Anders & Wunderlich: Der Geschichten-Podcast

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Expl0608: Mittelpunkte


Wenn man in Niederorla lebt, in der Gemeinde Vogtei, Unstrut-Hainich-Kreis in Thüringen, freut man sich dann eigentlich, dass man genau in der Mitte Deutschlands lebt? Oder stimmt das gar nicht? Und wie ist das bei unseren europäischen Nachbarn?

Bilddatei: Von Denis Apel, CC BY-SA 3.0 de, Link
Download der Episode hier.
Opener: „”I’m at a Center” A Pokémon Parody of Payphone von NateWantsToBattle
Musik: „„Skibidubap“ von Potta la Motta / CC BY-SA 3.0

Es ist jetzt vielleicht an die sechs Jahre her, dass die Behauptung, Mekka sei der Mittelpunkt der Erde auf YouTube-Videos richtig populär wurde. Das klingt für jeden mit sachlichem Menschenverstand erst einmal blöd, hat aber natürlich bei manchen Muslimen für beträchtliches Interesse gesorgt.

In hochkomplexen Videos wird mit aufwendigen Animationen, professionellen Sprechern und mathematischen Taschenspielertricks erklärt, warum das genau so ist. Das vertiefen wir aber nicht, weil es natürlich immer, immer Humbug ist und bleibt einen „Mittelpunkt“ auf der Oberfläche einer Kugel zu ermitteln.

Ein Video z.B. benutzt zur Erklärung Längen- und Breitengrade und teilt die rätselhaft im Goldenen Schnitt. Genau genommen ist Mekka dann also der rechte, nördliche Goldene Mittelpunkt, unnötig zu erwähnen, dass es dann logischerweise noch drei andere gibt…

Ein anderes Video verwendet einfach eine Weltkarte und teilt diese dann mit zwei großzügigen Schnitten. Welche Projektion da genau verwendet wurde, lässt sich nicht sagen. Überhaupt interessant, dass beide Quellen bereitwillig den britischen Nullmeridian akzeptieren, der eigentlich völlig willkürlich durch Greenwich läuft.

Anders ist Ganze aber natürlich bei Ländern. Den Mittelpunkt eines beliebigen Landes, der müsste sich doch ermitteln lassen, oder? Und tatsächlich verfügt praktisch jedes europäische Land über einen eigenen offiziellen Mittelpunkt, bis auf zwei Ausnahmen…

Der Mittelpunkt von Österreich z.B. liegt urkundlich belegt bei Bad Aussee in der Steiermark. Um das zu berechnen, hat man einfach zwei Diagonalen durch Österreich gezeichnet. Vom östlichsten Punkt zum westlichsten und vom nördlichsten zum südlichsten. Aus die Maus. Ende der Diskussion. Urkundlich belegt.

Auch in der Schweiz hat man da zu einer einvernehmlichen Lösung gefunden. Es ist die Älggi-Alp in der Gemeinde Sachseln im Kanton Obwalden. Das hat 1988 das Bundesamt für Landestopografie ausgemessen und so festgelegt. Die Schweizer verwenden hier ein anderes, komplizierteres Verfahren, nämlich den Flächenschwerpunkt.

Man könnte sagen, dass, wenn man die Landkarte der Schweiz als Laubsägearbeit ausführen würde, dann wäre genau die Äggli-Alp der Punkt, wo man mit einer Nadel das ganze Land ausbalancieren könnte. Wenn man das wollte.

Eines der beiden Länder mit gleich mehreren Mittelpunkten ist natürlich Deutschland. Hier gibt es gleich vier Gemeinden, die gerne der Nabel des Germanismus sein wollen.

Zeichnet man einfach Linien durch den sozusagen mittlersten Breiten- und Längengrad unseres Staatsgebiets, dann ist Niederorla, Gemeinde Vogtei, Unstrut-Hainich-Kreis in Thüringen der Mittelpunkt Deutschlands.

Zieht man jetzt aber stattdessen Linien vom nördlichsten zum südlichsten Punkt und vom östlichsten zum westlichsten, dann ist es die Ortschaft Besse bei Kassel in Hessen liegt.

Verwendet man wiederum das Schweizer Laubsägeverfahren, landet man erstaunlicherweise wieder bei einem Punkt in der Nähe von Niederorla, bloß einem ganz anderen.

