freude oder Trauer fühlen lassen, uns Wissen oder Weisheit vermitteln. Eine Geschichte ist kein Werk, sondern ein Akt. Wir denken, schreiben, sprechen und Du hörst uns zu – so kommt sie erst in die Welt. Wir haben über 75 Stunden im Archiv, professionell produziert und kostenlos zu hören. Viele Geschichten sind phantastisch, die meisten regen zum Nachdenken an, einige sind Erlebniserzählungen und hin und wieder sind sie auch komisch. Alle Geschichten sind exklusiv für unseren Podcast geschrieben, gesprochen, aufgenommen, geschnitten und abgemischt. Wir machen keine Werbung, haben keinen Sponsor und es gibt weder Paywall noch Abonnement. Um unabhängig zu bleiben und unsere Arbeit zu finanzieren, suchen wir allerdings nach Unterstützer*innen und haben uns für ‚Steady‘ aus Berlin entschieden. Wer uns monatlich ein paar Euro widmet, kann uns im Blog oder im eigenen Feed zuhören, wie wir uns nach der Aufnahme einer Geschichte über die Hintergründe, Gedanken und Ideen dazu unterhalten. (Gut. Das ist zu hochgestochen und klingt langweiliger, als es ist...

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Expl0605: Gottlieb Wendehals


Ich bin Zeitzeuge! Ich habe die „Hitparade“ 1981 live am Fernseher erlebt, als Werner Böhm seine Kunstfigur „Gottlieb Wendehals“ und die unsägliche „Polonäse Blankenese“ vorgestellt hat. Wie konnte dieses Lied zur alldeutschen Fastnachts-Hymne werden?

Download der Epsiode hier.
Opener: „Gottlieb Wendehals “Polonäse Blankenese” von Schnuffi002
Closer: „Gerhard Polt: Stimmungslied“ von Brezensalzer
Musik: „Carnevale“ von Noble / CC BY-SA 3.0

Als Münchner ist mir ja das Karnevallige eher fremd. Bei uns ist an Fasching nicht wirklich vieles anders als gewohnt. Ist ja auch kein Wunder in einem Bundesland, dessen Ministerpräsident Seehofer heißt – bei uns in Bayern regieren halt immer die Narren.

Es gibt da den Tanz der Marktweiber am Viktualienmarkt, der ist ja ganz nett. Aber das war’s auch schon. Klar, wir haben, wie es sich gehört, auch einen Karnevalsprinzen und eine Prinzessin dazu, aber… die sind ungefähr so populär wie… der Explikator. Kurz: Kennt keine Sau…

In Bobingen, so dachte ich, da müsste das anders sein. Issja Bayerisch Schwaben. Da gibt es so allemannische Einflüsse. Dachte ich. Da is’ Fasnet! Garneval! Dachte ich. Tscha – Pustekuchen. Ich bin vor dem Edeka einem vierjährigen Mädchen und ihrer Mutter begegnet.

„Oh, Du bist eine Prinzessin!“ bewunderte ich die wirklich billig-poplige Verkleidung. Meinte die Pimpfin: „Nattürlich! Wie alle in meinem Kindergarten halt!“

Erlebnis eins. Erlebnis zwei: Die Verkäuferinnen bei der Bäckerei Wolf. Die tragen auch Verkleidung. „Ach, und als was sind sie verkleidet?“ fragt der neugierige Explikator. „Ich bin ein Zombie, sieht man am T-Shirt“. Ja, in Bobingen reicht ein Walking-Dead-T-Shirt als Verkleidung.

Das waren beide Erlebnissse. Weil aber Stimmungsmusik im Hintergrund lief, habe ich für morgen doch kein Brot gekauft. Geht schon noch einmal einen Tag mit Mehl und Wasser. Prise Salz. Denn da lief die „Polonäse Blankenese“. Der deutsche Faschingshit. Schlechthin. Punkt. Basta.
Ja, Bläckföös, ganz ruhig. Ich rede von Deutschland und nicht von Köln.

Ein Mann in einem karierten Jackett, zu kurzen Hosen, einem falschen Bart und einer Aktentasche, in der ein Gummihuhn ist. Das ist lustig, das ist unser guter, alter, deutsche Humor. Gottlieb Wendehals, der Zombie des germanischen Brachialhumors.

Eines deutschen Humors, in dem Standups immer noch Ausbilder Schmitt, Cindy aus Marzahn oder Mario Barth heißen. Ja, Mario Barth ist mittlerweile eine eigene Kategorie des schlechten Humors. Wir Deutschen, wir brauchen schon eindeutige Zeichen dafür, dass gleich etwas Witziges kommt. Es muss schon eine Verkleidung sein. Aber bitte!