Wenn man jetzt noch die Zwölfmeilenzone, Helgoland und die Exsklaven Deutschlands mit aussägen täten könnte und dann wieder alles ausbalancieren würden täte, landet man in Dingelstädt-Silberhausen im Landkreis Eichsfeld in Thüringen.

Gut. Kleine Pause. Tief durchatmen. Noch sind nicht genug Haare gespalten und noch nicht genug Korinthen gekackt! Denn: Wenn man ein 3D-Modell Deutschlands verwendet und auch alle Unebenheiten hinzuzieht und berechnet – ein Stück Alpen hat ja schließlich mehr Oberfläche als ein Stück Lüneburger Heide – dann ist der Mittelpunkt in der Gemeinde Krebeck im Landkreis Göttingen in Niedersachsen.

Gut, wir sind ein Volk von Rechthabern, so ein kompliziertes Ergebnis hätte man erwarten können. Zur unserer Verteidigung kann man aber anführen, dass das alles im Prinzip hier… keine Sau interessiert. Oder habt ihr jemals von irgendeinem der erwähnten Orte gehört?

Bei unseren Nachbarn in Italien hingegen, da hat diese Diskussion eine ganz andere Dimension angenommen. Hier streiten sich schon seit Jahrzehnten, vielleicht sogar Jahrhunderten traditionell mehrere Gemeinden um den Titel. Den Titel des „Nabel Italiens“.

Der Geologe Giuseppe Angeletti versuchte 2015 diesen Konflikt für immer zu lösen und bestimmte einen Punkt 120 Kilometer südostlich von Rom zum Mittelpunkt Italiens. Da ist nicht viel zu finden, außer ein großes antikes Aquädukt und ein kleiner Ort namens Narni.

Dort hat man diesen Titel gerne angenommen und gleich zahlreiche touristische Aktivitäten ersonnen. Wahrscheinlich, eigentlich sogar sicher gibt es schon jetzt nirgends auf der Welt so viele Bars, die Café Ill centro d’Italia heißen wie hier, in Narni.

Doch diese Berechnung blieb nicht unwidersprochen. Es gibt da noch zwei kleine Gemeinden in der Nähe, die den Titel ganz alleine für sich beanspruchen. Die heißen Foligno und Rieti. Deren Bürgermeister haben eine Kampagne begonnen, die in Italien la guerra per l’ombelico genannt wird. Der Nabelkrieg. Der Krieg um den Titel „Nabel Italiens“.

Da trifft es sich gut, dass man in Rieti eh’ schon einen echten Nabel aus Marmor hat. Schaut ein bisschen aus, wie ein riesiges Käserad, aber die lateinische, echt antike Inschrift „Nabel Italiens“ – Umbilicus Italiae – auf der Stadtmauer gibt dem ganzen Arrangement doch eine gewisse Autorität.

Foligno hat sich als Gegenstrategie entschieden, gleich noch eines draufzusetzen und sich gleich zum Mittelpunkt der Welt erklärt. Allerdings nicht mit fadenscheiniger Mathematik, sondern mit solider Historie.

Man bezieht sich dabei auf antike Karten. Noch aus der Zeit, als die Erde eben noch gar keine Kugel war. Und Schiffe jenseits der Säulen des Herkules, also hinter Gibraltar noch einfach ins Weltall zu fallen pflegten. Als Quelle dient hier hauptsächlich eine eben genau solcherart gestaltete Karte, die für jeden sichtbar in einer der Bars in Foligno hinter der Bar aufgehängt ist.

Ach ja. All’ die Rechthaberei, all’ der Nabelkrieg und wozu? Wo doch jeder weiß, was der „Mittelpunkt der Erde“ ist. Nämlich ein Album von „Element of Crime“. Mit so schönen Songs wie „Delmenhorst“ und „Straßenbahn des Todes“.

Wenn wir schon von schönen Liedern sprechen. Es gibt da eine Künstlerin, in deren Texte ich schon immer sehr verliebt war. Die heißt Judith Holofernes und veröffentlicht gleich sofort ihr neues Album „Ich bin das Chaos“. Die erste Single mit dem bauernschlau gewählten Namen „Ich bin das Chaos“ ist schon raus und klingt toll. Und das Video schaut toll aus.

Am 18. März spielt sie in München in der Muffathalle. Mit dem färöischen, englischsprachigen Liederschreiber Teitur. Wenn ihr da auch hingehen wollt, dann treffen wir uns da vielleicht! Das wäre doch nett!


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 March 7, 2017  11m