Moment, Herr Werner Böhm, ich sehe das karierte Jackett! Lassen Sie mich bitte erst einmal drei oder vier Bier vortrinken… So, jetzt geht es schon lustiger, vielen Dank für die Geduld. Also, bitte: „Wir ziehen los mit ganz großen Schritten und Erwin faßt der Heidi von hinten an die… Schulter.“

Na, das ist doch einmal wirklich witzig. Das ist doch ein Brüller! Kein Wunder, dass das seit 1981 Bestand hat und Herrn Werner Böhm immer noch ernährt.

Diesen fabelhaften Jazzmusiker, der nach Alkoholismus und Dschungelcamp auch alle Versuche aufgegeben hat, irgend etwas anderes zu sein als der blöde, tumbe, doofe Krachhumorist Gottlieb Wendehals. Der mittlerweile 75-Jährige schreibt auf seiner Website:

„Der Erfolg kam erst, als aus dem Werner Böhm der “GOTTLIEB WENDEHALS” wurde. Auf einem elektronischen Rhythmusgerät knatterte er den “Herbert” in die ZDF-Hitparade. Der Schlager wurde über 550.000 mal verkauft und wurde damit zum Hit.

Die Idee von der Polonäse Blankense kam, weil die Leute etwas brauchten, wenn sie lustig sind und ein klein wenig getrunken haben. Werner Böhm komponierte die Musik. Zusammen mit Michael Jud wurde der Text geschrieben. Der Durchbruch geschah dann in der ZDF-Hitparade von Dieter Thomas Heck im Jahre 1981.

Spontan sprangen die Zuschauer von den Sitzen auf, sangen und marschierten, machten mit – bei der Polonäse Blankenese. Noch nie zuvor hatte in dieser eher konservativen TV-Schlagersendung ein Interpret mit einem Stimmungsknüller das Berliner Studio so durcheinander und auf Fahrt gebracht.

Gottlieb Wendehals verbreitete Karnevals-Atmosphäre, obwohl die hohe Zeit des närrischen Treibens noch nicht begonnen hatte. Ohne Zweifel, .. dieser Stimmungsknüller brachte deutsches Gemüt auf Touren. Millionen von Menschen sangen und schnunkelten mit.

Kein Wunder, das Gottlieb Wendehals in Rekordzeit über 1 Million Platten verkaufte und mit der begehrten “Golden Schallplatte” ausgezeichnet worden ist. Mehrere Auszeichnungen folgten. Im Mai 1982 tanzten über 250.000 Menschen die Polonäse um die Hamburger Binnenalster. Somit die längste Polonäse der Welt niedergeschrieben im Guinness Buch der Rekorde.

Aber auch weitere Hits folgten und seither ist GOTTLIEB WENDEHALS in deutschen Landen und auch anderswo als Stimmungsgarant unterwegs.“

Tja. Kein guter Text. Trotz Kürzungen und Korrekturen. Kein wirklich guter Text. Und halt auch nicht wahr. Weitere Hits folgten halt nicht. Nicht einer. Das ist die traurige Wahrheit.

Da ist ein begabter junger Jazzmusiker. Bekannt durch seine Dixielandband „Cabinet Jazzmen Band“, der so Leute angehörten wie Udo Lindenberg, Hans-Otto Mertens oder Teufelsgeiger Lonzo Westphal. Mit dem Werner-Böhm-Quintett steigt man um auf massentauglicheren Big-Band-Swing, aber das interessiert in den Siebzigern niemand wirklich.

1980 entsteht die Kunstfigur Gottlieb Wendehals. Ein Symbol für einen kreativen Menschen, der aufgibt. Der seine Kreativität benutzt um in Symbol zu schaffen für den maximal massentauglichen deutschen Humor.

Und der Plan geht auch auf. Darum spielt das Lied auch heute noch in der Bäckerei Wolf in Bobingen, wenn man ausnahmsweise ‘mal lustig sein will. Weil Gummihühner halt irgendwie maximal witzig sind, auch, wenn mir das niemand erklären kann.

Werner Böhms weitere Versuche bleiben unbeachtet. Und – unter uns – 84 Ahead, eine Mischung aus Earth, Wind and Fire und Modern Talking – reden wir einfach nicht darüber…

Und reden wir auch nicht, wie Herr Böhm bei Big Brother 2005 öffentlich einen Rückfall in den Alkoholismus hatte. Weil Gottlieb Wendehals sicher auch ein Fluch ist.

O.k. Es ist Aschermittwoch und der Spuk ist vorbei. Die meisten Deutschen werden sich jetzt für den Rest des Jahres nicht mehr anstrengen, witzig zu sein. Und das ist gut so…

Wegen Gummihühnern und Erna und kariertem Elend und wegen Werner Böhm. Danke, Werner Böhm, dass Du das deutlichste, eindeutigste und wirklich abschreckendste Symbol für den deutschen Humor schlechthin geschaffen hast. Gottlieb Wendehals, der Faschingsprinz seit 1981. Unangefochten.

Ich muss mich schnell ‘mal übergeben, ihr kennt ja meinen Text am Ende auswendig, oder?


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 March 1, 2017  14m